Angelika C. Messner, Andreas Bihrer et al. (Hrsg.): Alter und Selbstbeschränkung
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 02.02.2018
Angelika C. Messner, Andreas Bihrer, Harm-Peer Zimmermann (Hrsg.): Alter und Selbstbeschränkung. Beiträge aus der historischen Anthropologie. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2017. 272 Seiten. ISBN 978-3-205-79420-2. D: 40,00 EUR, A: 40,00 EUR.
Thema
Die Autoren dieser Publikation setzen sich mit dem Thema „Alter und Selbstbeschränkung“ aus einer historisch-anthropologischen Sicht auseinander und versuchen, den Widerspruch zwischen einerseits einem eher defizitären Bild des Älteren, andererseits der potentiellen Innovationskraft, die das Aller mit sich bringen kann, mit einer gegenwartsorientierten Perspektive zu verbinden.
Herausgeberin und Herausgeber
Herausgeber des Bandes sind
- Angelika C. Messner, emeritierte Professorin an der Universität Kiel,
- Andreas Bihrer, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Christian Albrechts Universität Kiel und
- Harm-Peer Zimmermann, Ordinarius für Populäre Literatur und Medien an der Universität in Zürich.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist neben einer Danksagung in vierzehn Kapitel, von unterschiedlichen Autoren verfasst, untergliedert. Es ist ein Sammelband, der die wichtigsten Referate einer interdisziplinären Tagung, die 2014 in Kiel stattfand, dokumentiert.
Der erste Beitrag „Alter und Selbstbeschränkung – Horizonte für die Forschung“ ist von Andreas Bihrer und Angelika C. Messner geschrieben. Sie arbeiten heraus, dass die moderne Forschung das Alter meist von seinem Endpunkt, vom Tod her, perspektiviert, wobei weniger das Alter, sondern vielmehr das Altern und deren Prozesse in den Blick genommen werden.
Klaus R. Schroeter ist der Autor zum Thema „Miszellen zu den subversiven Kräften des Alters und den ungehobenen Schätzen der Widerspenstigkeit im Alter“. Die Sicht auf das Alter, nicht nur zunehmende Einschränkung, sondern auch Ressourcen zu betonen sei kein Zufall. Sie ist gleichermaßen Ausdruck wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Wille (S. 21). Zu Beginn der Alternswissenschaft stand sie noch sehr im Zeichen der Medizin, bis das Alter zunehmend als soziales Problem wahrgenommen wurde.
Im folgenden Beitrag von Rebecca Niederhauser „So turne halt nicht so viel, dann wirst du nicht so alt“ wird gezeigt, wie die biopolitische Überalterungsdiagnose das Alter(n) in selbstbeschränkende Selbstverantwortung führt (S. 45 ff). Die Humankapitalressource Älterer ziele auf die Kosten, die sie selbst verursachen. Es wird mit sozialem Engagement geworben und mit selbstverantworteter Gesundheit, mit einer steten Arbeit am Körper, um die staatlichen Pflegekosten zu senken. Des Weiteren sei die demographische Alterung ein lukratives Geschäft mit gesunden und konsumfreudigen Alten. Die Gerontologie, so Niederhauser, setze sich zum Ziel, das Alter(n) zu optimieren, ein Alter(n), das nicht mehr länger defizitär, sondern gesund und aktiv sein soll, ein neues Alter(n).
„Selbstbeschränkung im Alter als präventivmedizinische Haltung“ ist der Titel des von Josef Aldenhoff verfassten Kapitels. Der Begriff „Ruhestand“ wäre irreführend, denn gutes Altern setze wenn nicht Unruhe, so doch Lebendigkeit und Neugier voraus (S. 63 ff). Die empfohlenen Wege dazu wie achtsame Nahrungsaufnahme, Gewichtsreduktion, hohe geistige und körperliche Aktivität werden von der Präventionsmedizin unter dem Begriff der Selbstbeschränkung zusammengefasst.
Es folgt ein Kapitel von Andreas Kruse über „Entwicklungsprozesse im hohen Alter“ (S. 75 ff). Er versteht unter Altern die fortschreitende Wandlung der lebenden Substanz und deren irreversiblen Veränderungen (Biomorphose) über den gesamten Lebenslauf hinweg, die prinzipiell gradueller Natur seien. Sowohl die Plastizität körperlicher und seelisch geistiger Prozesse als auch die Reservekapazität älterer Menschen würden immer noch erheblich unterschätzt. In den folgenden Ausführungen führt Kruse theologische und literarische Quellen an, die das Alter als „Sitz des Lebens“ und als „ruhig“ und „fromm“ charakterisieren. Interessant ist auch der Verweis auf die bewusst angenommene Abhängigkeit, also die Fähigkeit, irreversible Einschränkungen und Verluste anzunehmen und die eigenen, noch verbliebenen Fähigkeiten anzupassen, um ein gestaltbares, kontrollierendes System an Hilfen akzeptieren zu können.
Gerhard Wegner ist der Autor des Kapitels„Wer nicht sterben kann, kann auch nicht leben“. Der Tod sei die manifeste Grenze menschlichen Lebens, die die massive Einschränkung seiner Autonomie und Souveränität markiere. Die Realität des Todes werde in die ganz hohen Lebensjahre gedrängt, dem keine eigene Sinnhaftigkeit mehr zugesprochen würde – das Alter „veralte“ (S. 104). Der Zeitpunkt, ab wann man als alt bezeichnet würde, hat sich bis auf ca. 80 Jahre verschoben, sodass ein neuer Lebensabschnitt dazu gewonnen wäre.
Den „Lebensgrenzen und Lebenssinn“ ist der Beitrag von Thomas Rentsch gewidmet. Rentsch spricht von einem „Verendlichungsprozess“ unseres Lebens, den wir nur aus der Perspektive der einmaligen, endlichen Lebenssituation begreifen könnten. Geburt und Tod seien die zwei Fixpunkte, sodass es aus ethischer Sicht darum gehen sollte, das ganze Leben über Verletzlichkeit, Krankheit, Endlichkeit und Behinderung aufzuklären, wozu wir ein Bewusstsein des humanen Sinns von Sterblichkeit bräuchten. Auch ein Bewusstsein vom Wert der Langsamkeit, des Innehaltens und ruhigen Zurückblickens und des konkreten Gesprächs mit anderen, um Tiefe im Verendlichungsprozess zu gewinnen.
Ein weiteres Kapitel setzt sich mit der „Selbstbeschränkung und Selbsterweiterung als Kunst des guten Lebens im Alter“ auseinander, das von Gudula Linck geschrieben wurde. Im Prozess der Alterung würde Selbstbeschränkung, die an kein Alter gebunden sei, zur Unumgänglichkeit. Es gehe um das Üben von Genügsamkeit, auch um Gelassenheit zum Haushalten mit den noch verfügbaren Ressourcen. Wer streite, der mühe nur seine Lebenskraft ab und beschäftige seinen Geist mit Dingen, die außer ihm lägen.
Klaus E. Müller beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der „Gemessenen Autorität“. Er diskutiert in frühagrarischen Gesellschaften das Ansehen der Hochbetagten mit vielen Kindern und vor allem mit Söhnen, die den Ahnen näherstanden. Formal erreichte ein Mann den Status eines Ältesten, sobald er das erste Mal Großvater geworden ist, wobei er dann erst am Anfang seines Gerontendaseins stand. Je wohlfeiler er lebte und er erfolgreich blieb, je mehr Enkel er hatte, desto nachhaltiger gewann er an Ansehen und Autorität (S. 153).
Mit dem Titel „Altersweisheit“ ist das nächste Kapitel von Justin Stagl überschrieben. Das Alter, so schreibt er, sei eine soziale Konstruktion, eine soziale Rolle, der man zu entsprechen habe. Heute mit dem massenhaften Auftreten von Alten werde letzteres abgewertet und damit auch die Weisheit. Die Vorteile würden mit zunehmendem Alter kleiner, die Nachteile größer, sodass der Altersverfall sowie die Altersdiskriminierung steigen.
Im Beitrag von Julia Wildberger wird das Thema „Antinomien des alternden Selbst im Stoizismus“ herausgearbeitet. Es geht um die zwei Konzeptionen des Altseins im Stoizismus, einerseits um das höhere Maß an Autorität mit zunehmendem Lebensalter und andererseits um die klägliche Last des Alters, einer Philosophie, die schon vor über 2000 Jahren versucht habe, Antworten auf diese Antinomie zu finden.
Der Autor des Themas „Der alte Mann und die Macht. Zum Lob des Alters in Ciceros ‚Cato maior‘ und seinen kulturellen und sozialen Voraussetzungen“ ist Thorsten Burkard. Er führt aus, dass ca. drei Viertel der Schrift den vier Faktoren des Greisenalters gewidmet seien: 1. verhindere es die Aufnahme von Tätigkeiten, 2. schwäche es den Körper, 3. beraube es dem Menschen fast aller Lüste und 4. sei es dem Tod nahe (S. 209).
„Das Endspiel ums Leben“ wird von Thorsten Fitzon thematisiert. Da den Alten kaum Zeit bleibe, verenge sich die Perspektive seiner Tätigkeiten, was dazu geführt hätte, dass die literarische Gestaltung ebenso beschränkt geblieben sei. Das Alter erscheine gegenwärtig mehr als Eigenschaft denn als Lebensphase.
„Die ‚Hans im Glück‘ – Haltung“ von Harm – Peer Zimmermann wird im letzten Kapitel aufgegriffen. Seinem Schicksal vertrauend springt Hans frohgemut die Alterstreppen herab und führt diese ad absurdum -Altern wäre nur als Absturz vorstellbar und beziehe sich radikal auf das Sterben.
Fazit
Es ist eine Publikation, die tiefgründig das Alter und Altern aus historisch-anthropologischer Sicht beleuchtet. Theoretisch wie literaturwissenschaftlich durchdacht, zeigt sie uns, welche Hürden, aber auch welche Ressourcen auf dem Lebensweg des Alterns gemeistert werden müssen. Es ist keine einfache Kausalität, die uns vom Aufstieg bis zum Abstieg der Lebensleiter führt. Ein sehr aufschlussreicher und zuweilen auch amüsanter Sammelband, der vielschichtig und verdichtet diesen ambivalenten Prozess des Alters und Alterns aufzeigt.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 02.02.2018 zu:
Angelika C. Messner, Andreas Bihrer, Harm-Peer Zimmermann (Hrsg.): Alter und Selbstbeschränkung. Beiträge aus der historischen Anthropologie. Böhlau Verlag
(Wien Köln Weimar) 2017.
ISBN 978-3-205-79420-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23289.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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