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Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 09.10.2017

Cover Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute ISBN 978-3-407-25774-1

Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute. Lebenswelten der jungen Generation. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2017. 240 Seiten. ISBN 978-3-407-25774-1. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.

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Thema

Das Thema Kinder und Kindheiten hat seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. In den Sozial- und Erziehungswissenschaften haben sich neue Ansätze der Kinder- und Kindheitsforschung herausgebildet. Sie setzen sich mit überkommenen Kindheitsbildern auseinander und versuchen sich dem Leben der Kinder aus deren Perspektive zu nähern. Kindheit wird als historisches Phänomen begriffen, das immer wieder im Wandel ist und gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts neue Konturen angenommen hat und die Kinder ebenso wie die Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt. Kinder werden als Akteure verstanden, die aktiv an ihrer eigenen Sozialisation mitwirken und in ihren Gesellschaften verstärkt auf Mitsprache drängen. In diesem Zusammenhang wird auch den Rechten der Kinder wachsende Bedeutung beigemessen.

Die Psychologin Heidrun Bründel und der Sozial- und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann haben ein Buch vorgelegt, in dem die wichtigsten Forschungsergebnisse aus der Sicht einer subjektorientierten Sozialisationsforschung zusammengetragen und diskutiert werden. Es führt, ohne sich ausdrücklich darauf zu beziehen, die „Einführung in die Kindheitsforschung“ weiter, die der Autor und die Autorin 2003 im selben Verlag publiziert hatten (siehe: www.socialnet.de/rezensionen/703.php).

Aufbau und Inhalt

Der Band ist in zehn Kapitel gegliedert.

Im ersten Kapitel wird ein Überblick über die europäische Geschichte der Kindheit gegeben, wobei insbesondere auf die Familiarisierung der Kindheit in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionalisierung seit der Wende zum 20. Jahrhundert eingegangen wird.

Das zweite Kapitel widmet sich Theorien der Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation in der Kindheit und skizziert die „Entwicklungsaufgaben“ in dieser Lebensphase.

Das dritte Kapitel geht den Zusammenhängen von Kindheit und Gesellschaft nach und zeigt, wie Kinder zunehmend unter „gesellschaftlicher Beobachtung“ stehen. Sein Schwerpunkt liegt auf Fragen der Generationenbildung und des Verhältnisses zwischen verschiedenen Generationen.

Das vierte Kapitel betrachtet Kinder im Kontext der Familie. Es gibt einen Eindruck von der Vielfalt der Familienformen und der Beziehungsvielfalt in der Familie, geht auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Müttern ein, diskutiert die Bedeutung verschiedener Erziehungsstile sowie die Auswirkungen von Belastungen und Konflikten auf Kinder.

Im fünften Kapitel liegt der Blick auf Kindern in Kindertageseinrichtungen. Es wird auf verschiedene Modelle der Betreuung in Krippen und Kitas eingegangen, ihr Anregungspotenzial für frühkindliches Lernen wird diskutiert und es werden Fragen angesprochen, die sich beim Übergang in die Schule stellen.

Das Leben der Kinder in der Schule steht denn auch im Mittelpunkt des sechsten Kapitels. Hier finden vor allem Fragen der Ganztagsschule, der Einfluss der Herkunftsfamilie auf den Schulverlauf, Diversität und Heterogenität der Schülerschaft und ihr „Freud und Leid“ in der Schule Aufmerksamkeit. Ein besonderer Abschnitt ist „Flüchtlingskindern“ gewidmet.

Das siebte Kapitel befasst sich mit Kindheit im digitalen Zeitalter. Es wird über die Bedeutung der „Freizeit“ für Kinder sowie unter Bezug auf empirische Studien über ihr Freizeit- und Konsumverhalten nachgedacht. Besondere Beachtung findet die rasch sich ändernde Bedeutung digitaler Medien im Leben der Kinder.

Im achten Kapitel geht es um Kinderschutz und Kinderhilfe. Verschiedene sozialpädagogische Handlungsfelder wie Kinder- und Jugendhilfe sowie Hilfen für Familien, Kitas und Schulen werden vorgestellt und hinsichtlich ihrer Begründungen, Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit hinterfragt.

Das neunte Kapitel ist den Kinderrechten gewidmet. Die UN-Kinderrechtskonvention wird vorgestellt, die Bedeutung der Partizipationsrechte wird hervorgehoben, Untersuchungen zum Wohlbefinden der Kinder werden erläutert und schließlich wird gefragt, „was Kinder glücklich macht“.

Das abschließende zehnte Kapitel macht einen Sprung zur „Kindheit in Entwicklungsländern“. Dabei stehen vor allem problematische Aspekte des Lebens der Kinder im Fokus, wie Kinderarmut und Kinderarbeit, Gesundheits- und Bildungsprobleme, Kindersoldaten und Selbstmordattentäter sowie die Notwendigkeit des Schutzes für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten.

Diskussion

Das Buch hinterlässt bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Es informiert bündig über wichtige Theorien und Forschungen. Es ist übersichtlich strukturiert und bezieht viele Aspekte der Lebenswelten von Kindern ein, die wissen sollte, wer sich ein Bild heutiger Kindheit(en) machen will. Die Autorin und der Autor hüten sich davor, Kindheit als ewig gleichbleibendes Naturphänomen oder als eine naturgegebene Abfolge von Entwicklungsstufen darzustellen, wie es lange Zeit in der Entwicklungspsychologie üblich war und noch immer in populären Darstellungen verbreitet ist. Sie folgen auch nicht einer Tradition der Sozialisationsforschung, die Kinder als (passives) Resultat oder Kindheit(en) als unvermeidliches Bündel äußerer Einflüsse darstellt. Sie nehmen die Erkenntnisse der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung auf, die Kinder immer auch als Akteure sieht, die an der Konstruktion ihrer Lebenswelten mitwirken und eigene Sichtweisen haben, die ernst zu nehmen sind. Dabei haben sie auch die ganz jungen Kinder im Blick. Auch der Bedeutung der Kinderrechte wird in einem besonderen Kapitel gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.

Bei ihrer Darstellung orientieren sich die Autorin und der Autor an dem von Mitautor Klaus Hurrelmann bereits in den 80er Jahren entwickelten interdisziplinären Modell der „Sozialisation als einer produktiven Verarbeitung der inneren und der äußeren Realität“ (S. 7). Sie verstehen dieses Modell als eine „Metatheorie“, die ihnen erlaubt, die Aussagen und Befunde aus verschiedenen Forschungsansätzen einzuordnen und zu gewichten. Es ermöglicht ihnen auch, Anschluss zu finden an die seit den 90er Jahren in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung favorisierten Konzepte der „Agency“ von Kindern, ein Ausdruck, den Bründel und Hurrelmann als „soziale Handlungsfähigkeit“ oder „Handlungsmacht“ ins Deutsche übersetzen. Sie haben dabei auf die Mitarbeit von Florian Eßer, der als einer „der führenden Vertreter des Agency-Konzeptes in Deutschland“ vorgestellt wird, zurückgreifen können. Als ihr zentrales Anliegen bezeichnen die Autorin und der Autor, „zur Stärkung der pädagogischen Akteure, die mit Kindern leben und arbeiten, und zur Stärkung der Kinder selbst“ (S. 8) beizutragen. Sie tun dies in einer Sprache, die auch für solche Leserinnen und Leser gut verständlich ist, die nicht mit den Verästelungen dieser Theorien und Konzepte und den in der Kindheitsforschung geführten kontroversen Debatten vertraut sind. Sie drängen den Leserinnen und Lesern keine eindimensionale Sichtweise auf, sondern lassen Raum und bieten reichlich Material für eigene Schlussfolgerungen.

Und doch bleibt das Buch meines Erachtens hinter einer angemessenen Darstellung heutiger Kindheit(en) zurück. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die Autorin und der Autor nicht alle Aspekte des Lebens von Kindern zur Sprache bringen (dies wäre in einem schmalen Band, der für ein breiteres Publikum lesbar bleiben soll, unmöglich gewesen), sondern weil ihre kritisch-analytische Sicht auf die Lebensverhältnisse von Kindern zumindest in Teilen des Buches auf halbem Wege stehen und mitunter sogar Attitüde bleibt. Dies gilt z.B. für ihre Betrachtung des Verhältnisses von Kindheit und Schule. Obwohl sie äußerst kritisch und mit plausiblen Belegen darlegen, warum die heutige Schule der Vielfalt und Heterogenität heutiger Kinder nicht gerecht wird und insbesondere „Kinder mit Migrationshintergrund“ weiterhin diskriminiert und benachteiligt, halten sie an einem Begriff von „Schulfähigkeit“ fest, der die Last des Scheitern letztlich den Kindern selbst zuschreibt und die strukturelle Problematik des heutigen Bildungssystems (in Deutschland) unangetastet lässt. In dem entsprechenden Kapitel finden sich leider keine Reflexionen zu den Hintergründen von „Schulverweigerung“ oder „Schulversagen“. Auch auf die Probleme und Herausforderungen der Schulsozialarbeit wird nicht eingegangen.

Problematisch erscheint mir auch das von Bründel und Hurrelmann vertretene Konzept sogenannter Entwicklungsaufgaben, das sie im Anschluss an den US-amerikanischen Entwicklungspsychologen Robert Havighurst mit den Begriffen „Binden“, „Qualifizieren“, „Konsumieren“ und „Partizipieren“ umreißen. Sie machen zwar äußerst kritisch auf die wachsenden Tendenzen aufmerksam, Kinder unter gesellschaftliche Beobachtung zu stellen und ihre „Entwicklung“ an streng fixierten, als unabdingbar gelten Normen auszurichten, übersehen aber meines Erachtens, dass gerade die gesellschafts- und kulturübergreifende Festlegung von „Entwicklungsaufgaben“ dabei Vorschub leistet. Sie betonen zwar, dass Kinder schon vom Säuglingsalter an über bemerkenswerte Kompetenzen verfügen, und kritisieren, dass das Kind oft „allzu linear auf seine Abhängigkeit von einzelnen Erwachsenen reduziert“ wird (S. 76), aber gerade vor diesem Hintergrund erscheint mir ihr Plädoyer für einen „autoritativ-partizipativen Erziehungsstil“, der mit „liebevoller Konsequenz“ praktiziert wird (S. 79), wenig überzeugend.

Am wenigsten überzeugend und teilweise sogar ärgerlich finde ich das achte und das zehnte Kapitel des Buches. Das Kapitel über „Kinderschutz und Kinderhilfe“ beschränkt sich weitgehend auf eine Übersicht über das deutsche Kinder- und Jugendhilfesystem. Die Autorin und der Autor diskutieren zwar sachkundig die Hintergründe für den wachsenden Bedarf „frühzeitiger Hilfe bei Entwicklungsproblemen“, blenden aber völlig die (selbst-) kritische Diskussion um die immanenten Risiken des bisher betriebenen Kinderschutzes aus. Auch die Probleme, die mit der in Deutschland auf hohem Niveau verharrenden Kinderarmut verbunden sind, werden kaum angesprochen.

Das Kapitel über „Kindheit in Entwicklungsländern“ reproduziert alle Klischees, die zu diesem Thema verbreitet sind. Während über Kinderarmut in Deutschland kaum ein Wort verloren wird, werden die Kinder im Globalen Süden durchweg durch die Brille eines sorgenvollen Beobachters betrachtet, der nur Mängel und Nachholbedarf wahrnimmt. „Im Vergleich zum behüteten Aufwachsen der Mehrzahl von Kindern in westlichen Ländern verläuft das Leben vieler Kinder in Entwicklungsländern anders und ist vor allem von Armut, Ausbeutung, Gesundheitsgefahren, mangelnden Bildungsmöglichkeiten, Krieg und frühem Tod geprägt.“ (S. 212) Alle in den vorigen Kapiteln des Buches angestellten Überlegungen über Kinder als Akteure, die sich produktiv mit der inneren und äußeren Realität auseinandersetzen (können), werden hier über Bord geworfen. Nun geht es nur noch um Hilfe, die den armen Kleinen der „unterentwickelten“ Welt aus der „entwickelten“ Welt zuteilwerden soll. In diesen Betrachtungen kommt eine zutiefst eurozentrische Befangenheit zum Ausdruck, die indirekt auch die anderen Teile des Buches in einem problematischen Licht erscheinen lässt.

Fazit

Das Buch bietet eine bündige, übersichtliche und leicht lesbare Zusammenfassung wichtiger Forschungsansätze und -ergebnisse aus verschiedenen Bereichen der Kindheits- und Sozialisationsforschung, bleibt aber in der kritischen Analyse oft auf halben Wege stehen und ist von einer eurozentrischen Perspektive geprägt.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 09.10.2017 zu: Heidrun Bründel, Klaus Hurrelmann: Kindheit heute. Lebenswelten der jungen Generation. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2017. ISBN 978-3-407-25774-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23295.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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