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Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 29.03.2018

Cover Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie ISBN 978-3-8252-4818-5

Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. UTB (Stuttgart) 2017. 2. überarbeitete und aktualiaierte Auflage. 192 Seiten. ISBN 978-3-8252-4818-5. D: 15,99 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 21,50 sFr.

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Thema

Das Buch ist eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Utopie. Ihr Anspruch besteht darin, „die wichtigsten, innovativsten und originellsten Entwürfe“ zu porträtieren. (S. 7)

Autor

Thomas Schölderle, Jahrgang 1975, ist Politikwissenschaftler, Publikationsreferent der Akademie für politische Bildung in Tutzing und Dozent an der Hochschule für Politik München.

Aufbau und Inhalt

Bei der Deutschen Nationalbibliothek lässt sich das vollständige Inhaltsverzeichnis einsehen.

Die Einleitung (erstes Kapitel) gibt eine Vorstellung von der Vielfalt der Utopiebegriffe und unterscheidet drei Typen, den klassischen, den sozialpsychologischen (besser wohl: philosophisch-anthropologischen) und den totalitarismustheoretischen Utopiebegriff. Schölderle orientiert sich primär am „klassischen“ Utopiebegriff, wobei der „Utopia“ von Thomas Morus eine Schlüsselrolle zukommt. Auf sie werden die meisten behandelten Entwürfe vergleichend bezogen, um ihre Zugehörigkeit zur Gattung „Utopie“ oder etwaige formale Neuerungen zu beurteilen. Als Utopien gelten „rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind.“ (S. 17) Hervorgehoben werden die Merkmale der Sozialkritik (gegenüber bloßen Wunschvorstellungen), der Innerweltlichkeit (gegenüber der Eschatologie) und der normative Anspruch (gegenüber Prognose und Futurologie).

Der Konzeption entsprechend beginnt die Historie mit der „Utopia“ des Thomas Morus. Sie ist für Schölderle nicht nur Namensgeber, sondern auch so etwas wie der Archetyp der Utopie. Dieses zweite Kapital ist mit 30 Seiten die umfangreichste Einzeldarstellung. Schölderle hebt die Rationalität des Gegenentwurfs hervor, sein besonderes Interesse gilt dem Problem der Politikberatung und der Religionspolitik, dem Bildungsbegriff und den literarischen Stilmitteln. Er sieht bei Morus eine „prinzipielle Relativierung des Bestehenden“, aber „ohne eine Realisierungsdimension.“ (48) Trotz der hohen Schätzung der „Utopia“ ist Schölderles Darstellung nicht frei von tendenziösen Ungenauigkeiten. So spricht er von einer „staatlich geförderten Euthanasie“ bei den Utopiern, verschweigt aber das Entscheidende: „Gegen seinen Willen aber schaffen sie niemanden beiseite, vernachlässigen auch um der Weigerung willen in keiner Weise die Pflege des Kranken.“

Das dritte Kapitel behandelt die Erinnerungen eines „goldenen Zeitalters“ (Hesiod, Ovid, die hebräische Bibel) sowie Entwürfe der Antike (Iamblichos, Platon, Plutarchs „Lykurg“) und des Mittelalters (Joachim di Fiore). Eine Schlüsselrolle wird der „Politeia“ Platons zugewiesen. Auch hier wird (mit etwas gewundenen Worten) der Realisierungsanspruch abgewiesen, wobei die sizilianischen Reisen Platons keine Erwähnung finden. Das Kapitel schließt mit Darlegungen zu Thomas Münzer ab, in denen der Bauernkrieg für den christlichen Adel noch einmal gewonnen wird.

Das vierte Kapitel behandelt drei Utopien des 17. Jahrhunderts: Campanellas „Der Sonnenstaat“, „Christianopolis“ von Johann Valentin Andreae sowie Francis Bacon's „Nova Atlantis“. Hier wäre vielleicht eine stärkere Akzentuierung des Prinzips der Naturbeherrschung möglich gewesen, das eine historische Novität des bürgerlichen Zeitalters darstellt und von Bacon nicht nur exemplarisch formuliert, sondern in vielen Einzelheiten, etwa der Schaffung neuer Arten, ausgestaltet wird.

Das fünfte Kapitel beginnt mit einem kurzen Vergleich von Naturrecht und Sozialutopie, ohne auf die Schriften Blochs, in denen das Verhältnis beider Denkformen einen zentralen Platz einnimmt, wenigstens zu verweisen. Sodann werden die Entwürfe von Winstanley (während des englischen Bürgerkriegs) und Gabriel de Foigny (17. Jahrhundert), von Johann Gottfried Schnabel und Louis-Sebastien Mercier (18. Jahrhundert) behandelt. Insbesondere die Einbeziehung Winstanley's ist verdienstvoll.

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit der Utopie im Zeitalter der Industrialisierung. Schölderle stellt eine „eine deutlich gesteigerte Verwirklichungsintention“ (S. 111) fest und behandelt Saint Simon, Robert Owen, Marx und Engels sowie William Morris. Nur am Rande erwähnt wird Charles Fourier, an dem Adorno den „Willen, die Vorstellung des besseren Zustands zu konkretisieren“ und eine „rücksichtslose Kritik an Versagung“ gerühmt hatte. Die Darstellung des Themas „Marxismus und Utopie“ ist eindeutig inkompetent, hantiert mit halbverstandenen Reizwörtern und bedient sich des Nazi-Philosophen Hans Freyer. Nach Schölderle sind Präzisierungen des „kommunistischen Zukunftsreichs“ bei Marx und Engels „die Folge theoretischer Inkonsequenz“. (123 f.)

Im siebten Kapitel wendet sich Schölderle zunächst den schwarzen Utopien zu, als deren einflussreichste Version George Orwells „1984“ gelten darf. Sodann werden Ernest Callenbachs „Ökotopia“ (engl. 1975) und Marge Peircy's „Women on the Edge of Time“ (1976) besprochen. Das achte Kapitel schließt als „Schlussbemerkung“ das Buch ab. Schölderle betont erneut die zentrale Stellung, die Morus' Utopie für ihn hat, räumt aber ein, dass sich „Utopisches“ nicht nur in literarisch-konstruktiven Fiktionen findet. Ferner verweist er auf dystopische Themen der Gegenwart, die mit Medizintechnik (Juli Zehs „Corpus delicti“) und Informationstechnologie (Dave Eggers „The Circle“) verbunden sind.

Diskussion und Kritik

Schölderles Versuch, den Utopiebegriff gegen eschatologische und futurologische Vorstellungen abzugrenzen, scheint mir durchaus legitimierbar. Etwas anders sieht es schon mit der Abgrenzung gegen die Vorstellungen eines goldenen Zeitalters oder Paradieses aus, in denen sich auch Erinnerungen einer klassenlosen Gesellschaft niederschlagen haben. Über Jahrhunderte waren sie eine Quelle, aus der sich die Kritik der sozialen Ungleichheiten gespeist hat. Überhaupt wäre es vielleicht doch sinnvoll gewesen, die Verortung der utopischen Literaturen in den sozialen Konflikten ihrer Entstehungszeiten wenigstens als Problem klarer zu akzentuieren. Wenn man etwa die verzweifelte Lage und den Widerstandswillen der Bauern zur Zeit Münzers nicht in Erwägung zieht, erscheinen dessen Äußerungen, zumal in Schölderles Auswahl, bloß als Raserei, was sie zum Teil freilich auch sind. Die Ausblendung der sozialen Konfliktgeschichte macht sich insbesondere bei der Behandlung des 19. Jahrhunderts nachteilig bemerkbar.

Eine kritische Diskussion kann dem Ganzen im gegebenen Rahmen sicher nicht gerecht werden. Ich beschränke mich daher auf zwei Aspekte der „Utopia“ des Thomas Morus und auf das Thema „Marxismus und Utopie“.

Die Eigentumskritik der „Utopia“ hätte eine objektive Darstellung verdient, aber sie wird mit ein paar Bemerkungen von oben herab erledigt. Tatsächlich ist sie für Morus so wichtig, dass sie am Ende beider Teile der Schrift pointiert zum Ausdruck kommt. Die Alternative, das Gemeineigentum, nimmt im fiktiven Reisebericht den zentralen Platz ein. „Utopia“ ohne Kriegspolitik oder aktive Sterbehilfe wäre möglich, ohne Gemeineigentum fehlt ihr das Herz. Es ist mit Themen verbunden, die Schölderle selbst in den Fokus rückt: mit dem Bildungsprimat und der Religion. Die Reduktion der Arbeitszeit auf sechs Stunden, welche Voraussetzung einer breiten Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst sein soll, wäre nach Morus ohne die Ausschaltung des Müßiggangs auf Kosten anderer unmöglich. Und die Aufnahme des Christentums bei den Utopiern wird gerade dadurch erleichtert, dass sie hören, bei den ersten Jüngern Jesu habe das Privateigentum keine Geltung besessen. Die Vorbehalte des Autors Morus zu den geschilderten fiktiven Verhältnissen und zu den Argumenten seiner Hauptfigur sind freilich nicht zu übersehen. Dass sie, wie Ernst Bloch gemeint hat, bloß vorgeschützt seien, um einer sonst unvermeidlichen Verfolgung zu entgehen, ist sehr unwahrscheinlich, wenn man den biographischen Kontext und Morus' gesellschaftliche Stellung vor Augen hat. Im Hinblick auf die Kritik des Privateigentums brauchen wir keine Kehrtwende in Morus' Leben anzunehmen – zu offensichtlich sind ihm die von ihm selbst gedachten Gedanken unheimlich. Bleibt die bemerkenswerte Tatsache, dass ein Autor in der Form eines Gedankenexperiments Verhältnisse dargestellt und Argumente formuliert hat, die objektiv, unabhängig von seiner persönlichen Position, als eindrucksvoll und stark gelten können. Insofern beruft sich die marxistische Tradition nicht zu Unrecht auf die „Utopia“, ohne dass wir eine „kommunistische Programmatik“ annehmen müssen, hinter der Morus persönlich gestanden hätte.

Die religionspolitischen Verhältnisse in Utopia sind durch ein allgemeine Toleranz gekennzeichnet, von der nur die Leugner der persönlichen Unsterblichkeit ausgenommen sind. Solche Leute können keine Ämter versehen, sind verhasst und verachtet. Dennoch darf man das Lob der Toleranz und die Ablehnung eines missionarischen Fanatismus (vielleicht als Reaktion auf Nachrichten aus der neuen Welt) nicht unterschätzen. Der einzige Utopier, der wegen religiöser Fragen bestraft, nämlich verbannt worden sei, ist ein frisch getaufter Christ gewesen, der „unser Glaubensbekenntnis über alle anderen erhob und diese in Grund und Boden verdammte“. Im Unterschied zum Gemeineigentum der Utopier gibt es bei ihrer Religionspolitik keine auktoriale Distanzierung. Hier muss die Reformation, die kurz nach Erscheinen der „Utopia“ begann, eine veritable Abkehr von der vernunftbestimmten Bejahung religiöser Pluralität gebracht haben. Schölderles Insistenz darauf, dass Utopia in Morus' Augen ein heidnischer Staat sein müsse, wirft beunruhigende Fragen auf: Sollten Toleranz und die Verurteilung des missionarischen Fanatismus als unchristlich gelten? Oder soll damit präventiv des Autors späteres Agieren, das von Schöderle nicht erwähnt wird, einer immanenten Kritik entzogen werden? Morus jedenfalls hat in späteren Jahren, als Kanzler Heinrichs VIII, die protestantischen Dissidenten gnadenlos verfolgt, viele zu Tode gebracht und sich dessen gerühmt. Ein merkwürdiger Heiliger, der sich unvorteilhaft von seinen Utopiern unterscheidet. (Vgl. den Beitrag von Norbert Elias in: Utopieforschung, 1985, hg. von W. Voßkamp)

Als zweite Problemstelle möchte ich den Abschnitt „Marxismus und Utopie“ herausgreifen. Er ist kurz geraten, was sich rechtfertigen lässt. Nicht zu rechtfertigen ist die Einschätzung der Rolle von Utopie bei Marx. Für eine adäquate Beurteilung ist zweierlei zusammenzuhalten: Erstens die Kritik an den utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts, welche gleichwohl durchaus geschätzt werden. Zweitens die Würdigung der Zukunftsvorstellungen im marxschen Werk bis hin zu der von Bloch gern zitierten Versicherung Lenins („Was tun?“), dass Träume von dem, was zu verwirklichen wäre, auch in der revolutionären Politik (wie in Wissenschaft und Kunst) unerlässlich sind. Schölderle hält den Schlüssel zum Verständnis der marxschen Aufgabenstellung in der Hand, weiß ihn aber nicht zu gebrauchen. Wenn Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ schreiben, Kommunismus sei kein Ideal, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, verteidigen sie die Autonomie und Spontaneität der Arbeiterbewegung, über die sie, wie man heute feststellen kann, freilich auch Illusionen hegten. Weil es um die Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft geht, nicht um ein bloßes Gedankenexperiment, dürfen die geschichtlichen Akteure nicht durch pseudokonkrete Konstruktionen vom Schreibtisch aus eingeengt werden. Jedoch gibt es klare, aus der Kritik bestehender Verhältnisse und der Tradition der Arbeiterbewegung hervorgegangene, begriffliche Bestimmungen der Zukunft als einer Gesellschaft „genossenschaftlicher“ Produktion ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln und ohne Staat. Vor allem muss man in der marxschen Zukunftsvorstellung die Tradition des humanistischen Bildungsideals von Morus bis Humboldt erkennen, die Marx in Begriffen wie der „Aneignung der Produktivkräfte durch die Individuen“ oder „Selbstverwirklichung“, „Universalität der Bedürfnisse und Fähigkeiten“ oder „menschliche Kraftentwicklung als Selbstzweck“ zum Ausdruck bringt. Diese Zielbestimmung ist keineswegs ephemer, sondern der Glutkern der marxschen Kritik an der Entfremdung. Eine der ergiebigsten Quellen für Marxens Ansichten über den Weg zur Realisierung des utopischen Ziels ist die Schrift über den „Bürgerkrieg in Frankreich“, in der die die politischen Institutionen der Pariser Commune von 1871 anlyisiert werden. Man muss, so Marxens Überzeugung, die wirklichen Auseinandersetzungen kennen und zur Erfahrung bringen; nur historische Erfahrung zeigt, wie sich das Neue realisieren und konkretisieren lässt. Die Probleme der marxschen „Utopie“ lassen sich jedenfalls erst dann angemessen benennen und diskutieren, wenn man ihre komplexe, aber auch nicht besonders geheimnisvolle Grundkonzeption verstanden hat. Es geht um die praktische Konkretisierung der begrifflich bestimmten Utopie, die Utopie bleibt im Sinne der Zukunftsvorstellung eines historisch Neuen, das verpflichtenden Charakter hat.

Fazit

Das Buch Schölderles ist eine Überblicksdarstellung, die eine gute Vorstellung von der Vielfalt des Gegenstands gibt. Da die Auswahlkriterien nicht restlos zwingend sind, empfiehlt sich eine Ergänzung durch eine alternative Darstellung, etwa die von Alexander Neupert-Doppler: Utopie. Vom Roman zur Denkfigur, 2015. Schölderles Buch ist gut geschrieben und gleichwohl anspruchsvoll, aber nicht immer inhaltlich zuverlässig. An wichtigen Stellen wäre eine sozialhistorische Kontextualisierung wünschenswert gewesen. Problematisch ist nicht zuletzt, dass der Autor den „Realisierungsanspruch“ der Utopie zu verkleinern und auszuschalten bestrebt ist. Wieweit sich dies mit dem „normativen Anspruch“ vertragen kann, den Schölderle den von ihm anerkannten Utopien zuschreibt, bleibt unklar. Das Spannungsverhältnis von Utopie und Verwirklichung gehört zum Utopiebegriff selbst.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 32 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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ISSN 2190-9245