Marc Rölli, Roberto Nigro (Hrsg.): Vierzig Jahre „Überwachen und Strafen“
Rezensiert von Arnold Schmieder, 10.10.2017
Marc Rölli, Roberto Nigro (Hrsg.): Vierzig Jahre „Überwachen und Strafen“. Zur Aktualität der Foucault´schen Machtanalyse. transcript (Bielefeld) 2017. 227 Seiten. ISBN 978-3-8376-3847-9. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband geht auf eine Tagung mit dem Titel zurück: „Die Machtanalyse nach Foucault – 40 Jahre Überwachen und Strafen“. Diese Jubiläumsveranstaltung fand bereits im Jahr 2015 in Wien statt. Die meisten der im Band versammelten Beiträge basieren auf Vorträgen anlässlich dieser Veranstaltung.
Thema
In insgesamt elf Beiträgen, die Einleitung der Herausgeber eingeschlossen, werden Foucaults theoretischen Ansätze, häufig unter Bezugnahme auf weitere seiner Werke, gewürdigt und zugleich kritisch reflektiert, um ihre Aktualität auszuloten. Dabei geht es wesentlich um Foucaults Begriff der Disziplinierung und auch das Verhältnis von Bio- und Disziplinarmacht, woran sich Fragen um Veränderungen der Erscheinungsformen von Macht anschließen. Zur Debatte steht an, „wie die aktuellen Machtverhältnisse beschaffen sind, die ‚uns‘ (wen genau?) in ihrem Bann halten.“ (Rölli, Nigro; S. 12)
In der Parenthese scheint auch der Kern von Disziplin als „Machtform“ auf, „aus den Körpern Zeit und Arbeit herauszuholen und auf diese Weise die Subjekte allererst zu konstituieren.“ (ebd. S. 7) Insofern steht die Frage nach spezifischen Differenzen in diesem Konstitutionsprozess an (die im Band nicht ausgespart bleibt), wobei allererst gilt, dass die „Genealogie der modernen Subjektivität und die Frage nach der Genese des Kapitalismus (sich) überschneiden.“
„Regierungspraktiken“ werden hier thematisch wie ebenso solche „populären (und auch ‚verschwindend kleinen‘, alltäglichen) Praktiken“, die, so mit einem Zitat von Michel de Certeau, „mit den Mechanismen der Disziplinierung“ spielen und sich ihnen nur anpassen, „um sie gegen sich selber zu wenden“, was die Frage aufwirft, welche Handlungsweisen „ein Gegengewicht zu den stummen Prozeduren“ bilden, „die die Bildung der soziopolitischen Ordnung organisieren“, dann ist dieser zugleich Einwand gegen Foucault zu „bedenken“. In Abstand zu klischeehaften Vorwürfen, Foucaults Analysen würden „Aufklärung und Kritik auf dem Altar der Macht“ opfern (ebd. S. 9), sind im Band auch die kritischen Erweiterungen resp. Diskussionen des Machtbegriffs seitens Deleuze, der den „Begriff der Kontrolle stark gemacht“ hat, sowie Latour aufgenommen, der methodische Zweifel anmeldete und zudem bestritt, wir seien je modern gewesen. (ebd. S. 10)
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis lässt sich bei der Deutschen Nationalbibliothek einsehen.
Petra Gehring betitelt ihren Beitrag „Das invertierte Auge“ und bezweifelt, dass es in der Analyse von Subjektivierungsformen unter gegebenen Machtverhältnissen hinreichend ist, auf die Begriff Panopticon und Panoptismus in der Weise zurückzugreifen, wie es vielfach in Anlehnung an Foucault geschieht. Dabei kreist sie um den Foucaultschen Satz, den sie ihrem Beitrag als Motto voranstellt: „Derjenige, welcher einem Sichtfeld ausgesetzt ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er schreibt das Machtverhältnis in sich ein, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ Das nimmt die Verfasserin auf und diskutiert diese Sicht auf „Sichtfeld“ dahingehend, dass „Überwachungs-, Kontroll-, Ausforschungs- und Subjektivierungskonstellationen (…) jeweils epochenscharf“ rekonstruiert werden müssen und der Panoptismus daher kein „Universalschlüssel zum Verständnis digitaler Herrschaftstechnologien“ ist. Zudem fehle in der Diskussion um die Disziplinargesellschaft „eine ökonomische Definition der Disziplin“, der Blick auf „Effektivität und Effizienzgewinne“. Heutige Technologien des Typs und von der „Tiefe“ eines „prüfenden Zugriffs“ (u.a. prädikative genetische Test) setzen auf „unsichtbar vollzogene Registrierung wie auch auf ungewusst mitlaufende (…) Datengewinnungsverfahren.“ Auf das „Gesehenwerden“ sollte man sich im Hinblick auf die Bestimmung moderner Subjektivität nicht „fixieren: Leistungsgebundene Selbstfestlegung, angstvoller Selbstgenuss, Selbstexploration und Ich-Erzählungen sind für eine Analytik der Subjektivierung in der Digitalgesellschaft insgesamt sicher bedeutsamer als das panoptische Phänomen.“ (S. 40 f.)
Andreas Gelhard beschäftigt sich unter dem Titel „Entgrenzung des Examens“ mit Foucaults Analyse von Prüfungstechniken und zeigt zunächst, wie sich Formen des Wissenserwerbs und der Weitergabe von Wissen mit Formen der Machtausübung verschränken. Der Verfasser greift auf Kant zurück und zitiert, durch Zeugung würden wir „eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustand zufrieden zu machen.“ Insofern, so der Autor, bedürfte der Skandal, ohne Einverständnis in die Welt gesetzt worden zu sein, der „Wiedergutmachung“, und, weil das Kind in Kantschem Sinne „zu freiem Handeln noch nicht fähig“ ist, sei Erziehung als „ein Geschehen zu betrachten, das darauf ausgerichtet ist, sich selber überflüssig zu machen, und zwar im ‚pragmatischen‘ Sinne“ (mit einem Kant-Zitat), damit das Kind „künftig sich selbst erhalten und fortbringen könne, als auch moralisch, weil sonst die Schuld“ der „Verwahrlosung auf die Eltern fallen würde, es zu bilden; alles bis zur Zeit der Entlassung (emancipatio).“ Da der Moment der Entlassung als normatives Ideal in Kants Programm der Aufklärung fungiere, der Philosoph „den Zustand der Unmündigkeit als einen auf Dauer gestellten Zustand der Erziehung“ begriffen habe, spreche Foucault diesbezüglich „mit einer Ironie, die man kaum als milde bezeichnen kann, von einem System der éducation totale.“ (S. 60 f.)
Gerhard Unterthurner greift in seinem Beitrag „Die Welt ist eine große Anstalt“ zentrale Begriffe Foucaults auf, Exklusion und Ausschluss, um darauf aufmerksam zu machen, dass Inklusionen nicht ‚total‘ gelingen können, sondern vielmehr das Augenmerk (auch) darauf zu richten sei, dass „(d)ie ‚postdisziplinäre Ordnung‘ (…) sich dabei von der Verwaltung von einzelnen gefährlichen Individuen zur Verwaltung von Risikogruppen“ verlagere. Der Verfasser greift Vogls Titel der „Lebende(n) Anstalt“ im Sinne Kafkas auf und argumentiert, dass die auf die „Durchdringung aller Lebensverhältnisse zielende Sicherheitsmacht“ sich zur „große(n) Inklusionsmaschine mit flexiblen Grenzen“ und eben „flexible(m) Management“ entwickelt habe, wobei diese „lebende Anstalt“ auch und noch „mit rigiden Grenzziehungen“ und „rechtsfreien Räumen“ (z.B. Guantanamo) operiere. Dabei, so der Schluss des Verfassers, scheint diese „lebende Anstalt“ in „Bezug auf die neoliberale Finanzialisierung der Ökonomie und der Ausweitung des Schuld(en)-Begriffs (…) auch wieder Züge einer ‚Buß- und Besserungsanstalt‘ anzunehmen.“ (S. 92 ff.)
Maria Muhle nimmt unter der Überschrift „Il y a de la plèbe“ das Infame zwischen Disziplin und Biopolitik in den Blick, wie sie im Untertitel ankündigt. Die Plebs ist anders als die Kategorie Proletariat kaum greifbar, entgeht auch dem Netz der Machtbeziehungen – und daher ist es auch nicht möglich, dass dem Plebejischen etwas entwächst, was im Sinne eines historischen Subjekts zur Geschichtsmächtigkeit drängen könnte. In fünf Argumentationsschritten und immer eng an Foucault kommt Frau Muhle zu dem Schluss, dass durch „quasi-mimetische Aneignung Unterbrechungen und Entwendungen in den Machtstrukturen“ ermöglicht sind, dass „skurrile Effekte produziert“ werden „und damit je ein Überschuss“. Sie betont dabei, „dass auch das aufgeklärteste Subjekt immer schon Resultat von Machttechniken ist, die jedoch andererseits die Praktiken und Strategien der Gegenmacht auch nie vollkommen neutralisieren.“ Auch diese Spur u.a. der „Aufruhren des Plebejischen“ könne man in Foucaults Werk folgen und müsse sie weiterdenken.
Marc Rölli wendet sich dem „Macht-Wissen-Komplex“ zu und rekonstruiert immanenten Beziehungen. Dabei werden Disziplin und Bio-Macht rückbezogen auf anthropologische Argumentationsfiguren wie sie, gründend in Philosophie, einem idealistischen und positivistischen Denken entwachsen sind und sich auf Wissenschaften in der Spannbreite von u.a. Medizin bis Sozialanthropologie ausgewirkt haben. Hier werden Begriffe äußerer wie innerer Normalität generiert und auch über Narrative transportiert, wobei, gemessen „an etablierten, diskursiv und machtförmig konstituierten Individualisierungen, (…) heute die Normalisierungsunfähigkeit das Merkmal eines Bevölkerungsteils (ist), der der anthropologischen Diskriminierungslogik zum Opfer fällt.“ So fungiert auch „Seele als Korrelat einer Machttechnik der Strafjustiz“ (S. 15), worauf er bereits in der Einleitung zusammen mit Nigro hinweist, ein Hinweis auf diskursiv untermauerte Techniken der Normalisierung, wobei gleich in dieser Vorstellung seines Beitrages auf den wichtigen Punkt hingewiesen wird, dass sich mit dieser Normalisierung bis heute „Machtverhältnisse“ verbinden, „die sich an der kapitalistischen Wachstumslogik bzw. entsprechenden Krisenerscheinungen und den mit ihnen verbundenen Zuschreibungen von Effektivität ablesen lassen, zum Beispiel auf einer Skala von statistisch definierten Normalitätsklassen.“ (ebd.) Was und wer abnormal ist, wird insofern interessiert im „Raster der anthropologischen Charakteristik“ konkretisiert, wobei der dann auch hervorhebt, dass auch „der Ausschluss internalisiert“ wird: „Ein verfemter Teil steckt in uns, der unfähig ist, sich zu normalisieren, das heißt schöner, gesünder und erfolgreichen zu werden.“ (S. 138)
Walter Seitter thematisiert anthropologische Elemente im Prozess der Individualisierung und legt die Foucaultsche Elle an Otto Weininger und dessen Schrift „Geschlecht und Charakter“ von 1903 an, um (vor allem) zum einen den Bezug zu einem ‚internen Rassismus‘ herzustellen und zum anderen auf inhaltliche Ausrichtung und Funktion gerichtsmedizinischer Gutachten hinzuweisen, die häufig (was inzwischen selbst massenmedial ins Gerede gekommen ist) den Richterspruch präsumieren bis substituieren, wo „der Psychiater in die Rolle des Richters“ aufsteigt. (S. 146) Dem Verfasser geht es so laut Titel um „Menschenformen“, d.h. um „(u)nterschiedliche Menschenunterscheidungen“, wie im Untertitel konkretisiert. Dem ist jener „Neo-Rassismus“ (Foucault), ein ‚interner‘, implementiert, „der sich gegen Individuen der eigenen Gesellschaft richtet, die ihren ‚Zustand‘ oder ihr Stigma weitervererben könnten, und vor denen eben diese Gesellschaft geschützt werden müsse.“ (S. 147) An Weininger zeigt Seitter exemplarisch auf, dass und wie er zum einen die Frauenbewegung seiner Zeit in ihrer Wirksamkeit etikettiert, nämlich als „Anzeichen dafür, dass mit den Frauen überwiegend geistlose Wesen die Kultur der Gegenwart bestimmen.“ Wo berühmte Frauen ins Spiel kommen, in der historischen Breite von Sappho bis Blavatsky (frühe Esoterikerin, die, was nicht verbürgt ist, als Mann verkleidet in den Truppen Garibaldis mitgekämpft haben soll), argumentiert Weininger, dass nur ein solcher Frauentypus, „nämlich der stark männlich geprägte sich tatsächlich zu geistigen Leistungen aufschwingen könne“ (S. 150): „Nur der Mann in ihnen ist es, der sich emanzipieren will.“ (Weininger) Da Weininger ‚den‘ Juden mit ‚dem‘ Weib auf eine qualitativ gleiche Stufe stellt, setzt er mit seiner „Theorie-Gewalttat“ aggressiv auf eine Überwindung beider, die er als „Kulturkritik“ kaschiert, die aber eine „anthropologisch-ontologische Entgleisung“ ist (S. 155), so der Verfasser, wobei der Hinweis der Herausgeber in der Einleitung nur zu unterstreichen ist, in Aufnahme dieses Beitrages die „aktuell neu aufkommenden rassistischen Vorurteile im Kontext der sog. ‚Flüchtlingskrise‘ (…) kritisch“ zu identifizieren. (S. 17)
Martin Saar drängt in seinem Beitrag „Die Form der Macht“ auf eine kritische Machtanalyse im Anschluss an deren historisch-deskriptive Einkreisung. Foucault testiert er, kein unkritischer oder affirmativer Denker gewesen zu sein, und ob er als ein „affirmativ-kritische(r) Denker“ zu charakterisieren sei, speist er durch seinen Hinweis in die Diskussion ein, dass „dessen Analyse zugleich Kritik und dessen Kritik zugleich Überschreitung, oder, anders gesagt, dessen Destruktionen zugleich Konstruktionen sind. Unkritisch wäre diese Position nur, wenn die ‚Lösungen‘ des Machtproblems von irgendwoher kämen, aber nicht aus (der) Macht selbst. Sie kommen aber aus demselben Stoff, aus demselben Kraftfeld wie das, was sie bekämpfen, ersetzen, überschreiben.“ Es geht also um einen Schritt im Sinne einer kritischen Bewegung, der aus einem „Innenraum“ kommt und ein Schritt in ein „Offenes“ ist, „das kein ganz Anderes, sondern ein Anders-sein-Können des Selbst ist.“ (S. 173)
Roberto Nigro thematisiert in seinem Beitrag „Vom Macht-Wissen-Dispositiv zum Wahrheitsregime“ Berührungspunkte bis Überschneidungen von Foucault und Marx und rekapituliert dabei kritisch den (inzwischen so breit wie kontrovers diskutierten) marxistischen Begriff des Klassenkampfes, ruft den Einfluss neuerer Nietzsche-Rezeption nicht nur im Hinblick auf Foucault ins Gedächtnis, macht darauf aufmerksam, dass eine Machtanalyse die Fragen um Produktionsverhältnisse und Ausbeutung nicht aussparen kann. Nigro hebt dabei die Positionen Foucaults hervor, demnach das Proletariat seinen Kampf für gerecht halte und darum führe, „weil es zum ersten Mal in der Geschichte selbst die Macht ergreifen“ wolle (zit. S. 194), worin der Verfasser – unter dem Strich – Foucaults „philosophische Geste (…) im Versuch“ identifiziert, „die Nicht-Notwendigkeit jeglicher Macht systematisch zur Darstellung zu bringen.“ (ebd.) Dabei bezieht er sich auf das Wort von Foucault, „dass keine Macht, welche es auch sei, mit vollem Recht akzeptierbar und absolut definitiv unvermeidlich ist.“ (zit. S. 194 f.)
„Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten“ lautet der Untertitel, das Andreas Reckwitz unter „Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen“ behandelt. Ausgangspunkt ist, dass „die Sichtbarkeitsordnungen der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft“ nicht mehr den „Mechanismen des disziplinären Blicks“ folgt (S. 197), dass sie dank ihrer Transformationsprozesse nicht mehr (nur) durch ein „disziplinäre(s) Blickregime“ eingehegt ist (S. 211), was, so die Herausgeber, in einer Fragestellung zu bündeln ist, deren Beantwortung eine evidente Veränderung der Sichtbarkeitsordnungen unter eihergehender „Transformation des Sozialen“ erhellt. (S. 18) Reckwitz verweist auf eine „komplexe Gemengelage von Sichtbarkeitsordnungen“ und hebt die „Entstehung einer – medientechnologisch wie ökonomisch gestützten – Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten“ hervor, „die immer wieder durch eine Politisierung der Sichtbarkeit herausgefordert wird.“ Die Individuen würden „genötigt, nach Sichtbarkeit zu streben, um als Individuum respektive als Kollektiv sozial existieren zu können.“ Damit ist ein altes „Ideal“ ad acta zu legen, nämlich jenes, „sich dem aufdringlichen, permanenten Blick würdevoll“ entziehen zu können, was „in der Spätmoderne nur blankes Unverständnis“ hervorriefe. (S. 211)
Joseph Vogl kommt (fürwahr) last, not least auf das „Finanzwesen als zwar vernachlässigte(m), aber bedeutende(m) Aspekt der neuzeitlichen Ökonomisierung des Regierens“ zu sprechen, was der Verfasser mit „Gouvernementalität und Finanz“ betitelt und im Untertitel avisiert, auf dem „Begriff einer ‚seignioralen Macht‘“ einzugehen, die sich über die „Sicherung künftiger Fiskaleinkommen (…) mit der Organisation des sozialen Feldes koordiniert“ hat. Er macht eine „Urszene des Kapitals“ eben in den oberitalienischen Stadtstaaten aus und hebt da den „Prozess in der Bewirtschaftung von Staatsschulden“ hervor und betont eine „Konvertierung von staatlicher Macht in Kapital, mithin die Kapitalisierung von Macht überhaupt“. Mit Rückbezug auf Marx´ Begriff der „modernen Fiskalität“ und die „öffentliche Schuld“ als „einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation“ bietet Vogl den Begriff eines „Akkumulationsregime(s)“ an, in dem sich das „einstmals Außerordentliche als Regel und die Ausnahme als Normalfall installiert“ habe. Der Verfasser argumentiert weiter, dass die „Formierung souveräner Staatsapparate (…) im Konzert mit Geschäftsunternehmen eine Dynamik freigesetzt“ habe, „die sich in einem exzentrischen Souverän-Werden seignioraler Macht manifestiert“, woraus er schließt, es habe sich in der „Sache der Finanz“ ein „Souveränitätsreservat eigener Ordnung etabliert“, und er bemerkt abschließend: „Auch wenn es nicht darum geht, Foucault mit Marx zusammenzuwerfen, lässt sich darin ein Machtdiagramm mit großer Zukunft erkennen, das sich in kontinuierlichen Übergängen zwischen Souveränität, Regierungskünsten und Finanzkapital konstituiert.“ (S. 226 f.)
Diskussion
In der Tat geht es nicht darum, Foucault mit Marx „zusammenzuwerfen“, aber es verlohnt schon, Foucaults Marx-Rezeption einer kritischen Würdigung zu unterziehen und vor allem, was Foucault daraus im Sinne einer Abgrenzung der theoretischen Schlüsse aus seinen Studien gemacht hat. Dass dies in dem Band unterbelichtet bleibt, ist kein Manko, geht es doch vorrangig um „Überwachen und Strafen“ und die daraus zu beziehende Frage nach der Aktualität der Foucaultschen Machtanalyse, welche die AutorInnen unter unterschiedlichen Aspekten kritisch aufgreifen und damit weitergehende Fragen konturieren, die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte aufzunötigen scheinen. Vogls Ausführungen zum „Souveränitätsreservat“ regen an, sich eher bei Marx (und weniger Engels) Bestimmungen der Rolle und Funktion des Staates umzutun, etwa sich auch mit dem ‚zinstragenden Kapital‘ zu beschäftigen, um dort in nuce festzumachen, warum und wie und für welchen gleichen Zweck jenes „Machtdiagramm mit großer Zukunft“ eine Variation zum Thema fortlaufender Integration über korrigierende Neujustierung von Modalitäten der Subjektkonstitution über nur verfeinerte Mittel von Macht und Herrschaft ist. Liest man nach, wo sich Vogl auf den Marxschen Begriff der „modernen Fiskalität“ bezieht, heißt es wenige Seiten weiter und da im historischen Kontext, dass es darum ging, „den Übergang aus einer altertümlichen in die moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen.“ Gewiss geht es nicht mehr um den von Marx gemeinten „Übergang“. Doch ‚Altertümliches‘ zu überwinden bleibt vermittels technologischer Innovationsschübe und auch Entwicklungen auf dem Kapitalmarkt immer erneute Aufgabe. Es geht darum, den immanenten Zweck der kapitalistischen Produktionsweise je historisch zu aktualisieren; es geht um Kapitalverwertung unter veränderten Konkurrenzbedingungen, um Krisenmanagement, um Markterweiterungen usw.; und alles steht unter dem Druck, immer nur vorläufige Maßnahmen zeitlich so „abzukürzen“, dass die Profitabilität nicht nur möglichst nicht geschmälert, sondern erhöht wird, was – wenn auch versachlicht – „gewaltsam“ geschieht: Macht gewandet sich so (und nach Maßgabe historischer Auseinandersetzungen), dass der Zweck der Produktionsweise auch dann nicht erodiert, wenn „Regierungskünste und Finanzkapitel“ in bisher so nicht ‚erschienener‘ Weise ineinander fließen.
So könnte man Marx Bemerkung aufnehmen und übertragen, um dann Foucaults Analysen zu Disziplinierung und Machtausübung und deren weiteren Aktualisierungen auf einem Erklärungshintergrund zu verstehen, wie er der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Wandlungsprozessen seit ihren wenig fröhlichen Urständen eingeschrieben ist – eine schon ältere kritische Einlassung. Vogl lässt sich darauf insofern ein, als sein „Machtdiagramm“ subjektwirksam wird und zugleich scheint bei ihm auf, dass sich, wie eingangs von den Herausgebern betont, die „Genealogie der modernen Subjektivität und die Frage nach der Genese des Kapitalismus überschneiden“ (s.o), eine Spur, die bis heute in ihren interessierten Wendungen zu verfolgen ist.
Ständig aktualisierte Maßnahmen der Integration folgen desintegrativen Tendenzen und erzeugen sie zugleich (wie man bei Adorno nachlesen kann), weshalb Petra Gehring zu ‚epochenscharfer‘ Rekonstruktion und dabei vor allem einer „ökonomischen Definition der Disziplin“ (s.o.) anhält, um anleitende ökonomische, systemische Desiderate, Effektivität und Effizienz, im Fokus zu behalten. Schon sozialhistorisch bis in die Gegenwart sind „Risikogruppen“ zu identifizieren, die schwerlich durch die „große Inklusionsmaschine“ ohne noch größeren Aufwand oder Rückgriff auf überkommene Methoden „seriell“ (Sartre) zu machen waren und sind, worauf Gerhard Unterthurner im Rahmen seines Beitrags hinweist. Als Thema könnte sich ‚Subversion‘ anschließen, die sich querstellt, weit vor dem Marxschen kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, aber als späte Nachwehe jenes Nein, von dessen Geschichte Agnoli erzählt hat, eines Nein gegen die Logik einer Ordnung schlechter Zustände, „Renitenz gegen das Vorfindliche“ (Agnoli), darin Reklamation einer Freiheit, wie sie von genereller Unfreiheit präformiert ist (worüber Marx aufklärte) und sich versteckt und listig vorwagt und äußert oder gleich im Gehäuse der Innerlichkeit verbleibt. Diesen weiterführenden Punkt berührt Maria Muhle, wenn sie auf „Unterbrechungen und Entwendungen in den Machtstrukturen“ aufmerksam macht, „skurrile Effekte“, ein „Überschuss“ (s.o.), was auf anderenorts geführte Debatten darum führt, wer aus welchen Interessen radikal im Sinne jenes ‚an die Wurzel gehen‘ in den Prozess der Geschichte in emanzipatorischer Absicht eingreift, ohne in Hegelscher Erbschaft und durchaus parlamentarismuskritisch auf eine dann regierungsfähige „kleine, elitäre Minderheit“ (Agnoli) zu schielen.
Auch ein „verfemter Teil“, wie ihn Rölli thematisiert (s.o.), der in uns stecke und unfähig sei, sich selbst zu normalisieren, wäre auf seine Ursachen zurückzuführen und auszuloten, wie es, und sei es nur als Widerborstigkeit, durch Strategien der Macht auszumerzen, zu kanalisieren, gar ‚produktiv‘ zu wenden ist – oder nicht. In diese Optik ist auch die kritische Aufnahme zu Examen und vor allem Erziehung in Kantscher Bestimmung, wie sie Andreas Gelhard vorstellt, als Integration zu nehmen wie auch jenes Ideologem über minderen Wert von Frauen, das Walter Seitter an der Holzschnittfassung von Weininger auf der Foucaultschen Interpretationsebene ausleuchtet, was in der Folge narrativ ausgefeilt wurde, stets konterkariert von einem zum Teil höchst elaborierten und auch praktischen Widerstand. Entlang all dem könnte man Adorno folgen und würde – zeitgenössisch aktuell – eben nicht nur den Integrationstechniken der Macht, einer sich beschleunigenden Spirale aus Desintegration und Integration, sondern auch jener „Dissoziation“ nachspüren: „Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch ihre Tendenz zur Dissoziation“, und dies auf dem Hintergrund, dass die „totale Vergesellschaftung (…) objektiv ihr Widerspiel“ ausbrütet. Näher zu thematisieren (und dies ggf. in Verfolgung von politisch-emanzipatorischer Absicht, auch der Suche nach Ansatzpunkten für Aufklärung) sind da auch jene ‚Schritte‘ aus einem „Innenraum“, die in der Tat „kein ganz Anderes“ sind, doch aber ein „Anders-sein-Können des Selbst“ (s.o.) signalisieren, was Martin Saar als Anschluss an seinen Beitrag zur Aufgabe macht, was auch angeleitet sein kann durch Foucault, den Roberto Nigro abschließend zitiert, dass keine Macht „mit vollem Recht akzeptierbar“ (s.o.) ist. Doch hat sich ein Zwang zu Selbstrepräsentation und Positionierung ‚mit aller Macht‘ so durchgesetzt und ist akzeptiert, dass eine Gegnerschaft zur abgenötigten „Sichtbarkeit“ auf „blankes Unverständnis“ stoßen dürfte, da ist Andreas Reckwitz zuzustimmen, wo nämlich sich jemand dem „aufdringlichen, permanenten Blick würdevoll“ zu entziehen trachtet (s.o.) – was es gibt und was als Nicht-Akzeptanz zu deuten ist, wobei jedoch sie oder er bestenfalls eine harmlos „skurrile“ (Muthe) Erscheinung wäre oder ist, im schlechteren Fall und ggf. gleichzeitig AußenseiterIn auf der Straße der VerliererInnen.
Unbestreitbar hat Foucault (nicht nur) mit „Überwachen und Strafen“ bis dato vorherrschende Begriffe „der politischen Theorie und des Befreiungsdiskurses (…) durcheinander gewirbelt“, leiten Marc Rölli und Roberto Nigro ein. (S. 7) Bekannt ist, dass und wie er sich mit marxistischer Theorie auseinandergesetzt hat und von dort eine politische Begrifflichkeit bezieht, die er in kritischer Aufnahme zum Teil in sein theoretisches Denken einspeist. Sicher blickt er auf die Anfänge des Kapitalismus, doch ist seine (immanente) Kapitalismuskritik eine andere als die, wie sie Marx mit deiner Kritik der politischen Ökonomie entfaltet hat. Für die Soziologie wurden seine Schriften zunehmend eine Referenz, als Marx zunehmend aus dem akademischen Diskurs nicht zuletzt wegen ihrer politischen Folgen exiliert oder seine ‚Lehre‘ durch Historisierung vereinnahmet wurde. Als zusätzlich zum Begriff der Disziplin und in Verquickung mit dem Begriff der Kontrolle von Deleuze wissenschaftliche Forschung betrieben werden konnte, hatte die Soziologie ein Betätigungsfeld, das unter dem Rubrum von Gesellschaftskritik trefflich ausgewalzt werden konnte – und kann. Mit Marx wurde da vielfach auch gleich die kritische Theorie wenn nicht ad acta gelegt, so doch stillschweigend übergangen, hätte man sich doch mit Adornos Hinweis auseinandersetzen müssen, dass „ohne Beziehung auf Totalität, das reale, aber in keine Unmittelbarkeit zu übersetzende Gesamtsystem, nichts Gesellschaftliches zu denken ist, daß jedoch nur soweit erkannt werden kann, wie es in Faktischem und Einzelnem ergriffen wird“, was „in der Soziologie der Deutung ihr Gewicht“ verleiht. Da belässt man es bei der „gesellschaftliche(n) Physiognomik des Erscheinenden“ und ‚deutet‘, ohne eine „Beziehung auf Totalität“ herzustellen, die so ausgespart bleibt.
Da lässt die Frage der Autoren aufhorchen (und hoffen), ob Foucault „einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung von sozialen Phänomen leistet“, und mehr noch, ob „im Anschluss an die Frage nach den politischen Dimensionen solcher Beschreibungen (…) dann auch die kritische Reichweite der Machtanalyse – und mit ihr Fragen nach Widerstand und Gegen-Macht – zur Diskussion“ stünden. (S. 11) Vermerkt gehört besonders, dass eine Anknüpfung an den „Begriff der ‚Gouvernementalität‘ bis zu spezifischen Neuausrichtungen der kritischen Gesellschafts- und Kapitalismustheorie“ zu verzeichnen ist (S. 12), und zwar (auch) unter dem Blickwinkel moderner Prozesse der Machtausübung „durch die Umwandlung von ökonomischen in politische Ressourcen und umgekehrt“. (S. 20) Da ist die Schwelle erreicht, wo die Schranke fallen könnte (und sollte), die sich vor den Begriff der Totalität gelegt hat, vor das, was Adorno hinsichtlich des „Ganzen“ als „Bann“ bezeichnete. Das wäre oder ist bereits einer der Schritte, um das aus bemühten Akademisierung gewobene Leichentuch von Marx´ ‚Veränderungsaufruf‘ abzuziehen, dem u.a. durch ‚neue Marxlektüre‘ mit viel Aufwand verschütteten. Ins Gedächtnis ist zu rufen, dass und wie Marx jenes „es kömmt drauf an, sie zu verändern“, und zwar nicht weniger als „die Welt“, aus seiner Kritik der bürgerlichen Philosophie und seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt hat, was daher eben nicht nur dem Marx der Arbeiterbewegung, dem Journalisten als genehmes Kampfargument zuzuschreiben ist.
Fazit
Es sind nicht nur die wie hier skizzierten Marginalien, die durch die Beiträge des Sammelbandes zu weiterführenden Diskussionen anregen; es ist vor allem die durchaus kritische Würdigung Foucaults, die Aufnahme seiner Forschungen und ihrer theoretischen Einkleidungen, die sämtliche Beiträge des Bandes auszeichnen, wobei alle AutorInnen ihre Argumentation so vortragen, dass sie am Ende ihrer jeweiligen Beiträge deren Kernaussagen bündeln und zugleich perspektivisch auf mögliche, anschließende Forschungsfragen ausrichten. Gerade PhilosophInnen und SoziologInnen, die skeptisch gegenüber den sich eng am Mainstream ansiedelnden, sich kritisch gerierenden Zweigen ihrer Disziplinen sind, die auch für den Zweck des Politischen und darin im Bedenken einer neu auszurichtenden Zweck-Mittel-Relation nach einem tragfähigen, analytisch auszuweisenden Kritik-Begriff suchen, ist dieser zudem sehr informative Band zu empfehlen.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 10.10.2017 zu:
Marc Rölli, Roberto Nigro (Hrsg.): Vierzig Jahre „Überwachen und Strafen“. Zur Aktualität der Foucault´schen Machtanalyse. transcript
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-8376-3847-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23319.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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