Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet - Das Netz für die Sozialwirtschaft

Günther Thomé: ABC und andere Irrtümer über Orthographie, (...)

Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 20.10.2017

Cover Günther Thomé: ABC und andere Irrtümer über Orthographie, (...) ISBN 978-3-942122-23-8

Günther Thomé: ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS. ISB-Fachverlag (Oldenburg) 2017. 4., erweiterte Auflage. 156 Seiten. ISBN 978-3-942122-23-8. D: 14,80 EUR, A: 15,30 EUR, CH: 11,80 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Zwei bemerkenswerte Gestaltungsgrundsätze

Der Autor verfolgt die Strategie, seinen eigenen Ansatz zum Unterrichten von Rechtschreiben einzuführen, indem er „Irrtümer“ bezüglich Sprachlernen aufdeckt. Daher benutzt er sowohl im Buchtitel als auch in allen Kapitelbezeichnungen den Begriff „Irrtum“. Das zweite Gestaltungsprinzip benennt er als „harte Fakten – wissenschaftlich untermauert – locker dargestellt“. Dazu soll auch die Entgegensetzung zweier Figuren, des „Herrn Dachtemann“ und des „Herrn Weißmann“ dienen, die „Irrtum“ bzw. „Wahrheit“ vertreten.

Aufbau und Inhalt

Das erste Kapitel, „Über Irrtümer im Allgemeinen“ darf als Einleitung gesehen werden.

  • Das zweite Kapitel behandelt den „1. Irrtum: Rechtschreiben lernt man durch das Lesen“. Hier wird zur Begründung u.a. darauf verwiesen, dass Lese- und Rechtschreibschwäche nicht miteinander auftreten müssen. Daher wendet sich der Autor gegen die undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Lese-Rechtschreibschwäche“. Die folgenden „Irrtümer“ sind zugleich die entsprechenden Kapitelüberschriften.
  • „2. Irrtum: Früher konnten die Schüler besser rechtschreiben als heute (leider kein Irrtum)“. Hier werden der Tatsache, dass Deutschland „Export-Vizeweltmeister“ ist, Forschungsergebnisse gegenübergestellt, die belegen, dass viele Schüler_innen schlechte Leistungen im Rechtschreiben zeigen und sich diese im Lauf ihrer Bildungskarriere noch verschlechtern. Thomé stellt deshalb das Bildungssystem in Deutschland in Frage, ebenso Bildungspraktiken wie das Schreiben von Diktaten (er spricht sich für mehr freies Schreiben aus).
  • „3. Irrtum: Mit dem Abc schreiben wir die Laute unserer Sprache“. Hier geht der Autor vor allem auf das Verhältnis von Standardlautung und Standardschreibung (Orthografie) bzw. von Lauten („Phoneme“) und dafür verwendeten Schreibzeichen („Grapheme“, bestehend aus einem oder bis drei Buchstaben) ein. Es geht ihm u.a. darum, im Unterricht hochfrequente vor selteneren orthografischen Zeichen bzw. Zeichenverbindungen einzuführen, um das Rechtschreiblernen zu erleichtern.
  • „4. Irrtum: Die Unterrichtsmaterialien sind geprüft und korrekt“. Thomé fordert hier die Verwendung des von ihm vertretenen Prinzips des „lautentsprechenden (lautgetreuen)“ Schreibens statt anderer Methoden (Buchstabieren, ganzheitliche Ansätze). Dazu gehört der Einsatz von Buchstaben- und Anlauttabellen, sowie die vorrangige Behandlung der häufigen vor den seltenen Schreibregeln und die Vermeidung des gleichzeitigen Einführung von Wörtern, bei denen Verwechslungsgefahren bestehen.
  • „5. Irrtum: Alle können die Rechtschreibregeln (nur ich nicht)“: Hier thematisiert der Autor den Kontrast zwischen bewusster Regelanwendung sowie deren Problematik und der aus seiner Sicht stärker zu gewichtenden (halb)automatisierten Schreibung (Entwicklung „innerer Regeln durch die Lernenden“).
  • „6. Irrtum: Rechtschreiben lernt man durch Diktate“: Hier deutet Thomé die Verwendung von Diktaten als vorwiegend „prüfende“ Methode, der gegenüber kreatives Schreiben wesentlich bessere Lernergebnisse erziele.
  • „7. Irrtum: Je früher, desto besser“: Dieses Kapitel wendet sich gegen die zu frühe systematische, „programmierte“ Schriftsprachförderung.
  • „8. Irrtum: Jeder, der Rechtschreiben kann, kann es auch unterrichten“: Hier nimmt Thomé seine Forderung nach der Differenzierung zwischen Lang- und Kurzvokalen wieder auf und kritisiert die mangelnde Qualität der Lehrerbildung im Hinblick auf Rechtschreibung.
  • „9. Irrtum: LRS/Legasthenie gibt es – LRS/Legasthenie gibt es nicht“: Der Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die teilweise immer noch „entwürdigende“ Behandlung legasthenischer Kinder. Demgegenüber fordert der Autor die interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Phänomen „LRS/Legasthenie“, sowie u.a. eine förderdiagnostische Ausbildung für Lehrer_innen.

Diskussion

Dafür, dass das Buch von einem Sprachdidaktiker und Sprachwissenschaftler geschrieben ist, zeigt es zu viele reißerische und sogar manipulative Tendenzen. Das beginnt schon beim Titel: Hier wird das „ABC“ (gemeint ist wohl die Alphabetschrift) als „Irrtum“ bezeichnet und dann noch die Aufklärung weiterer „Irrtümer“ über „Orthographie Rechtschreiben LRS/Legasthenie“ angekündigt.

Der jeweilige sogenannte „Irrtum“ wird in der Kapitelüberschrift zwar als absolut umfassend beschrieben, der Autor muss diese Absolutheit im Text aber dann selbst zurücknehmen. So wird aus der Überschrift „Rechtschreiben lernt man durch das Lesen“ der Satz Herrn Dachtemanns: „Ich bin ganz sicher, dass man durch das Lesen auch die Rechtschreibung verbessert“, dem Herr Weißmann antwortet: „Es stimmt nicht. Lesen ist wichtig und toll, verbessert aber nicht automatisch die Rechtschreibung“. Textanalytisch gesehen, antwortet Herr Weißmann gar nicht korrekt auf Herrn Dachtemanns Aussage; der meint ja offensichtlich, dass Lesen „irgendwie“ auch das Rechtschreiben fördert. Darauf müsste Herr Weißmann eigentlich antworten: „Ja, aber nicht automatisch“. Damit wäre der sogenannte Irrtum zu Zwergengröße geschrumpft, weil ja die Behauptung nie war, dass Lesen die Rechtschreibung „automatisch“ verbessert, sondern dass es einen gewissen Betrag dazu liefert. Im nur 10 Seiten langen Text verwendet Thomé ausgewählte Forschungsergebnisse (inklusive weitgehend unkommentierter Diagramme), um nachzuweisen, dass „kaum ein direkter Zusammenhang zwischen Lese- und Rechtschreibleistungen besteht“ (S. 16). Ein direkter Zusammenhang wird aber in der wissenschaftlichen Literatur überhaupt nicht behauptet. Vielmehr gibt es Konsens über gewisse – teilweise noch unerforschte „Synergien“ zwischen Lesen und Schreiben (vgl. www.nwp.org/cs/public/print/resource/329 und http://blog.penningtonpublishing.com). Auch wenn die von Thomé abgelehnte Wortbildtheorie als solche nicht angemessen ist, werden sich viele von uns wahrscheinlich an Situationen erinnern, wo eine Art Kontrasterkennung eines häufig gelesenen Worts geholfen hat, Rechtschreibfehler zu korrigieren. Der Autor verweist auch nicht auf unterschiedliche Lernertypen, für deren Berücksichtigung ein Angebot verschiedener Ansätze empfehlenswert erscheint. Schließlich schwächt er den „Irrtum“ am Ende des Kapitels selbst so ab: „… da man nicht mehr von einer direkten Beförderung der Rechtschreibfähigkeit durch das Lesen ausgehen kann.“ (S. 21).

Verwirrend – bzw. nur zu dem Zweck, das Ordnungsprinzip „Irrtümer“ für das Buch aufrechtzuerhalten – ist Irrtum 2 formuliert: „Früher konnten die Schüler besser rechtschreiben als heute (leider kein Irrtum)“. Dieser „falsche Irrtum“ könnte allerdings mit zusätzlichen Informationen angemessener beschrieben werden: „Ja, die Kinder machen mehr Fehler. Sie schreiben aber auch viel kreativer.“ www.spiegel.de/lebenundlernen/schule.

Der „3. Irrtum“ soll sein: „Mit dem Abc schreiben wir die Laute unserer Sprache“. Herr Weißmann sagt dazu Folgendes: „Natürlich denkt man das, aber das stimmt nicht ganz. Halbwahrheiten und Halbirrtümer sind of schwieriger zu widerlegen als Vollirrtümer.“ Also wird die Absolutheit dieses „Irrtums“ schon wieder zurückgenommen. Thomé: „Den 41 Phonemen (Standardlauten) der deutschen Sprache. stehen nur etwa 26 oder 30 Buchstaben des lateinischen Alphabets gegenüber.“ (S. 40), bzw. „Allgemein erwartet man von einer Alphabetschrift, dass sie für jeden systematischen Sprachlaut ein Schriftzeichen bereitstellt“ (S. 40). Diese Behauptung gilt – in eingeschränkter Weise – allenfalls seit dem Entstehen der strukturalistischen Sprachwissenschaft Anfang des 20. Jhs. und damit z.B. für neuere slawische Alphabetsysteme oder die Verschriftlichung vorher schriftloser Sprachen in Entwicklungsländern. Im Zusammenhang mit der aus seiner Sicht zu geringen Anzahl an Schriftzeichen beklagt der Autor, „wie sich unsere Vorfahren abgequält haben“ (S. 40). Gemeint ist hier die Anwendung des lateinischen Alphabets auf das Althochdeutsche. Dagegen meine ich, dass diese Leute eine sehr große Leistung vollbracht haben (wobei wir die tatsächlichen Lautwerte der damaligen deutschen Dialekte nicht kennen, sondern allenfalls nur erschließen können). Über die Jahrhunderte hinweg wurde diese Leistung erhalten, z.B. durch die verschiedenen Kanzleisprachen, Luthers Bibelübersetzung und die Standardisierungen bzw. Rechtschreibreformen des 19. und 20. Jhs. Natürlich sind dabei bestimmte traditionelle Schreibungen erhalten geblieben, sodass das Standarddeutsche heute keine „absolut logische“ bzw. widerspruchsfreie Orthographie hat (noch auffallender ist dies im Englischen und Französischen). Wir wissen, dass die Zahl der Rechtschreibfehler mit der Komplexität des jeweiligen Schriftsystems korreliert. Das bedeutet, dass wir voraussagen können, dass Schüler_innen beim Erlernen der deutschen Orthographie erhebliche Schwierigkeiten bewältigen müssen. Andererseits zeigt die Behauptung des Autors, dass diese Schwierigkeiten mit seiner Methode des „lautgetreuen Schreibens“ zumindest wesentlich abgemildert werden könnten, dass er diese Alphabetschrift für gar nicht so schlecht hält, nur die Methoden ihrer Vermittlung. Der „Irrtum ABC“ stellt sich also nur als reißerische Grundlage für die Präsentation des vom Autor propagierten Unterrichtsmodells für Schriftsprache heraus.

Im Gegensatz zum Autor betrachte ich es als Vorteil, dass die deutsche Orthographie nur Zeichen für die Hauptqualitätsklassen der deutschen Vokale besitzt (also i, ü, u, e, ö, o und a; ä ist ein Sonderfall, vgl. die Literatur). Die Lang- bzw. Kurzvarianten dieser Vokale werden also gleich geschrieben, was Thomé offensichtlich bedauert. Stellen Sie sich als Leser_innen bitte einmal vor, sie müssten Kurz- und Langvokale mit verschiedenen Schriftzeichen schreiben. Das würde die Rechtschreibung nicht vereinfachen, sondern wir müssten sieben zusätzliche Schriftzeichen korrekt verwenden.

Thomé geht es in der Diskussion vorwiegend um die Orthographie in Zusammenhang mit kurzen und langen Vokalen. Deren Erlernen versucht er mithilfe des „lautgetreuen Schreibens“ zu optimieren. Seine Definition dafür ist: „Ein Wort, das lautentsprechend oder auch lautgetreu geschrieben ist, muss vier Bedingungen erfüllen: 1. Die zugrunde liegende Lautanalyse und die Lautgliederung müssen der deutschen Standardlautung entsprechen. 2. Die verwendeten Schriftzeichen müssen zur Gruppe der mit dem jeweiligen Phonem korrespondierenden Zeichen gehören. 3. Für jedes Phonem muss ein Graphem geschrieben werden. 4. Die Reihenfolge der Phoneme und die Reihenfolge der Grapheme muss gleich sein.“ (S. 63) Dabei unterschlägt Thomé, dass beim tatsächlich lautgetreuen Schreiben des Standarddeutschen neue Probleme auftauchen: Geschriebenes {s} muss danach, wenn es als Konsonant vor Vokal am Wortanfang steht, stimmhaft als [z] ausgesprochen werden (Beispiel: „Sonne“). Weiters verlangt die Auslautverhärtungsregel, dass geschriebene {b, d, g} am Wortende als [p, t, k] ausgesprochen werden müssen (Beispiele: „gelb“, „Grad“, Sog“), wogegen im Morphem {ig} das {g} als [ç] (sogenannter „ich-Laut“, Beispiel: „lustig“) erscheinen muss. Auch Probleme wie Klein-/Großschreibung, {dt/tt} oder {f/v} sind „lautgetreu“ nicht lösbar.

Thomé lehnt in seinem Ansatz des „lautgetreuen Schreibens“ zwar die – absolut gesetzt, irreführende – Forderung „schreib wie Du sprichst“ ab, beschreibt aber nicht, wie ein solches lautgetreues Schreiben wirklich umgesetzt werden soll. Seine implizite Forderung, alle Schüler_innen müssten zuerst die Standardaussprache des Deutschen erwerben, verschärft diese Forderung eigentlich noch: Er schreibt: „Auch Muttersprachler des Deutschen verfügen normalerweise nicht über die Standardlautung der Wörter. Die eigene Aussprache ist daher für Lehrende keine sichere Grundlage für die korrekte Lautgliederung eines Wortes. In keiner Region des deutschen Sprachraumes spricht man 100-prozentig gemäß der Standardlautung.“ (S. 44). „Das, was die Eltern und Großeltern an Aussprache durchgehen lassen oder selbst als Vorbild bieten, ist praktisch nie der Standardlautung entsprechend.“ (S. 45). Erstaunlicherweise verweist der Autor nicht auf Quellen, welche die Standardlautung akustisch präsentieren, sondern nur auf Aussprachewörterbücher. Da der Autor auch keine soziolinguistisch-pragmatischen Angaben über die Verwendung der von ihm angesetzten Standardlautung macht (etwa: „Theater, Fernsehen, Radio, Universität“), bleibt sie für Leser_innen akustisch ungreifbar. Mit der Behauptung „Zu jeweils einer korrekten schriftlichen Wortform dieser Standardschreibung gehört ebenfalls nur eine korrekte lautliche Form, die Standardlautung.“ (S. 44) ignoriert Thomé, dass Deutsch heute als plurizentrale Sprache angesehen wird, welche durch „gleichwertige, aber unterschiedliche Ausprägungen“ (vgl. Bickel und Schmidlin, Ein Wörterbuch der nationalen und regionalen Varianten der deutschen Standardsprache, www.idiotikon.ch/Texte/Bickel/06-bickel_schmidlin.pdf) repräsentiert wird. Diese Plurizentralität ist nicht nur bezüglich des Deutschen außerhalb Deutschlands relevant, sondern auch bezüglich nord-, mittel- und süddeutscher Varianten des Standarddeutschen; ihre Berücksichtigung wird sogar für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache gefordert (vgl. Spiekermann: Standardsprache im DaF-Unterricht, www.linguistik-online.com/32_07/spiekermann.pdf). Daneben muss auch für diese Standardvarianten angenommen werden, dass die Sprecher_innen sich ihr je nach Kontext vollständig oder angenähert bedienen (vgl. den Begriff der „gemäßigten Hochlautung“). Schließlich muss auch die Sprachgeschichte berücksichtigt werden: auch eine normierte Sprache verändert sich langsam und darf nicht dauerhaft nach langsam veraltenden Regeln beurteilt werden.

Der Satz „Die Standardlautung für die deutsche Sprache wurde erst nach der Standardschreibung von dieser abgeleitet.“ (S. 45) ist nicht korrekt, denn natürlich musste Siebs bei der Erstellung seiner „Deutschen Bühnenaussprache“ 1898 (erst 1969 „Deutsche Aussprache“) die bestehende sprachliche Realität berücksichtigen, auch wenn sein Ziel lediglich eine Kodifizierung des im Theater verwendeten Deutsch war. Die deutsche Rechtschreibregelung ist ein Kompromiss zwischen verschiedenen Schreibtraditionen, der erst Ende des 19./Anfang des 20. Jhs. zustandekam und vor Kurzem reformiert wurde.

Im Zentrum von Thomés „lautgetreuem“ Schreiben steht die Forderung nach der Unterscheidung zwischen Kurz- und Langvokalen. Hier ist zuerst zu kritisieren, dass der Autor selbst die Phonetik der Aussprache nicht eindeutig von der wissenschaftlichen Lautsystematik trennt, wenn er z.B. schreibt: „Die Tabellen 7-10 zeigen die Phoneme (Standardlaute) des Deutschen.“ (S. 52). Das Lautinventar des Deutschen (Laute werden üblicherweise in eckigen Klammern notiert) darf nicht mit dem Phoneminventar (Phoneme werden zwischen Schrägstrichen notiert) verwechselt werden, welches mittels wissenschaftlicher Methoden (Minimalpaaranalyse, Verteilung in Wörtern, morphologische Phänomene) erstellt wird.

Sehen wir uns, um die Sache zu klären, einmal den sprachlichen Sachverhalt an: In der von Thomé vertretenen absoluten Standardlautung unterscheiden sich Kurz- und Langvokale neben der Dauer auch durch die Qualität, also z.B. lange [i, e, o] in „biete, Beten, rote“ von kurzen [ɪ, ɛ, ɔ] in „bitte, Betten, Rotte“ (die phonetischen Zeichen stammen aus dem Internationalen Phonetischen Alphabet IPA). Allerdings finden sich diese Qualitätsunterschiede nicht in allen Varianten des Standarddeutschen; insbesondere in den süddeutschen gelten sie nicht für i-, ü- und u-Laute und nur teilweise für e-, ö- und o-Laute. Für die a-Laute nimmt auch Thomé keinen Qualitätsunterschied an, kommentiert das aber nicht, obwohl das in seiner Standardvariante einen Systembruch darstellt. Phonetisch gesehen, entsteht der Höreindruck „Kurz- vs. Langvokal“ nicht durch die Vokallänge, sondern durch das Längenverhältnis zwischen Vokal und folgenden Konsonanten (vgl. den Fachausdruck „Silbenschnitt“). Grob gesprochen: ist der Wert „Dauer des Vokals dividiert durch die Dauer des/der Folgekonsonanten“ niedrig, „hören“ wir einen kurzen Vokal, ist der Wert hoch, einen langen. Sowohl die Verhältniszahlen als – noch stärker – die absoluten Dauerwerte schwanken im deutschen Sprachraum regional. Diese Schwankungen sind ein Grund dafür, dass wir Sprecher_innen regional zuordnen können. Außerdem ist zu beachten, dass das angesprochene Verhältnis am besten in der Kombination Vokal + Einfachkonsonant (z.B. „Latte“ – Kurzvokal + Fortiskonsonant – vs. „lade“ – Langvokal + Leniskonsonant) perzipierbar ist, während dies für die Abfolge Kurzvokal + Konsonantenkombination aus verschiedenen Gründen in geringerem Ausmaß gilt (Beispiele: „Ast“, „lang“, „Kalb“, „Start“). Wir brauchen uns daher nicht zu wundern, dass eine große Anzahl von Schüler_innen mit der Behauptung „das kannst du ja hören, dass hier der Vokal kurz ist“ genauso überfordert sind wie mit der gleichwertigen musikalischen „eine Quart kannst Du hören“. Das Gleiche gilt für die Aufforderung, in diesen Beispielen den Laut „kurz“ zu sprechen. Fazit, Schüler_innen zu zwingen, in jedem Fall zu „hören“, ob ein Kurz- oder Langvokal vorliegt, kann eine „entwürdigende“ Behandlung sein, die Thomé bezüglich Legastheniker_innen ja bekämpfen will.

Einige phonologische Untersuchungen bestätigen die Entscheidung unserer Ahnen und ziehen dementsprechend die Lang- und Kurzvokale zu einem „Phonem“ mit zwei „Allophonen“ zusammen (eben der langen und der kurzen Variante des jeweiligen Vokals; vgl Becker, Das Vokalsystem der deutschen Standardsprache. Frankfurt 1995; Noack, Phonologie. Heidelberg 2010). Der wissenschaftliche Disput über die deutschen Phoneme zeigt: Würden wir die linuistische Phonologie des Deutschen als Grundlage für unser Schriftsystem heranziehen, wir hätten keines: je nach (wissenschaftlichen, nicht schreibökonomischen) Klassifikationskriterien werden im Deutschen 8. oder 15-19 „Vokalphoneme“ angesetzt; der Status der sogenannten Schwa-Laute [ə], [ɜ] und [ɐ] ist umstritten. Einen schönen Einblick in die Methode – verbunden mit der Darstellung der Problematik einer ausschließlich segmentalen Phonologie am Beispiel der Schwa-Laute bietet Staffeldt, Zum Phonemstatus der Schwa- Laute im Deutschen (www.publikationen.ub.uni-frankfurt.de).

„4. Irrtum: Die Unterrichtsmaterialien sind geprüft und korrekt“. Hier stellt sich heraus, dass Thomé nur kritisiert, dass die verwendeten Unterrichtsmaterialien nicht seinem Ansatz folgen. Er behauptet, dass die von ihm angebotene Tabelle 11 – eine bloße Zusammenstellung von Lang- und entsprechenden Kurzvokalen aus seiner Sicht (S. 68) – schon eine fachdidaktische Grundlage für die Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen biete. Wie die Schüler_innen die phonetischen Zeichen der Tabelle anwenden sollen (d.h. wie sie lernen sollen, welche akustische Qualität tatsächlich mit dem phonetischen Zeichen notiert wird bzw. wie sie diese akustische Qualität zu erkennen lernen sollen, erklärt er nicht; bräuchten sie vielleicht eine phonetische Ausbildung?. Zudem finden sich in der Tabelle zwei grobe Fehler: Dem langen [e:] wird kein entsprechender Kurzvokal zugeordnet. [ɛ], das richtigerweise hier stehen sollte, wird lediglich als Kurzvokalentsprechung zum [ɛ:] (ein „phonologischer Ausreißer“, welcher aus der zu langem schriftlichen {e} kontrastierenden Aussprache des Graphems {ä} entstanden ist) gestellt. Dazu erscheint /ə/ (in Thoméscher Phonemschreibweise) als Kurzvokal, welchem kein entsprechender Langvokal gegenübergestellt wird. [ə] kann aber nicht als Kurzvokal gewertet werden, da Lang- und Kurzvokale nur in betonten Silben unterschieden werden und die Schwa-Laute nur in unbetonten Silben auftreten. Vom Lautwert her ist /ə/ übrigens unangemessen, da in deutschen unbetonten Silben der neutrale Schwa nicht auftritt; aus phonetischer Sicht müsste man [ɜ] verwenden.

Eine andere lautlich (= phonetisch) unangemessene Schreibweise – die Thomé allerdings mit vielen anderen Autor_innen teilt – ist /ɔy/ als „Diphthong-Laut“ für die Grapheme {eu, äu}. Wie man leicht selbst feststellen kann, verschwindet die Lippenrundung im zweiten Teil des Diphthongs, weswegen dafür nicht ein Zeichen für einen runden Laut (wie [y]) verwendet werden sollte. Angemessener wäre [ɔɛ].

„5. Irrtum: Alle können die Rechtschreibregeln (nur ich nicht)“ ist wieder eine der „schiefen“ Formulierungen des Autors: Der Realitätsvergleich unter Schüler_innen widerlegt schnell, dass ein solcher Irrtum auftreten kann. Aber gestehen wir dem Autor zu, dass er diesen „Irrtum konstruiert, damit er eine Basis für die Empfehlung erhält, dass die Schüler_innen mit der Zeit ‚innere Regeln‘“ erwerben; auch wenn das in gewissem Widerspruch zu seinem eigenen Ansatz steht, der mit seinen Laut-Graphem-Beziehungen ja auch so etwas wie „Regeln“ zu erstellen versucht, welche bewusst umzusetzen sind.

„6. Irrtum: Rechtschreiben lernt man durch Diktate“. Dieser Irrtum lebt von der Suggestion des Autors, dass ein Diktat immer einen Test bedeutet, der Prüfungsstress erzeugt und damit dem Lernen nicht zuträglich ist. Natürlich hat Thomé recht, wenn er meint, man solle sich im Unterricht auf kreatives Schreiben konzentrieren; trotzdem könnte man nicht benotete Diktate (inklusive nichtdiskriminierender Nachbearbeitung in der Klasse) auch als hilfreiches Training zur Automatisierung von Schreibroutinen sehen, die insbesondere so geplant sein könnten, dass sie aktuelle Unterrichtsziele verfolgen helfen. Für Thomé und viele andere Expert_innen auf dem Gebiet der Sprachentwicklung und des Sprachunterrichts gilt: Sie unterschätzen die Bedeutung der Automatisierung sprachlicher Routinen. Und: Automatisiert wird nur, was häufig getan wird.

„7. Irrtum: Je früher, desto besser“. Auch hier schießt der Autor etwas über das Ziel hinaus: Systematisches Training für alle möglichen Kompetenzen, das den Kindern ihre Kindheit nimmt, ist abzulehnen. Aber wenn eine Dreijährige den Schriftzug einer Automarke erkennt und z.B. die Buchstabennamen besprochen haben oder malen will; warum soll man ihr die Freude daran nehmen? Dasselbe gilt für den Fall, dass sie ein so gelerntes F auch auf einem anderen Schild o.ä. erkennt; das sollte sie als Erfolgserlebnis im Gedächtnis behalten können. Für eine ungezwungene Kindererziehung in unserer schriftlastigen Umgebung vgl. Brügelmann, Kinder auf dem Weg zur Schrift, Konstanz 1992 oder Teale und Sulzby (Hrsg.), Emergent Literacy: Writing and Reading, Norwood 1986.

„8. Irrtum: Jeder, der Rechtschreiben kann, kann es auch unterrichten“. Hier geht es wieder um Thomés Ansatz und seine kategorische Ablehnung der von ihm zitierten, angeblich weit verbreiteten Behauptung (diese widerspricht ja auch der Orthographie), das Deutsche habe nur fünf Vokale (a, e, i, o, u). Der Autor argumentiert, bei einer entsprechenden unangemessenen Fachdidaktik würden Kinder die Fähigkeit zur Vokaldifferenzierung – welche ja für die Unterscheidung von Kurz- und Langvokalen in seinem Modell grundlegend ist – verlernen.

„9. Irrtum: LRS/Legasthenie gibt es – LRS/Legasthenie gibt es nicht“. Ich möchte dem Autor nicht darin zustimmen, dass sich hier die von ihm aufgezählten sogenannten Irrtümer „kulminieren“. Aber ich stimme ihm darin zu, dass „man die mangelhafte Rechtschreibleistung von weit über 20 Prozent“ der Schüler_innen nicht hinnehmen darf (und würde hinzufügen, dass eine vorschnelle diagnostische Aburteilung aller solcher mangelnden Leistungen als Lese-Rechtschreibschwäche keine Lösung verspricht). Erstaunlicherweise endet hier das Buch, ohne dass Leser_innen irgendetwas über Legasthenie erfahren würden, obwohl sie im Buchtitel enthalten ist (zum Thema vgl. Reid, The Routledge Companion to Dyslexia 2012, www.dyslexia.com, aber auch verschiedene deutsch und englischsprachige Artikel in Wikipedia).

Fazit

Thomé hat natürlich in verschiedenen Punkten recht:

  • Es ist sinnvoll, im Unterricht nicht die Buchstaben, sondern die Laute zu benennen.
  • Es ist sinnvoll, Schüler_innen Laut-Graphem-Entsprechungen sowie die Häufigkeit verschiedener Muster bewusst zu machen und für die eigene Rechtschreibung als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen; allerdings sind die jeweiligen Lautwerte, welche durch Grapheme wiedergegeben werden, zu reflektieren. Außerdem: das geht auch – wie das Duden Aussprachewörterbuch im Abschnitt „Lautungs-Schreibungs-Korrespondenzen“ zeigt – ohne den Begriff des „Phonems“ einzuführen. Auch sollten die Beziehungen zwischen Lauten und Graphemen nicht nur in Bezug auf einen Deutschstandard, sondern auch kontrastiv zu regionalen Verkehrs- und Umgangssprachen behandelt werden.
  • Es ist sinnvoll, die Rechtschreibung mit Wissen zum Standarddeutschen zu verbinden; aber nicht in der Form, dass man verlangt, dass alle Schüler_innen es vorher beherrschen; noch dazu im Kontext eines überholten Absolutheitsanspruchs einer einzigen gültigen Norm.
  • Thomé hat auch recht, wenn er möglichst viel kreatives Schreiben als Zugang zur Rechtschreibung fordert. Aber er gibt keine weiteren pädagogischen Einzelheiten dazu preis (Hilfsmittelverwendung, Gruppenarbeiten, intensive Kommunikation über Ziele und Grenzen von Rechtschreibregeln, alternative Verschriftlichung z.B. in der Dialektliteratur; vgl. Siebenhaar und Voegeli, Mundart und Hochdeutsch im Vergleich, www.home.uni-leipzig.de/siebenh/pdf/Siebenhaar_Voegeli_iPr.pdf).
  • Der Autor hat sicher insofern recht, als linguistische Kompetenzen in der Lehrerausbildung bezüglich Sprachentwicklung und für Sprachfächer grotesk unterrepräsentiert sind und ihre Nichtberücksichtigung vielen Verantwortlichen nicht einmal bewusst ist; sie haben ja PädagogInnen und PsychologInnen für die Sprache. Zu dieser Situation haben freilich manche Linguist_innen durch jahrelange fruchtlose Debatten um formale Sprach- und Grammatikmodelle fleißig beigetragen. Die relativ junge Kognitive Linguistik (www.cognitivelinguistics.org) würde aber jetzt wieder eine Basis für die Anwendung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Schule bieten.

Thomé weist nicht darauf hin, dass es grundlegende Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (und unterschiedlichen Registern in diesen Varianten) gibt (Wortwahl, Satzbau, Textgestaltung, vgl. Hennig, Grammatik der gesprochenen Sprache, Kassel 2006)), die im Unterricht ebenso zu erarbeiten sind wie die Rechtschreibregeln für einzelne Wörter und deren Kenntnis mindestens gleich wichtig ist. Eine umfassende Information zur Förderung der Schreibkompetenz gibt etwa Kap 4 in „Schreibstrategien und Schreibprozesse“ (www.yumpu.com/de/document/view/).

Die stärksten Argumente gegen das Buch sind die auswählende Zitation von Literatur im Interesse des eigenen Ansatzes, die unvollständige Behandlung der gewählten Themen bzw. das Fehlen eines Überblicks. Thomé bietet nicht einmal ein vollständiges Bild seines Ansatzes, sondern verteilt diesen – sich z.T. wiederholend – auf mehrere Kapitel.

Die Strategie, aus wahren Kernen große Irrtümer zu konstruieren, verärgert Fachleute und führt interessierte Eltern und Schüler_innen in die Irre. Als sehr negativ sehe ich, dass der Titel des Buchs den Eindruck erzeugt, man könne in ihm viel praktische Information zu Lese- bzw. Rechtschreibschwäche finden, was aber nicht der Fall ist. Ich kann das Buch daher nicht empfehlen.

Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
Mailformular

Es gibt 80 Rezensionen von Franz Dotter.

Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 23867 Rezension 29869

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 20.10.2017 zu: Günther Thomé: ABC und andere Irrtümer über Orthographie, Rechtschreiben, LRS. ISB-Fachverlag (Oldenburg) 2017. 4., erweiterte Auflage. ISBN 978-3-942122-23-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23348.php, Datum des Zugriffs 03.06.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht