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Jochen Sautermeister (Hrsg.): Moralpsychologie

Rezensiert von Pfarrer Michael Lehmann-Pape, 06.10.2017

Cover Jochen Sautermeister (Hrsg.): Moralpsychologie ISBN 978-3-17-023684-4

Jochen Sautermeister (Hrsg.): Moralpsychologie. Transdisziplinäre Perspektiven. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2017. 438 Seiten. ISBN 978-3-17-023684-4. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 39,90 sFr.

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Thema

„Die zahlreichen gesellschaftlichen und ethischen Herausforderungen, wie sie uns gegenwärtig in den verschiedenen Handlungsfeldern von Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft und Technik entgegentreten, drängen zur ethischen Reflexion“. Einfacher gesagt: in einer Zeit, in der Veränderung zum Lebenszustand wird und nicht mehr nur für eine gewisse Zeit als Anpassungsprozess an „neue“ Lebensumstände im Raum steht, bedarf es, mehr denn je, einer sorgsam bedachten, ethisch verankerten und empirisch nachvollziehbaren, das heißt begründeten „Moral“, um die „Stellschrauben“ für das Individuum und die Gesellschaft zu markieren, anhand derer dann Veränderungsprozesse ihr Fundament und ihre Werte-Ausrichtung finden. „Normative Grundlagenfragen und Fragen der angewandten Ethik bedürfen jedoch der empirischen Sacheinsichten“. Im Hinblick auf spezifische Handlungsstrukturen und für Prozesse ethischer Urteilsbegründung und moralischer (Selbst-) Bildung. Wobei im Werk vom Vorwort an drei Grundlinien und Grundfragen durchweg mitschwingen: Die Frage

  1. nach dem Menschen als moralischem Subjekt,
  2. nach einer guten Lebensführung im sozialen Miteinander und
  3. nach gerechten Institutionen.

Alle drei Bereiche und Grundfragen gehören für das praktische Leben des einzelnen und als Teil der Gesellschaft und in Bezug auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft als „Wertegemeinschaft“ in Überzeugung und gelebter Praxis (unter Einbeziehung von Institutionen) zusammen.

Diese Grundfragen und die dazugehörigen Grundlegungen, Definitionen und dann praktischen Leitsätze können, arbeitet man sachgerecht zum Thema, nur interdisziplinär in den Blick genommen werden, um eine möglichst hohe Tragfähigkeit der gelebten Wirklichkeit gegenüber zu entfalten.

Herausgeber

Prof. Dr. theol. Jochen Sautermeister ist Professor für Moraltheologie und Direktor des Moraltheologischen Institutes der Universität Bonn. Als Inhaber der Stiftungsprofessur für Moraltheologie und besonderer Berücksichtigung der Moralpsychologie an der Universität München ist die Verbindung von Theologie, Moral und Psychologie einer der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit der letzten Jahre. Und in diesem Feld durchaus als „Vorreiter“ des Faches im deutschsprachigen Raum zu begreifen.

Aufbau und ausgewählte Inhalte

In fünf Themenbereiche strukturiert Sautermeister als Herausgeber die 30 Kapitel des Buches.

Nach einer systematischen Einführung zur „Vermessung des wissenschaftlichen Feldes“ und der Setzung der Moralpsychologie als „transdisziplinäre und ethische Herausforderung“, setzt Sautermeister die vielfachen Beiträge aus diversen Fachrichtungen unter:

  1. Moralpsychologische Grundlagen (mit ebenso klarem Blick auf die Humanwissenschaftlichen Perspektiven der Moralpsychologie)
  2. Die moralische n Entwicklung (des Individuums zunächst unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer und soziologischer Aspekte)
  3. Bewährungsfelder des moralischen Subjekts
  4. Ethische Grundbegriffe aus moralpsychologischer Perspektive
  5. Zur ethischen Bedeutung der Moralpsychologie

Dabei fällt durchweg positiv auf, dass die nicht ganz einfache Trennschärfe zwischen Moral und Ethik einerseits und individueller und allgemeiner Ausprägung andererseits in den einzelnen Beiträgen gewahrt bleibt.

Ebenso nachvollziehbar und differenziert führt das Werk in die wesentlichen Disziplinen der Herausbildung der Moralpsychologie ein und verweist auf die „Vorläufer“ in Anthropologie, Theologie und Philosophie. Mithin wird eindeutig herausgestellt, dass neben den materialistischen Fragen des Lebens seit jeher die Frage nach dem „guten Leben“, dem „Sinn des Lebens“ und dem möglichst konstruktiven Verhalten einander gegenüber im Rahmen größerer und kleinerer sozialer Gemeinschaften eine „Grundfrage der Menschheit und des Menschen“ seit Beginn zivilisierter Lebensformen ist.

Wie Willi Butollo vertiefend aufzeigt, ist es keiner „konkreten Moral“ im Lauf der Geschichte geschuldet, dass Menschen sich existenziell mit moralischen Normen und Kategorien auseinandersetzen, sondern als Produkt einer Reibung in Form einer „psychischen Hemmung“ einerseits und der „Förderung selbstbestimmten Handelns“ anderseits. Der Beitrag zeigt auf, inwiefern eine Fähigkeit zur Selbstbestimmung vorliegt und andererseits legt der Beitrag den Einfluss von Regelsystemen offen. Diese Spannung zwischen „Ich will“ (und wie wäre das richtig, was ich will?) im Rahmen einer meist fest gefügten äußeren „Rahmung“ kann als existenziell begründet damit gesetzt werden.

Dies bildet die Grundlage für die konkrete Beschreibung und Setzung der Moralpsychologie auch als (und das ist dann praktisch relevant) Konzept „der Erschließung normativer Entscheidungs- und Handlungssituationen“.

Hinzuweisen ist im Besonderen dabei auf die sorgsame Darstellung der „Entwicklung des moralischen Urteils und der moralischen Motivation“ durch Gertrud Nummer-Winkler.

Mit dem besonderen Augenmerk auf die erst später (nachdem bereits früh im Leben „kategorische Sollgebung moralischer Normen“ internalisiert werden) stattfindende Entfaltung einer „moralischen Motivation“ als ein „dynamischer, später einsetzender Prozess“.

Eine Entwicklung, die der Herausbildung kognitiver und soziokultureller Strukturen zunächst Bedarf. Was umgehend eine wesentliche Schnittfläche der Überlegungen im Rahmen einer „Moralpsychologie“ zwingend nahelegt.

Ein Prozess, der „unbewusste Vorgänge übernommener Norm-Setzungen“ in das „Bewusstsein“ hebt  und diese durch „bewusst eingesetzte Gegenstrategien“ einer persönlichen Kontrolle zuführt.

Wo die Moralpsychologie im Schnittfeld von Ethik, Empirie, Philosophie, Theologie und Psychologie ihren Platz zu finden hat, führen die Autoren im Werk dabei ebenso klar auf den Punkt, wie sie die „Arbeitsweise“ der Moralpsychologie in Methode und übergreifenden Verbindungen der Disziplinen ihre Funktion wahrnimmt und Ergebnisse generiert.

So geht ein gewichtiger Teil zu Beginn des Werkes der Frage der Begründung und sogfältige Eingrenzung des Faches der Moralpsychologie nach. Um dann, überzeugend, „praktisch“ zu werden.

Was Prosoziales Verhalten bedingt, aber vor allem auch an Leitsätzen leitet, wie in diffundierenden „spätmodernen Gesellschaften“ Identitätsarbeit auszusehen hat und wie diese gelingen kann, wie sich Verhaltensweisen des „Mobbing“ und des „Fanatismus“ als „Gegensätze des Pluralismus“ einordnen, bewertet und welche ethischen Leitwerte und moralischen Normen diesen entgegengesetzt werden können, ergibt einen hohen Erkenntnisgewinn, auch in Bezug auf die Definitionen jener „Einstellungen“.

Das  im Folgenden Gerechtigkeit, Glück, Liebe, Empathie, Vertrauen und, dem Menschen gegebene, Scham- und Schuldgefühle als Basis eines daraus hervorgehenden, meist subjektiv zunächst gefärbten, ethischen und moralischen Denkens und Handelns ausführlich behandelt und moralpsychologisch gedeutet werden, bietet im Folgenden eine grundlegende Vertiefung der zentralen Begriffe des Faches.

Überdeutlich wird die mögliche und in Zukunft weiter zu vertiefende „Funktion“ der Moralpsychologie, wenn im letzten Kapitel des Werkes die Trennschärfe zwischen „sittlichem Verhalten“ und Ethik hergestellt wird.

Aus Traditionen und „irgendwie“ subjektiven Gefühlen werden sittliche Einstellungen als habituelle Größen gerne und oft gesetzt, die „nicht zu hinterfragen“ sein sollen, weil sie doch, dem Empfinden nach, „doch einfach so sind“.

Konrad Hilpert zeichnet dabei im Werk für die differenzierte Betrachtung von „Ethik und Gefühl“ verantwortlich und verweist auf jene moralphilosophischen Überlegungen, welche den Emotionen eine Form „eigener Rationalität“ zuweisen, die theoretische Erkenntnisse (bei aller Flüchtigkeit von Gefühlen „vorstrukturiert“.

Gerade die vielfach verschiedenen Sichtweisen und in Teilen „gegenläufigen Antworten“ zeigen in diesem Kapitel des Werkes die Notwendigkeit auf, sich den Herausforderungen dieser je begründeten, dialektischen Bewertungen der Rolle von Emotionen bei der Moralbildung gerecht zu werden im Rahmen einer transdisziplinären Moralpsychologie.

„Anderseits wird gezeigt, dass diese sittlichen Einstellungen nicht als Grundlage gerechter Entscheidungen für das Ganze dienen können“. Denn „gerechte Institutionen“, wie am Anfang des Werkes benannt, haben die Pflicht, gerade jene sittlichen Einstellungen (und damit auch vielfache „Gefühle“) zu delegitimieren, die für soziale Konflikte verantwortlich sind.

Hier setzt die grundlegende Wichtigkeit der Ethik und dann, in ihrem Vollzug, der Moralpsychologie an, im argumentativen Diskurs, fachübergreifend, irrige von „guten“ sittlichen Einstellungen zu unterscheiden und diese empirisch reflektiert überzeugend kritisch darzustellen.

Dies bringt das Werk in inhaltliche Verbindung zum Gewissen und, durch Moralpsychologie und Ethik auch zu formende, „Gewissen als regulative Instanz persönlicher Integrität“.

Von der Seite der Ethik her gesehen ist das Gewissen aus dieser Sicht her zu begreifen als „unausweichlich moralisch beansprucht“ und damit einer ethischen (Selbst-) Reflexion verpflichtet. In Anbetracht der „Irrtumsanfälligkeit“ des Gewissens in konkreten Entscheidungssituationen kommt dabei der Moralpsychologie mit Recht (wie Sautermann es vollzieht) die Funktion zu, das Gewissen als „regulative Instanz persönlicher Integrität reformulieren“ zu können.

Diskussion

In sich schlüssig und logisch bauen die verschiedenen Beiträge in den gut gesetzten Hauptteilen mehr und mehr aufeinander auf, um in der empirisch ausgelegten Funktion von Moralpsychologie und Ethik (dicht miteinander verwebt und verbunden) am Ende des Werkes ihre Konklusion in bester Weise zu finden.

Im Verlauf der Lektüre erschließt sich dem Leser nicht nur die Begriffsklärung und systematische Setzung der Disziplin der Moralpsychologie als interdisziplinäres Wissenschaftsfeld (was einen theoretischen Erkenntnisgewinn erst einmal nur gegeben hätte), sondern weist wieder und wieder überzeugend auf, dass der „Schritt zurück“ von subjektiven Empfindungen, Traditionen und je neuen „Wellen“ an sittlichem Empfinden notwendig ist, um das eigene Verhalten, aber auch die sich verändernde Ausrichtung großer sozialer Gruppen immer wieder an überzeugenden und allgemeinverbindlichen Werten und deren Umsetzung abzugleichen.

Hier bietet das Werk für die „Basis der Ethik und Moral“ in den zentralen Begriffen und Orten im Leben wichtige Orientierungen und Wertesetzungen, die gerade in Zeiten schneller und in ihrer Geschwindigkeit sich potenzierender Veränderungen helfen, einen „festen Grund“ zu finden, an dem sich Veränderungen in ihren konstruktiven oder eben auch destruktiven Folgen messen lassen.

Wobei sich das Werk auch dem möglichen, in Teilen gar wesentlichen, „Zirkelschluss“ der Moral stellt, der immer wieder die Empirie dahingehend ein stückweit belastet, dass subjektive Faktoren einen wesentlichen Bestandteil von Moral und Ethik darstellen.

„Was jedoch als moralisch relevant verstanden wird, ist vom zugrundeliegenden Vorverständnis von Moral abhängig“.

Einklagbar sind ethisch und moralisch noch so differenziert erhobene Leitsätze daher und damit nicht.

Durch die Aufnahme des Begriffes der „dichten Beschreibung“ allerdings lässt sich ebenso ein Verweis auf „verdichtete Erfahrungen“ aufgreifen, so dass, wie in grundlegenden Schriften der Religion und Philosophie vorliegend, anhand der „verdichteten Erfahrungen“ von sozialen Gruppen durchaus relevante „Grundwerte“, versehen mit „Zeitlosigkeit“ als Axiome gesetzt werden können, auf denen eine in sich schlüssige Argumentation zu einzelnen Wertvorstellungen und deren konkreter Moral aufgebaut werden kann.

Fazit

Strukturiert, detailliert und fundiert arbeiten die Autoren und der Herausgeber Begriffe, theoretische Begründungen und eine Verortung der Disziplin der Moralpsychologie einerseits heraus, wie auf der anderen Seite die praktische Bedeutung und die praktische Umsetzung moralpsychologischen Denkens und Handelns konkret und empirisch nachvollziehbar beschreiben wird.

Durch die vielfachen Literaturhinweise und die zusammenfassende Aufnahme aktueller Denkkonzepte der verschiedenen, beteiligten und naheliegenden Disziplinen eignet sich das Werk bestens zur Aneignung der speziellen moralpsychologischen Arbeitsaufträge und der wesentlichen und wichtigen Funktion von Ethik, Moral Moralpsychologie im individuellen und gesellschaftlichen Kontext. Dies nimmt gerade die aktuelle, weltweite Entwicklung auf und ist für diese von hoher Bedeutung.

Rezension von
Pfarrer Michael Lehmann-Pape

Es gibt 23 Rezensionen von Michael Lehmann-Pape.

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Zitiervorschlag
Michael Lehmann-Pape. Rezension vom 06.10.2017 zu: Jochen Sautermeister (Hrsg.): Moralpsychologie. Transdisziplinäre Perspektiven. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2017. ISBN 978-3-17-023684-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23263.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.


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