Jürgen Ritsert: Zur Philosophie des Gesellschaftsbegriffs
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 24.09.2018
Jürgen Ritsert: Zur Philosophie des Gesellschaftsbegriffs. Studien über eine undurchsichtige Kategorie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-7799-3744-9. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Gesellschaft ist der Grundbegriff einer Reihe von Einzelwissenschaften und natürlich auch der Sozialphilosophie. Leider steht seine Geläufigkeit in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Bestimmtheit. Zur ersten Orientierung gibt Ritsert eine abstrakte Definition: „Gesellschaft bedeutet das jeweils vom Standpunkt irgendwelcher Handelnder und/oder Theoretiker aus betrachtete Gefüge des ständigen Mit- und Gegeneinanderwirkens und Handelns von Individuen, Gruppen und/oder Kollektiven von Menschen im Verlauf der Geschichte ihrer Gattung.“ (S. 16) Dieser Begriff soll in fünf Dimensionen konkretisiert werden, wobei Ritsert, seiner Definition gemäß, auf die bekannten Klassiker der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie und auf eine Reihe anderer Autoren Bezug nimmt.
Entstehungshintergrund
Der Autor war von 1971 bis zum Jahr 2000 Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Ritsert hat zahlreiche Studien zur kritischen Theorie, zur Gesellschaftstheorie und zur Logik der Sozialwissenschaften veröffentlicht. Der vorliegende Text stellt die Grundlage einer zweisemestrigen Vorlesung dar. (S. 17)
Aufbau und Inhalt
Das der Untersuchung vorangestellten „Fazit“, das auch die obige Definition enthält, gibt die fünf Dimensionen an, in denen der Gesellschaftsbegriff konkretisiert werden kann. Es handelt sich um
- die Konstitutionsprinzipien,
- den Abstraktionsgrad des Begriffs,
- um Sozialontologie,
- um gesellschaftliche Synthesis, Dynamis und Praxis, sowie
- um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
Den ersten vier Dimensionen entspricht je ein Kapitel, der letzten Dimension zwei. In jeder Dimension lässt sich zwischen extremen entgegengesetzten Positionen eine Achse ziehen, auf der vermittelnde Positionen angesiedelt sind.
Im ersten Kapitel wird die Frage behandelt, wodurch Gesellschaft (im Sinne des Mit- und Gegeneinanderwirkens von Individuen und Gruppen) überhaupt zustande kommt. Die erste Antwort wird von Adornos – aus der Sicht des Marx'schen Werks durchaus problematischen – These repräsentiert, Prinzip der Vergesellschaftung sei der Tausch. In diesem Zusammenhang findet die ähnliche Auffassung von Simmel Erwähnung, wobei bestritten wird, das Tausch-Theorem müsse monistisch – d.h. im Sinne einer einzigen Ursache – aufgefasst werden. Pluralismus gilt für die objektive Konstitution von Gesellschaft generell, wenn man einen problemorientierten (funktionalistischen?) Ansatz wählt. Gesellschaften müssen zumindest drei Aufgaben erfüllen: materielle Reproduktion; sexuelle Reproduktion (Geschlechter- und Generationenverhältnis) sowie kulturelle Reproduktion, d.h. Erhaltung von Sprache, Wissen, Normen, Glaubensinhalten. An diese Einsicht schließt sich die Frage nach der Priorität und nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein an, das, Ritsert zufolge, niemand ernstlich loswerden kann. Als Beispiel für die Priorität der materiellen Reproduktion kann der historische Materialismus gelten. Als Beispiel für die Priorität der Kultur und der Wertideen wird Talcott Parsons Systemfunktionalismus angeführt. (S. 36 ff.) Es schließt sich eine Auseinandersetzung mit Spielarten des Konstruktivismus an, die in einer Darstellung von Ansätzen mündet, die Lebensform mit Sprachspiel oder Gesellschaft mit Diskurs identifizieren.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Abstraktionsstufen des Gesellschaftsbegriffs. Ritsert beginnt mit einer Stufe höchster Allgemeinheit, die noch nicht spezifisch auf die Gesellschaftstheorie bezogen ist: der Assoziation von Elementen überhaupt; eigentlich kann es sich hier nur um eine allgemeine Systemtheorie handeln. Konkreter ist die Stufe des Begriffs menschlicher Gesellschaft überhaupt, auf der anthropologische Grundannahmen und die im ersten Kapitel behandelten Reproduktionsaufgaben anzusiedeln sind. Die – von oben aus gesehen – dritte Stufe enthält Gesellschaftstypen und -typologien, etwa die Unterscheidung von Agrar- und Industriegesellschaften oder Untertypen wie Früh- und Hochkapitalismus. Stufe vier ist die Ebene von Subsystemen wie Organisationen und Institutionen, wobei erstere durch einen Zweck bestimmt sind, letztere durch ein Vorgehen oder Verfahren. Die nächste Ebene ist die von Gruppen und die konkreteste ist die Alltagswelt der Individuen. Hier wird auf die phänomenologische Soziologie (A.Schütz) und den symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer) verwiesen.
Das dritte Kapitel befasst sich unter dem Titel „Sozialontologie“ mit sozialen, das Mit- und Gegeneinanderwirken von Individuen und Gruppen betreffenden Realitäten, die objektiv, d.h. unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden, existieren. Genau genommen beschäftigt sich Ritsert wieder mit prominenten Theorien, die solche Realitäten konzipieren oder bestreiten: mit dem Tatsachenbegriff Durkheims, der Objektivitätswirkung der Geldwirtschaft nach Simmel, dem Verhältnis von Sprachspiel und Lebensform bei Wittgenstein, dem Sinnverstehen bei Weber und der konstitutiven Rolle des Handelns nach Regeln bei Winch, der eine radikalidealistische Version des Regelverständnisses verficht: Die sozialen Beziehungen und die in den Handlungen verkörperten Ideen sind dasselbe. (99) Wie schwierig es ist, heute den Gedanken gesellschaftlicher Objektivität zu fassen, zeigt die Diskussion des „Thomas-Theorems“: „Wenn Menschen eine soziale Situation als real definieren, dann ist sie real in ihren Konsequenzen. Das stimmt! Wenn wir bei einem Gruppenauflauf der Meinung sind, es handele sich um Gaffer, werden wir uns anders verhalten als dann, wenn wir glauben, es handele sich um eine Schlägerei, in die wir nicht verwickelt werden möchten.“ (102) Das Beispiel zeigt, dass unser „Glaube“ (die vorgenommene Situationsdefinition) reale Konsequenzen haben kann – wer hätte das je bestritten? – aber nicht, dass die von uns definierte Situation real ist. Wenn man diesen Unterschied zwischen der Wirksamkeit einer Definition und ihrer Angemessenheit nicht festhalten kann; wenn Wahrheit und Effekt sich trübe vermischen, wird Aufklärung unmöglich und sinnlos. – Das Kapitel mündet in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Searles' Konzept einer Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich von den unter dem Namen „Konstruktivismus“ kurrenten Subjektivismen wohltuend abgrenzt, sowie mit Adornos kritischer Theorie. In deren Zentrum steht der Begriff der gesellschaftlichen Objektivität, den Ritsert durch eine Differentialdiagnostik klären und vor Missverständnissen bewahren will.
Das vierte Kapitel geht der Vermutung nach, dass sich Gesellschaftstheorien trotz aller Verschiedenheit im Hinblick auf drei theoretische Probleme vergleichen lassen: das Problem der gesellschaftlichen Synthesis, das der Dynamis und das der Praxis. Der erste Abschnitt beschäftigt sich unter dem Begriff der gesellschaftlichen Synthesis erneut mit den Problemen und Theorien des ersten Kapitels, differenziert sie aber nach Allgemeinheitsstufen, die aus Kapitel 2 bekannt sind. Behandelt werden wieder Parsons, Simmel, Durkheim, Adorno und erneut die Unterscheidung von Institution und Organisation. (S,134 f. vgl. S. 63) In Bezug auf das Problem des sozialen Wandels werden verschiedene Modelle und die dazu gehörigen Autoren vorgestellt: Sequenz-, Steigerungs-, szientistische, Revolutions- und Zyklenmodelle. Zum Problem der Praxis greift er Autor auf die Position Webers im „Werturteilsstreit“ und auf Horkheimers Begriffe der objektiven und subjektiven Vernunft aus „Eclipse of Reason“ (dt.: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“) zurück. Ein Versuch, Gemeinsamkeiten zwischen Popper und der kritischen Theorie „im Hinblick auf die zentrale Bedeutung des Problembegriffs“ (S. 182) herauszustellen, schließt sich an. Beendet wird das Kapitel mit einer Anmerkung zu Bindestrich-Gesellschaftsbegriffen: Konsum-,Risiko-,Erlebnis-, Zivilgesellschaft etc.
Dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das man als das Schlüsselproblem der Soziallphilosophie bezeichnen kann, sind die Kapitel 5 und 6 gewidmet.
Das 5. Kapitel beginnt mit dem Entwurf einer Sozialphilosophie als universeller praktischer Philosophie. Deren zentrales Lehrstück ist in der Tradition das Naturrecht. Ritsert unterscheidet vier Modelle: egalitär/vorgesellschaftlich (Locke/Rousseau); egalitär/gesellschaftlich (Aristoteles); affirmativ/vorgesellschaftlich (Robinsonaden/Hobbes); affirmativ/gesellschaftlich (Robert Filmer, ein englischer Autor des 17. Jahrhunderts, gegen den Locke polemisiert hat). Kritische Theorien bewegten sich fast durchweg im Rahmen des 2. Modells, denn es erlaube, die Kriterien von Gleichheit und Gerechtigkeit mit dem Autonomieprinzip der praktischen Vernunft zu verweben. Dieses Urteil ist ebenso problematisch wie die Konstruktion dieses 2. Modells überhaupt, zumal Ritsert die Auffassung erkennen lässt, dass man ihm auch Marx subsumieren könne (S. 201, 206 f.). Die Maßstäbe einer humanistischen Kritik werden schließlich in Kants Autonomieprinzip gesucht und gefunden.
Im abschließenden 6. Kapitel wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf der Ebene empirischer Theorien über Sozialcharaktere behandelt. Der Autor stellt zunächst das Persönlichkeitsmodell Freuds, die Rollentheorie G.H. Meads und den Habitus- bzw. Kapitalbegriff bei Bourdieu vor. Nach einem Blick auf das „Subsumtionsmodell der Subjektivität“ (Althusser, Luhmann), wendet er sich einzelnen Konzeptionen von Sozialcharakteren zu: Sombarts Idealtypus des Unternehmer-Bourgeois, dem autoritären Charakter bei Fromm und Adorno, dem außengeleiteten Charakter bei Riesman, dem narzißtischen Charakter nach Lasch, dem flexiblen Menschen nach Sennett und dem gierigen Geldsubjekt nach Brodbeck. Da Ritsert der gewiss nicht falschen Auffassung ist, dass eine Vermarktlichung oder Kommodifizierung der Lebenswelt im Trend der gesellschaftlichen Entwicklung liegt, muss es etwas verwundern, dass er auf Fromms Begriff des Marketing-Charakters keine Reflexion verschwendet. Von hier aus ließen sich zwanglos Verbindungen zu Autoritarismus und Narzissmus finden.
Fazit
Das Buch empfiehlt sich für Studierende und Lehrende der Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie, die Ordnung in die Vorstellungen ihres Grundbegriffs bringen und dabei von der beeindruckenden Vertrautheit des Autors mit der Literatur profitieren wollen. Erreicht wird die Absicht, den Nachhall philosophischer Kontroversen in den Problemen der theoretischen Soziologie nachzuweisen.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Website
Mailformular
Es gibt 32 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.
Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 24.09.2018 zu:
Jürgen Ritsert: Zur Philosophie des Gesellschaftsbegriffs. Studien über eine undurchsichtige Kategorie. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
ISBN 978-3-7799-3744-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23275.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.