Rita Charon, Sayantani DasGupta et al.: The Principles and Practice of Narrative Medicine
Rezensiert von Dr. Vera Kalitzkus, 01.09.2017
Rita Charon, Sayantani DasGupta, Nellie Hermann, Eric R. Marcus: The Principles and Practice of Narrative Medicine. Oxford University Press (Oxford OX2 6DP) 2016. 360 Seiten. ISBN 978-0-19-936019-2. 48,80 EUR.
Thema
Die narrative Medizin steht für das Wieder-in-den-Mittelpunkt-Nehmen des individuellen Erlebens der PatientInnen sowie der individuellen Erfahrung der Menschen, die im medizinischen Kontext tätig sind. Das Konzept der narrativen Medizin hatte seinen Entstehungsimpuls darin, den Defiziten in der Umsetzung der evidenzbasierten Medizin entgegenzuwirken und versteht sich als wichtige Ergänzung derselben. Der Inhalt des Buches ist so komplex wie das Unterfangen der narrativen Medizin selbst, die vorgestellte Vision nichts Geringeres als ein sozial gerechteres, humaneres Gesundheitssystem und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für alle.
Eine narrative Herangehensweise soll den klinischen Blick weiten und die individuellen Menschen in ihren spezifischen Lebenskontexten wieder in den Blick nehmen. Dies erfordert nach Ansicht der AutorInnen narrative Kompetenzen und die Fähigkeit zur Selbstreflexion von ärztlich, therapeutisch, pflegerisch oder beratend Tätigen im medizinischen Kontext. Dazu gehören die Fähigkeiten, unterschiedliche Sichtweisen wahrnehmen, Ambivalenz und Unsicherheit als zentrale Merkmale der Medizin aushalten und sich in andere Menschen hineinversetzen zu können. Es bedeute, die Kontingenz der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung zu erkennen und eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität dafür zu entwickeln. Darüber hinaus impliziere es auch einen kritischen Blick auf das Gesellschafts- und Gesundheitssystem zu werfen und dessen Strukturen von Macht und Ungleichheit wahrzunehmen und ihr zu begegnen.
Der in diesem Buch vorgestellte Ansatz der narrativen Medizin, wie er von Rita Charon und ihrem Team an der Columbia University in New York gelehrt wird, versucht einen narrativen Blick und narrative Kompetenz über die kritische Auseinandersetzung mit den historischen und philosophischen Hintergründen unseres Medizinsystems (z.B. kartesischer Dualismus) sowie mit Hilfe von Literatur und Film zu erlangen. Als Kernmethode hat sich in der New Yorker Schule die den kritischen Literaturwissenschaften entlehnte Methode des close reading entwickelt. Damit wird im übertragenen Sinne die Lese- und Interpretationsfähigkeit, also narrative Kompetenz gestärkt, die in Folge zu erhöhter „Zuhör-Fähigkeit“ und sozialer Kompetenz führen soll. Die höhere Selbst-Reflexivität soll mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber der Kontingenz der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung bewirken – jedoch ohne diese zu verurteilen.
Die Hintergründe für dieses Vorgehen, die zu Grunde liegenden Prinzipien und ihre Umsetzung werden in diesem Buch erläutert.
AutorInnen
Die Ärztin und Professorin Rita Charon überführte den von ihr entwickelten Ansatz narrativer Medizin 2009 in den ersten Masterstudiengang Narrative Medicine an der Columbia University in New York (USA).
Die AutorInnen – alle Mitglieder ihres Teams an der Columbia University – kommen sowohl aus der medizinischen Praxis und der Medizinethik als auch aus geisteswissenschaftlichen Fächern wie der Philosophie, den Literaturwissenschaften, der Filmkritik, Pädagogik oder Ethnologie. Hinweise zum Masterstudiengang Narrative Medicine finden sich im Internet unter www.narrativemedicine.org/.
Entstehungshintergrund
Rita Charon und ihre KollegInnen haben im vorliegenden Band erstmals umfassend die Grundlagen und das Vorgehen in der Vermittlung ihres Modells der narrativen Medizin zusammengestellt. Zu den theoretischen Grundlagen ihres Ansatzes gehört eine Kritik des immer noch dominanten kartesischen Dualismus und der strengen Hierarchien und Machtgefälle innerhalb der Medizin, darüber hinaus die Betonung der zentralen Bedeutung von Erzählungen für die Identität von Menschen sowie für die Beziehung und Verständigung zwischen Menschen.
Die Bedeutung von Erzählungen in der Medizin ist so groß, weil sie eine tiefe Verständigung zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn ermöglichen, Hilfe zur Bewältigung von schweren Ereignissen und chronischer Krankheit bieten und zum Gelingen effektiver und passender Umsetzung biomedizinischer Erkenntnisse auf die individuellen PatientInnen beitragen. Narrative Medizin will hier zwischen den naturwissenschaftlichen Grundlagen und Erkenntnissen in der Medizin einerseits und der Medizin als Handlungswissenschaft andererseits vermitteln.
Narrative Medizin stellt allerdings keinen eigenen medizinischen Behandlungsansatz dar, wie der Name in Analogie etwa zur Inneren Medizin vermuten lassen könnte. Vielmehr versteht sich narrative Medizin als ein Modell für Empathie, Reflexion und Professionalität im medizinischen Kontext. Sie ist auch nicht allein auf den ärztlichen Kontakt mit PatientInnen beschränkt, sondern lässt sich ebenso auf andere pflegerische, therapeutische und beratende Professionen übertragen.
Aufbau und Inhalt
Die 13 Kapitel des Bandes führen von den theoretischen Grundlagen über die Vermittlung in Lehre, Aus- und Weiterbildung bis hin zu den Umsetzungsmöglichkeiten im klinischen Alltag.
Die AutorInnen erläutern im ersten Teil die Bedeutung von Erzählungen für die menschliche Identität und zeigen, dass sie erst wirksam werden können, wenn die Bereitschaft da ist, sich auf die Geschichten und das Erleben anderer – sei es in Romanen, Filmen oder konkreten Begegnungen mit PatientInnen – einzulassen. Dieser Aspekt des In-Beziehung-Seins zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, steht jedoch im Mittelpunkt von Teil I mit dem Titel Intersubjektivität. Die Beschäftigung mit Literatur kann so die Grenzen einer rein rationalen Herangehensweise aufzeigen und betonen, dass neben dem dominanten Modell von Autonomie der Aspekt von In-Beziehung-Sein Beachtung findet, so Maura Spiegel und Daniel Spencer (S. 34). Wichtig ist den Autorinnen, dass in ihren Kursen nicht die Selbstoffenbarung im Mittelpunkt steht, sondern – im Gegenteil – immer wieder der Bezug zum bearbeiteten Text und/oder dem Geschriebenen gesucht wird. So sollen Gefühle und Werturteile von den Teilnehmenden wahrgenommen werden und erkennbar werden, wie sie alltägliches Handeln (auch das eigene) bestimmen.
Als Grundlagen der narrativen Medizin werden im zweiten Teil des Buches die Kritik am kartesischen Dualismus in der Biomedizin sowie philosophische, sozial- und literaturwissenschaftliche Ansätze genannt. In diese unterschiedlichen Denktraditionen führen Craig Irvine, Danielle Spencer und Rita Charon verständlich ein. Gesondert wird hier in einem Kapitel die narrative Ethik als ein Feld der praktischen Umsetzung von narrativer Medizin behandelt.
In dritten Teil widmet sich Sayantana DasGupta den pädagogischen Aspekten von Seminaren für narrative Medizin. Immer wieder gelte es dafür die eigene Perspektive und Darstellung der Dinge zu hinterfragen. Zentral ist dabei der von ihr geprägte Begriff „narrative humility“. Sie beschreibt damit eine Haltung narrativer Bescheidenheit, die um die eigenen Vorurteile weiß und darum, dass ein Verstehen des/der Anderen letztlich immer nur eine Annäherung sein kann (S. 148).
Im vierten Teil des Buches erläutert Rita Charon die Kernmethode der narrativen Medizin nach dem New Yorker Modell: das „close reading“. Als Zugang zu den Texten dient die Analyse verschiedener Merkmale wie Zeit, Raum, Stimme (wer spricht aus welcher Perspektive), oder der Gebrauch von Metaphern. Im Anschluss an diese analytische Herangehensweise und Diskussion in der Gruppe, schließt sich ein Schreibimpuls für eine kurze Sequenz spontanen Schreibens an – immer in Bezug auf den zuvor analysierten Text. Über das Schreiben sollen die Teilnehmenden zu einer Wertschätzung dessen gelangen, was das intensive Lesen bei ihnen bewirkt und hervorgerufen hat. An positiven Effekten für die Gruppe aus dieser Textarbeit werden unter anderem eine Stärkung von Zusammengehörigkeitsgefühl und erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber eigenen Vorurteilen genannt (S. 182).
Deutlich wird dabei auch die Rolle von Kreativität für die narrative Medizin. Darauf geht der fünfte Teil im Besonderen ein. Für Nellie Hermann, die Autorin dieses Teils, ist Kreativität im medizinischen Alltag und Handeln unumgänglich, denn das der Medizin zugrunde liegende Prinzip der Ungewissheit und das Sich-Einstellen auf jede individuelle und einzigartige Situation mit PatientInnen erfordere kreative Herangehensweisen. Hermann gibt anhand von Textbeispielen und Begegnungen aus ihren Kursen wichtige Hinweise für die Durchführung solcher Seminare.
Im sechsten Teil des Buches wird den konkreten Auswirkungen der vorgestellten Methoden auf die Arbeit sowohl in Lehre als auch im klinischen Kontext nachgespürt. Zentral sind hier die Begriffe Zuhören, Wahrnehmen, Anerkennen und Bezeugen („bearing witness“), die über die vorgestellten Methoden als Haltung eingeübt werden und sich dann in entsprechender beruflicher Praxis niederschlagen können.
Konkrete Umsetzungsbeispiele narrativer Medizin und ihrer Prinzipien in die klinische Praxis stellt Rita Charon im siebten und letzten Teil des Buches vor:
- in der Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung mit den individuellen Patienten,
- für die Teamentwicklung, und
- durch Anwendung neuartiger narrativer Praktiken im klinischen Alltag.
Diskussion
Eindrücklich schildern die AutorInnen den Nutzen, der aus ihrem Training in narrativer Medizin resultieren kann. Auch Studien, die den Nachweis erhöhter Empathie und sozialer Kompetenz durch diese Art Schulung erbringen, werden genannt. Die Umsetzung in medizinischer, therapeutischer oder pflegerischer Praxis steht zwar nicht im Fokus dieses Buches. Dennoch zeigen insbesondere die Schilderungen von Rita Charon, wie sich der Kontakt und das Geschehen zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin entwickeln könnten – eine Entwicklung, die sich dem anvisierten Ziel eines menschlicheren Gesundheitswesens nähert.
Generell stellt sich die Frage, ob der Begriff narrative Medizin günstig gewählt ist: Zum einen aus der eingangs erwähnten möglichen Fehleinschätzung als eigenes medizinisches Fachgebiet mit spezifischem therapeutischem Herangehen. Hier würde es sich anbieten, stattdessen von narrativer Praxis oder „narrative based medicine“ (vgl. Greenhalgh / Hurwitz 2005) zu sprechen. Zum anderen klammert die Beschränkung auf den ärztlichen Bereich die Pflege und weiteren Gesundheitsberufe aus. Hier wird von anderen statt dessen der Begriff „narrative healthcare“ oder „narrative based healthcare“ vorgeschlagen (vgl. Kalitzkus 2016).
Fazit
Rita Charon und KollegInnen haben eine fundierte Einführung in Hintergrund und Umsetzungsmöglichkeiten narrativer Medizin nach ihrem Modell an der Columbia University vorgelegt. Das Buch ist gut recherchiert und sorgfältig lektoriert. Es konzentriert sich auf die Vermittlung von narrativer Medizin in der medizinischen Ausbildung und bietet eine Fülle an Material und Anregungen sowohl zu den theoretischen Grundlagen als auch zum Geschehen in Workshops und Seminaren. Durch die vielen Textbeispiele und Schilderungen aus der konkreten Seminararbeit sind diese sehr lebendig und gut nachvollziehbar. Neue Wege der Umsetzung in die medizinische Praxis werden im letzten Kapitel von Rita Charon benannt, stehen jedoch nicht im Fokus dieses Bandes. Wer sich für die Bedeutung von Erzählungen in der Medizin interessiert, auf der Suche ist nach einem Ansatz, der – machbar, wenn auch herausfordernd – eine menschlichere Praxis für unterschiedlichste Bereiche des heutigen Gesundheitssystems verspricht, der wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen.
Literatur
- Greenhalgh, Trisha / Hurrwitz, Bryan (2005): Narrative based medicine – Sprechende Medizin: Dialog und Diskurs im klinischen Alltag. Bern: Huber.
- Vera Kalitzkus. Rezension vom 28.06.2016 zu: Maria Giuilia Marini: Narrative Medicine. Bridging the Gap between Evidence-Based Care and Medical Humanities. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2015. ISBN 978-3-319-22089-5 [Rezension bei socialnet]. Datum des Zugriffs 18.08.2017.
Rezension von
Dr. Vera Kalitzkus
medical anthropologist, Institut für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Zitiervorschlag
Vera Kalitzkus. Rezension vom 01.09.2017 zu:
Rita Charon, Sayantani DasGupta, Nellie Hermann, Eric R. Marcus: The Principles and Practice of Narrative Medicine. Oxford University Press
(Oxford OX2 6DP) 2016.
ISBN 978-0-19-936019-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23281.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
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