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Greta Wagner: Selbstoptimierung (Neuroenhancement)

Rezensiert von Prof. Dr. Markus Babo, 26.02.2018

Cover Greta Wagner: Selbstoptimierung (Neuroenhancement) ISBN 978-3-593-50579-4

Greta Wagner: Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement. Campus Verlag (Frankfurt) 2017. 330 Seiten. ISBN 978-3-593-50579-4. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Enhancement, also die (Selbst-)Verbesserung des Menschen durch chirurgische oder pharmakologische Methoden ist ein gegenwärtig vornehmlich in der Ethik sehr kontrovers diskutiertes Thema. Das Spektrum des Machbaren reicht von der klassischen Leistungsverbesserung in Beruf, Sport und Freizeit über die Ermöglichung später Elternschaft durch social freezing und Hormonbehandlung bis hin zu den vielfältigen Möglichkeiten der Anti-Ageing-Medizin und der Schönheitschirurgie.

Die vorliegende Studie, die im Jahr 2014 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation eingereicht wurde, konzentriert sich auf das Thema des pharmakologischen Neuroenhancements (d.h. der freiwilligen Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente zum Zwecke kognitiver Leistungssteigerung) und bearbeitet dieses erstmals, basierend auf Interviews mit Studierenden in Frankfurt am Main und in New York, aus soziologischer Perspektive. Sie erhellt darin Bewertungsfiguren ebenso wie persönliche Motive und Erwartungen von KonsumentInnen und untersucht die gesellschaftliche Relevanz dieses aktuellen Themas.

Autorin

Dr. phil. Greta Wagner ist derzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Kapitel stellt die Verfasserin die Zusammensetzung, Wirkung und Indikationen der aktuell vornehmlich von „Wissensarbeitern“ zur Effektivitätsverbesserung konsumierten Medikamente vor und bettet diese in einen geschichtlichen Kontext der Einnahme von leistungssteigernden Mitteln in Militär und Freizeit ein.

Dem schließt sich ein Überblick über die polarisierte bioethische Diskussion um Neuroenhancement an. Dieser inzwischen sehr breite Diskurs, der im Wesentlichen um Fragen des guten Lebens, mithin der Authentizität und Identität, sowie um Gerechtigkeitsfragen (d.h. der Verletzung fairen Wettbewerbs durch heimliche Einnahme leistungssteigernder Mittel) kreist, wird gut strukturiert nachgezeichnet. Dabei konstatiert die Verfasserin, dass in den einschlägigen Beiträgen die gesellschaftliche Wettbewerbs- und Leistungslogik nicht kritisch hinterfragt werde. Diese Kritik kann allerdings nur auf den bioethischen Diskurs im engeren Sinne zutreffen und zeigt, dass dort die sozialethische Relevanz bioethischer Problemfelder immer noch zu wenig reflektiert wird.

Auf dieser Basis kann Greta Wagner auch die gängigen biopolitischen Diskurse verorten, die Neuroenhancement im Anschluss an Foucault in einer Bipolarität zwischen selbstbestimmter Lebensführung und der Instrumentalisierung des Körpers zum Zwecke der Vorteilsverschaffung im omnipräsenten Wettbewerb der kapitalistischen Leistungsgesellschaft erscheinen lassen.

Der Bedeutung von Leistung und Authentizität im globalisierten Kapitalismus widmet sich die Verfasserin im anschließenden gesellschaftstheoretischen Kapitel. Darin erscheint Neuroenhancement einerseits als notwendige Ertüchtigung für die Erfordernisse des kapitalistischen Wettbewerbs, könnte aber andererseits auch als „widerständige Praxis“ gedeutet werden, „weil Konsumenten mehr Freizeit durch pharmakologisch beschleunigtes Arbeiten haben“ (134) und mit „inauthentischen“ Mitteln den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft begegnen, sich authentisch darstellen zu müssen.

Auf dieser Basis wertet die Verfasserin dann die von ihr zwischen Herbst 2010 und Frühjahr 2011 mit sechs Gruppen von Studierenden in Frankfurt am Main und New York geführten Diskussionen sowie zusätzlich dreizehn Einzelinterviews mit KonsumentInnen aus, die interessante Einblicke in Bewertungsmuster sowie Motive, Erwartungen und Rechtfertigungen der Betroffenen auf der Basis jeweils unterschiedlicher gesellschaftlicher Vorstellungen in Deutschland und den USA ergeben. Als Ergebnis der Gruppendiskussionen mit Studierenden, die eher als Beobachter fungieren und nur in Einzelfällen leistungssteigernde Medikamente selbst konsumieren, unterscheidet die Verfasserin vier Typen normativer Orientierung:

  1. Der erste begreift Neuroenhancement als heteronomes, letztlich selbstentfremdendes Nachgeben gegenüber dem Druck der Wettbewerbsgesellschaft, welcher in Frankfurt als Problem der Eliten, in New York hingegen der unteren Schichten interpretiert wird.
  2. Der zweite versteht kognitive Selbstoptimierung als freiwilliges, selbstbestimmtes Handeln, das, außer bei Adoleszenten, nicht zu beanstanden sei, sondern sogar selbstbefreiend wirken könne.
  3. Der dritte, nur bei deutschen Studierenden nachgewiesene Typ begreift Neuroenhancement als gezielt eingesetztes, wettbewerbsverzerrendes und damit illegitimes Doping, während
  4. der vierte, bei New Yorker Studierenden weit verbreitete Typ pharmakologische Leistungssteigerung als legitime Erfolgsstrategie zum Ausgleich herkunftsbedingter Benachteiligungen interpretiert.

Diese Unterschiede artikulieren sich auch im Konsumverhalten, das in den USA sehr viel weiter und als Gruppenphänomen verbreitet ist als in Deutschland, wo der Konsum immer noch ein stark rechtfertigungsbedürftiges und letztlich individuelles Ereignis darstellt. Daraus zieht Greta Wagner den Schluss, dass Studierende in den USA eher bereit seien, für den Erfolg jedes Mittel in Kauf zu nehmen, während Studierende in Deutschland eher vom Prinzip fairer Leistungsgerechtigkeit ausgehen. Dahinter stehe eine eher liberal-individualistische Haltung gegenüber sozialen Ungleichheiten in den USA, die den Einzelnen herausfordern, sich – mit welchen Mitteln auch immer – noch mehr anzustrengen, wohingegen Studierende in Frankfurt stärker eine sozialkritische Haltung gegenüber der sich selbst potenzierenden und den Einzelnen letztlich bedrohenden Wachstums- und Wettbewerbslogik der Gesellschaft einnehmen. Dahinter werden auch unterschiedliche konfessionelle Prägungen ansichtig, die in den USA auf eine Dominanz des calvinistischen Leistungsethos zurückzuführen sind.

Weiter konkretisiert werden diese Ergebnisse in sieben Einzelinterviews mit Studierenden, die sich explizit zum Konsum leistungssteigernden Medikamente bekennen. Bei diesen unterscheidet die Verfasserin drei Typen von Praktikern:

  1. Die bedingten Konsumenten,
  2. die avantgardistischen Konsumenten und
  3. die enttäuschten Konsumenten.

Erstere sind grundsätzlich offen für Kritik an Selbstoptimierung und finden Konsum nur dann gerechtfertigt, wenn er in zeitlicher, räumlicher oder sachlicher Hinsicht begrenzt wird. Für die Avantgardisten ist Neuroenhancement Ausdruck eines technik- und modernitätsaffinen selbstbestimmten Lebens, welches den aktuellen gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen weit voraus sei. Und die Enttäuschten haben mit dem Konsumieren ganz aufgehört, weil sich entweder die erwünschte Wirkung nicht oder nicht im erwarteten Umfang eingestellt hat oder sie in Identitätskonflikte geraten sind.

So ergibt sich für die Autorin am Ende ein ambivalentes Gesamtbild: Kognitive Selbstoptimierung erscheint darin als letztlich gescheiterter Versuch, mit den zunehmenden Leistungsanforderungen der Gesellschaft umgehen zu müssen.

Fazit

Die Leser erwartet eine methodisch anspruchsvolle, detail- und kenntnisreiche Studie, die eine wichtige Forschungslücke schließt. Es ist ein äußerst lesenswertes Buch, das sowohl aus der Innenperspektive von KonsumentInnen als auch aus der Außenperspektive Licht in eine zwar bekannte, aber wenig diskutierte Praxis des Studienalltags bringt, indem es uns Rechtfertigungsgründe, Motive und Erwartungen der Konsumentinnen und Konsumenten von leistungssteigernden Medikamenten überhaupt verstehen und in ihrer gesellschaftlichen Relevanz einordnen lässt. Dadurch finden auch Vertreter anderer Disziplinen, wie der Ethik, wichtige Anknüpfungspunkte für weitergehende Diskurse zur kognitiven Selbstoptimierung im engeren Sinne ebenso wie zu den sozialethischen Fragen nach den zugrundeliegenden Gesellschaftsmodellen und den Möglichkeiten zu deren menschengerechterer Gestaltung. Empfehlenswert ist das Buch für alle, die sich wissenschaftlich mit dem Thema ‚Neuroenhancement‘ im weiteren Sinne beschäftigen.

Rezension von
Prof. Dr. Markus Babo
Katholische Stiftungshochschule München
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Es gibt 5 Rezensionen von Markus Babo.

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ISSN 2190-9245