Sandro Mezzadra, Mario Neumann: Jenseits von Interesse und Identität
Rezensiert von Arnold Schmieder, 15.11.2017

Sandro Mezzadra, Mario Neumann: Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. LAIKA-Verlag GmbH & Co. KG (Hamburg) 2017. 72 Seiten. ISBN 978-3-944233-89-5. D: 9,80 EUR, A: 10,10 EUR.
Thema
Als „Flugschrift“ wird dieses Buch auf der Rückseite des Mantels bezeichnet. Tatsächlich schließt diese Schrift an die Tradition jener Flugschriften des 17. und 18. Jahrhunderts an, mit denen versucht wurde, Politik zu beeinflussen oder gar in neue Bahnen zu lenken. Mezzadra und Neumann wollen beides zugleich, wie dem Klappentext zu entnehmen, nämlich auf die theoretischen Irrtümer und daraus folgenden praktischen Stolpersteine von Spielarten des Linkspopulismus aufmerksam machen und zugleich Marx´ Begriff der „Klasse“ revitalisieren und gegenüber einer „linken Klassenvergessenheit“ (S. 7) zeitgemäß aktualisieren, um damit, mit einer an solchem Klassenbegriff orientierten emanzipatorischen Politik, „Grundlagen für die Universalisierung eines Kampfes“ in die Diskussion einzuspeisen, „der darauf zielt, die Welt und das Leben zu verändern.“ (S. 63)
Aufbau
- Im ersten Teil werden unter dem Titel vom „Klassenkampf zur Neuen Linken“ und da ausgehend von Marx theoretische und historische Entwicklungen kritisch dargestellt und erörtert, wobei wesentlicher argumentativer Angelpunkt dann, wie im Untertitel des Buches angekündigt, das „Erbe von 1968“ ist, der damaligen (nicht nur) Studentenbewegung.
- Damit ist gleichsam der Hintergrund für den zweiten Teil eröffnet, in dem die Autoren ihr Thema „Linkspopulismus und Klassenpolitik“ im abschließenden Unterkapitel zur „Suche nach dem neuen Proletariat“ einer Antwort zuführen, die sie als anleitend für linke Politik verstehen.
Inhalt
In ihrer Einleitung bestreiten die Autoren, „dass die weit verbreiteten Vorstellungen von Klasse der gegenwärtigen Zusammensetzung der lebendigen Arbeit und der globalen Ökonomie angemessen sind“, und ebenso wird die „Identität von Klassenfrage und sozialer Frage und die Gleichsetzung von Klassenbewusstsein mit materiellen Interessen“ von ihnen bestritten. Vielmehr geht es darum, eine „zeitgemäße Klassenpolitik“ zu entwerfen und in Angriff zu nehmen, wozu auch die Frage zu klären ist, wie aus der „Arbeiter*innen-Bewegung die Neue Linke geworden ist.“ (S. 9) Ein weites Feld ist eröffnet, insoweit es wesentlich auch um logische Analyse sowie Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen und Revolten geht.
Im Teil 1, der in sieben Unterkapitel gegliedert ist, greifen die Autoren zunächst die Analysen und Thesen von Didier Eribon auf und diskutieren das Problem, die Neue Linke habe sich von der ArbeiterInnenklasse in „eine sozial entkernte ‚Identitätspolitik‘ verabschiedet“, und die „alte Linke (die Sozialdemokratie)“ habe sie „verkauft“. Gleichwohl stelle sich das Problem komplizierter dar; Eribon habe ein Vakuum skizziert, dessen Entstehung tiefer auszuloten ist. Zudem glauben die Autoren, dass gerade in Deutschland ein anderes Problem vorliegt, „nämlich, dass die deutsche Linke ihre eigene Modernisierung niemals ausreichend verarbeitet und in eine neue politische Linie überführt hat.“ Ihre „starke Prämisse“ ist: „Die Neue Linke, die Frauenbewegung und die Kämpfe der Migrant*innen sind keineswegs das Gegenteil von Klassenkämpfen, sondern stehen historisch in deren Zentrum und somit auch für eine Herausforderung der objektiven Grenzen des traditionellen Marxismus und seines Klassenbegriffs.“ (S. 11 f.)
Folgerichtig setzen die Autoren bei Marx an und zeigen ein „Moment der begrifflichen Desorientierung bei Marx“ auf, was nicht nur dem nicht zu Ende gebrachten Klassenkapitel geschuldet ist. Angesichts einer schon von Marx erkannten ‚Interessenvielfalt‘ warnen sie davor, den Begriff „der ‚produktiven Arbeit‘ allzu einfach zu fassen“; vielmehr gelte es, jene Spannung aufzugreifen, die im „unklaren Verhältnis zwischen ‚Proletariat‘ und ‚Arbeiterklasse‘“ besteht, was schon bei Marx zu entnehmen sei und auf zwei analytische Ebenen hinweise, nämlich die der „Kritik der politischen Ökonomie“ und der „Beschreibung und theoretischen Reflexion über die aufständische proletarische Aktion“, was die Autoren zu einer „methodischen Mahnung“ führt, „die subjektive Verkörperung (und Zusammensetzung) der Klasse nicht als selbstverständlich zu betrachten.“ (S. 14 ff.) In neuerer Zeit, vor allem im Anschluss an die Arbeiten von Foucault, sei die soziale Frage zu einer „gouvernementalen Kategorie“ geworden, was daran erinnere, dass die soziale Frage und die Klassenfrage keineswegs gleichzusetzen sind, vielmehr das Augenmerk auf die „staatliche Bearbeitung“ der sozialen Frage gelegt wurde und wird. Rückblickend ist eine „objektivistische und ökonomistische Interpretation des Klassenbegriffs“ zur Zeit der Zweiten Internationale mit der Stoßrichtung auszumachen, „objektiv mit der gouvernementalen und staatlichen Umdeutung der sozialen Frage zu kooperieren“, wobei es Ausnahmen und Kritiken gegeben hätte, etwa mit Rosa Luxemburgs Betonung der „Rolle von Arbeiterspontaneität, sozialistischer Demokratie und Massenaktion“. (S. 17 f.) Schließlich sei mit der Oktoberrevolution (die bereits „mit dem Streik der Frauen in St. Petersburg“ im Februar begonnen habe) eine neue politische Welt „im wortwörtlichen Sinne“ mit Auswirkungen auf das gesamte Europa geboren worden. Dabei nehmen die Autoren die These von Negri auf, im Zeichen des Oktobers sei das 20. Jahrhundert „durch einen Prozess der ‚Konstitutionalisierung der Arbeit‘ gekennzeichnet gewesen“, was heißt, „die Macht der Arbeiterklasse unter den Umständen der industriellen Massenproduktion zur gleichen Zeit anzuerkennen und zu mystifizieren.“ (S. 19 f.)
Der Arbeiterbewegung in der Zeit des Wohlfahrtsstaates gehen Mezzadra und Neumann mit einem Verweis auf die Gewerkschaftsfrage nach, betonen aber in der Hauptsache die Aktionen einer „rebellische(n) Generation von jungen Proletarier*innen durch ihre Verweigerungspraktiken in den 1970er Jahren“, die den „demokratischen Wohlfahrtsstaat radikal in Frage stellten und in eine politische Krise stürzten.“ Sie halten fest, diese Aufstände und Kämpfe hätten „auf eine absolut konkrete Weise die Wiederentdeckung des Begriffs der Klasse als Spannungsfeld bedeutet – was natürlich die ‚andere Arbeiterbewegung‘ unaufhörlich politisiert“ habe. Mit Hinweisen auf u.a. die „Praktiken von postkolonialen Migrant*innen“ kritisieren die Autoren die nationale Verengung von Thompsons Begriff des „‚making‘ der Arbeiterklasse“ (des Werdens und darin der Erfahrung als ‚Klasse‘) und verweisen auf den italienischen Operaismus und dessen „Prägung des Begriffs ‚Klassenzusammensetzung‘“ (S. 23 f.), um danach auf die Revolten des Mai 68 zu kommen, Kürzel für eine „globale historische Konjunktur der Revolte“ mit „antisystemische(r) Dynamik“ und vermittels des Vietnamkrieges getragen von einer „anti-imperialistischen Mobilisierung“ im internationalen Maßstab, womit sich die anhaltende und derzeit wieder hochaktuelle Frage „einer dieser globalen Konstellation angemessenen linken Politik in der kapitalistischen Metropole“ stellte und stellt. Und wieder verweise dieses Problem auf die „Frage der Solidarität und schon wieder auf die Nichtreduzierbarkeit der Klasse auf eine ‚objektive Lage‘.“ Die Neue Linke ‚vergaß‘ zwar nicht den Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, blieb aber nicht auf den Konflikt von Lohnarbeit und Kapital fixiert, sondern versuchte sich in „einer ‚ethischen‘ Kritik des bürgerlichen Lebens“, wovon „neue politische Dimensionen“ inspiriert wurden. (S. 25 ff.)
Darüber dürfe nicht vergessen werden (was die Autoren der damaligen Linken anlasten), dass zumal in den großen Streikwellen von 1973 „die ‚Gastarbeiter‘ in Deutschland Protagonisten von radikalen Kämpfen“ waren, „die auch die ‚deutsche‘ Arbeiter*innenbewegung neu belebten.“ Bedeutsam ist auch, dass zumal in den Kämpfen der Frauenbewegung jener „blinde Fleck der Marxschen Analyse“ politisiert wurde – Reproduktionsarbeit, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Patriarchat –, was zeigte, und zwar global, dass „der Hauptwiderspruch von Kapital und Arbeit so ganz und gar nicht der Erfahrung von etwa 50 % der Bevölkerung entsprach.“ Daraus resultiere ungebrochen die Aufgabe, „nicht nur auf die Dimension der Mehrwertproduktion“ zu verweisen, „sondern auch auf die herrschaftliche Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, welche wiederum quer zu eindimensionalen Klassenbegriffen verläuft“. Die Autoren halten summa summarum fest, dass die „Grenzen zwischen ‚produktiver‘ und ‚unproduktiver‘ Arbeit, Produktion und Reproduktion, Arbeit und Leben, Prekarität und Erwerbslosigkeit (…) heute nicht verschwunden, sondern zu wesentlichen Orten des Kampfes und der Politisierung geworden“ sind. Wenn die Autoren angesichts von ‚Subjektivierungen‘ doch von „Klasse als einem Spannungsfeld“ reden, bestehen sie dabei einerseits darauf, „dass die heutige Zusammensetzung dieser Subjekte keine objektivistische Reduktion auf eine einzelne Figur ermöglicht.“ Andererseits weisen sie darauf hin, „dass Klassenpolitik heute notwendigerweise das Problem einer Koalition stellt, die heterogene Erfahrungen vermitteln und die offene Formen ihrer gemeinsamen Politisierung ermöglichen kann.“ (S. 31 ff.)
Gleichwohl bleibt: „Klasse präsentiert sich als ein komplexes Rätsel.“ Das (zumindest vorschlagsweise) zu lösen, treten Mezzadra und Neumann im Teil 2 an, wobei sie zunächst auf die Probleme um „Heterogenität ‚der‘ Klasse“, um Artikulationsmöglichkeiten von „Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen im Rahmen eines Klassenkampfes“, Verkennungen durch eine „rein objektivistische oder logische Ableitung der Klasse“ eingehen und daran festhalten, dass Klasse ein „Spannungsfeld“ ist, „innerhalb dessen die Frage der Subjektivität immer präsent ist.“ Klargeworden dürfte sein, meinen die Autoren, dass „Phänomene des ‚Überbaus‘ (…) einen darunterliegenden und gleichbleibenden Grundkonflikt“ nicht nur abschatten, „sondern im Gegenteil die Klasse selbst verändern und bestimmen.“ „Kernfrage des Politischen“ bleibt (seit Marx) „die Beziehung von (linker) Politik und einer (sich in Bewegung artikulierenden) sozialen Realität“, wobei u.a. prominent im Fokus bleibt: „Welches Wir gilt unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus als primärer Bezugspunkt?“ (S. 35 f.) Eine Kritik an Laclau und Mouffe und dem Zungenschlag gegen den „Essentialismus des Klassenbegriffs“ mit letztendlich der Perspektive einer „Theorie der radikalen Demokratie“ und linkspopulistischem Festhalten am Nationalstaat als „ausschließliche(m) politische(m) Bezugsrahmen“ veranlasst die Autoren, sich den „lateinamerikanischen Erfahrungen der letzten Jahre“ zuzuwenden, die „globalisierungskritische Bewegung und die Bewegung der Plätze 2011“ in den Blick zu nehmen. (S. 36 f.)
Für die lateinamerikanischen Gesellschaften halten die Autoren fest, dass „populistische Sprache“ auf fruchtbaren Boden fiel und von linken Kräften mit Erfolg eingesetzt wurde, betonen zugleich, dass eine Verschränkung von Aktionen fortschrittlicher Regierungen und kämpferischen, konfligierenden Bewegungen große Wirksamkeit auf Transformationsprozesse zeigte, allerdings habe das „linkspopulistische Moment (…) diese eigentümliche Dynamik unterbrochen, während die regionale Integration dem Wiederaufkommen von nationalen Interessen auswich und die ökonomische Lage schlechter wurde.“ (S. 42) Für die Diskussion des Klassenbegriffs bleibt festzuhalten, dass er durch „subalterne, populäre und indigene Revolten in Frage gestellt worden“ ist und sich „darin sowohl radikal verändert als auch geöffnet“ hat. (S. 40) Die Multitude, „auf eine offene, radikaldemokratische Konstituierungsbewegung“ verweisend, „die die Heterogenität ihrer Zusammensetzung nicht der Einheit aufopfert“ (S. 45), wird von den Autoren wie die „Comuna“ (S. 43) unter dem für die Autoren wichtigen Gesichtspunkt (eben auch einer „‚Globalisierung von unten‘“) behandelt: „Migration wurde einerseits als ein wesentlicher Teil der Klassenzusammensetzung und andererseits als eine Kraft, die die nationale Begrenzung des Volksbegriffs radikal in Frage stellt, anerkannt.“ (S. 44) Der Begriff der Multitude fordere heraus, Klasse eben als Spannungsfeld zu betrachten, „in dem ausgebeutete, nicht-traditionelle Subjekte ihren Platz finden können“, wobei sie die „Relevanz von proletarisierten intellektuellen Subjekten“ weder unterschlagen noch überbetonen wollen und unter dem Strich darauf optieren, dass die „Notwendigkeit einer globalen Bewegung und einer Neuerfindung des Internationalismus bestehen“ bleibt. (S. 46 f.) Im Anschluss kommen Mezzadra und Neumann auf einen nicht unproblematischen, von der „Bewegung der Bewegungen“ genährten „aktivistischen Stil (…), der grundsätzlich nomadisch war und darin bestand, von einem Gipfeltreffen oder Forum zum nächsten zu ‚hüpfen‘“, worin die Fragen um Klasse, Armut und sozialer Ungerechtigkeit niemals gänzlich verschwunden waren, auch indem sie „die umfangreichen und unerträglichen Bedingungen des Lebens insgesamt“ thematisierten. (S. 47 ff.) Am Beispiel Griechenland wird deutlich, dass eine „diskursive Reorganisation des politischen Feldes (…) den Raum für neue soziale Dynamiken“ eröffnete und dass „Klasse“ nicht schlicht „Gegebenheit des Kapitalverhältnisses ist, sondern immer auch ein aktiver Prozess und eine Entscheidung“, insofern ein Mehr als eine „objektive ‚soziale Lage‘“, nämlich eine „solidarische und bewegte Praxis des Gemeinsamen“, nach Einschätzung der Autoren eine „bedeutsame Lehre.“ (S. 50f.)
Dem neuen deutschen Linkspopulismus halten sie dessen Aufnahme und Behandlung der ‚Geflüchteten‘ und ‚deutschen Unterschichten‘ kritisch vor Augen und stellen jenseits allen wahltaktischen Kalküls „ernsthaft die Frage (…), inwieweit die implizit oder explizit betriebene Ausgrenzung der Geflüchteten aus jeder politischen Überlegung das Resultat einer blanken Unfähigkeit ist, politische und transnationale Alternativen zu entwickeln, die den Verhältnissen des gegenwärtigen globalisierten Kapitalismus angemessen sind.“ Statt einer Erneuerung würden so die traditionellen Grenzen „linker Klassenpolitik“ befestigt, dabei gleichsam eine „Statusgruppe“ unter der Hand privilegiert (vielleicht ein „Zugeständnis an Teile des Wahlvolkes“), wobei jedoch festzuhalten sei, „dass wir es erneut mit dem Versuch einer Revitalisierung des Hauptwiderspruchsdenkens zu tun haben, der in der Konsequenz zu einer Politik führt, die tatsächlich patriarchale, nationalistische und generationelle Schlagseite hat und insofern alles andere als eine ‚Klasse für sich‘ bilden kann.“ (S. 53 ff.)
Abschließend machen sich Mezzadra und Neumann auf die „Suche nach dem neuen Proletariat“; ein Unterkapitel, das sowohl als Zusammenfassung wie pointierte Darstellung der Thesen und Überlegungen der Verfasser gelten kann, die für linke Politik belangvoll sein dürften. Wiederholt bestehen sie darauf, „dass Klasse und soziale Frage keineswegs synonym sind“, letztere vielmehr seit über einem Jahrhundert eine „gouvernementale Kategorie“ und Grundlage dafür ist, die Arbeiterbewegung in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, was durch die „Hegemonie eines objektivistischen und ökonomistischen Klassenbegriffs“ noch befördert worden sei. Gleichwohl bleibe der Klassenbegriff nach wie vor eine „zentrale Herausforderung für die Begründung jeder linken Politik“, dessen Grundzüge von andauernder Aktualität seien, die aber „neu gedacht und formuliert werden“ müssten, da die „Produktionsverhältnisse im heutigen Kapitalismus (…) durch einen hohen Grad von Sozialisierungen geprägt“ seien und viele „Grenzen“ (z.B. zwischen Produktion und Reproduktion) zwar nicht abgeschafft, dafür aber fraglich geworden seien, was Folgen für die „Zusammensetzung wie auch für das Erlebnis der Klasse“ habe. Damit sind die Autoren beim Klassenbewusstsein, das mehr ist als die „Verfolgung des eigenen Interesses“ und wobei jenes „Wiedererkennen im Anderen“ heute mehr denn je erschwert und darum umso dringlichere politische Aufgabe sei und herausfordere: „durch die Heterogenität und all diese Unterschiede hindurch das Gemeinsame entdecken, politisieren und aktiv erfinden zu müssen, das notwendigerweise eine etwas ‚abstraktere‘ Form haben wird, weil es nicht mehr auf die relative Homogenität von Lebens- und Arbeitsbedingungen rekurrieren kann.“ (S. 56ff.) Zumal als theoretisches Werkzeug liege der Klassenbegriff „im Herzen jeder linken Politik“, die ihn nicht auf eine „Rhetorik der Klasse“ reduzieren dürfe. Von Foucault entlehnen die Autoren die „Kämpfe um Subjektivierung“ und kehren hervor, sie seien wesentlicher Teil heutiger Auseinandersetzungen, zwar von der Frage der Arbeit affiziert, nicht aber auf „Kämpfe auf dem Terrain der Arbeit“ zu reduzieren, die jedoch (z.B. sexuelle Gewalt, alltäglicher Rassismus u.a.m.), da sie sich nicht auf dem „vom Marxismus abgesteckten Terrain“ bewegten, nicht diffamiert werden dürften, „nur weil sie keinen systematischen Platz in einer lohnarbeitszentrierten Weltsicht haben“. Sicher könne der „Staat nicht das Gravitationszentrum einer Politik der Befreiung“ sein; dies aber „Migrant*innen und Frauen“ abzusprechen, die „überhaupt nicht oder jedenfalls nicht prominent in der politischen Agenda des Linkspopulismus“ vorkommen, mehr noch und anders, die „Fixierung der Neuen Linken auf solche Subjekte“ habe „identitätspolitische Übertreibungen und Klassenvergessenheit“ gefördert, halten die Autoren gerade darum für verfehlt, weil „historisch die Mobilisierung von Migrant*innen und Frauen absolut zentral auch für die Vertiefung und Radikalisierung von Klassenpolitik gewesen ist.“ Abschließend illustrieren sie dies mit einem Streikaufruf von Frauen und einer Demonstration im März 2017 in Buenos Aires, womit initiiert wurde, „die Forderung einer Vielfalt von subjektiven Figuren der Arbeit (formell und informell, prekär und migrantisch, Lohnarbeit und Hausarbeit) zu politisieren.“ Was das Kollektiv NiUnaMenos dazu schreibe, habe einen „starken konstituierenden, positiven Charakter: ‚Die Stärke unserer Bewegung (…) besteht in den Bündnissen, die wir zwischen uns bauen… – bauen wir eine Welt, in der wir leben wollen‘!“ Dies wollen die Autoren exemplarisch als „Grundlagen für die Universalisierung eines Kampfes“ verstanden wissen, was es in ihrem Verständnis des Klassenbegriffs aufzunehmen gilt. (S. 61 ff.)
Diskussion
Diesem Buch, für das die nur positiv zu verstehende Bezeichnung als Flugschrift durchaus treffend ist, würde man nicht gerecht, entnähme man der Lektüre nur etwa Hinweise, doch wieder Marx zu lesen und nicht nur das „Kapital“, um in den heutigen ‚Erscheinungen‘ des Kapitalismus sein ‚Wesen‘ zu identifizieren, um den ‚Hauptwiderspruch‘ nicht zu vergessen und dabei die ‚Nebenwidersprüche‘ eben nicht zweitrangig zu behandeln und auch nicht die ‚Subjekte‘, die aus dem Begriffshorizont eines „traditionellen Marxismus“ (s.o.) herausfallen, sondern ihre Virulenz in oppositionellen Bewegungen und Kämpfen ernst zu nehmen – in und für linke politische Praxis, die insbesondere nationale Blickwinkelverengungen zwingend zu überwinden hat. Am Rande: Den Erblassern von 1968 war durchaus klar, dass eine Koexistenz von nationaler Identität und Klassenkampf ein Unding war und in den 70er Jahren wurde im Schulterschluss mit ArbeitsemigrantInnen deutlich betont: „Wir sind alle Fremdarbeiter“ (so der Titel eines Buchbeitrages im von Bamberg und Bosch 1973 herausgegebenen „Politisches Lesebuch“). Mezzadra und Neumann sprechen jedoch in einer sehr konzisen Darstellung all jene neuralgischen Diskussionspunkte an, ausgewiesen durch knappe, aber nicht interessiert aufbereitete Informationen, die in einer (zu erneuernden) Neuen Linken (nicht erst) mit und seit dem „Erbe von 1968“ auf der Tagesordnung stehen und inzwischen arg auf den Nägeln brennen. Es geht ihnen um eine – den aktuellen Verhältnissen angemessene und überfällige – (Neu-)Justierung linker politischer Praxis. Die Aufforderung zur Theoriearbeit bleibt bestehen, und zwar im Sinne einer kritischen Aufnahme und Auseinandersetzung mit vormaliger marxistischer Wissenschaft und folgenden politischen Orientierungen, was auch für heutige Interpretationen des Marxschen Werkes gilt. In Bezug auf eine Politisierung der Klassenfrage beziehen die Autoren eine vergleichbare Position, wie sie „in der heutigen linken Debatte mit verschiedenen Nuancen vertreten“ wird und kehren an „einige(n) Stellen des Marxschen Werkes“ solche „vielfältigen Spannungen, Oszillationen und sogar Widersprüche des Klassenbegriffs“ heraus, die es „politisch produktiv“ zu machen gilt. (S. 55 f.) – Es geht also um Marx selbst, nicht um ‚Marxismen‘. Da dürfte Klärungsbedarf bestehen.
Was Mezzadra und Neumann damit ansprechen, wird schon länger insbesondere im Hinblick auf Marx´ Klassen-Manuskript diskutiert, das bekanntlich abbricht. Das mag damit zusammenhängen, dass, wie Marx in einem Brief an Joseph Weydemeyer schrieb, ihm „nicht das Verdienst“ gebühre, „weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben“, was bürgerliche Geschichtsschreiber längst vor ihm getan hätten. Was verwirrend sein kann, ist, dass sich zu ‚Klasse‘ Äußerungen auf verschiedenen Abstraktionsstufen finden lassen, Pointierungen von Dualität in den politischen Schriften, in den historischen „Frankreich-Schriften“ eine Auffächerung, wo er zwischen Großgrundbesitzern und Bauernklasse unterscheidet, zwischen Finanzbourgeoisie, industrieller und kleiner Bourgeoisie, Proletariat, Lumpenproletariat, Intellektuellen, die in politischen Kämpfen bestimmte – idealtypische – Positionen beziehen, wobei Machtgruppen hinzukommen, Staatsverwaltung, Armee, Klerus. Verzwickter gerade im Hinblick auf die Ausbildung eines Klassenbewusstseins wird es, wo man den Blick auf Mittelstände, auf Zwischenschichten und Fraktionierungen innerhalb der Klassen richten muss, wo Faktoren wie (u.a.) Nationalität oder Geschlecht einbezogen werden müssen. Das war Marx durchaus bewusst, was den Autoren nicht entgangen ist und sie vermuten, ihn habe angesichts der „Zersplitterung der Interessen und Stellungen“ (Marx) eine „Art Schwindelgefühl“ (S. 14) erfasst, was schwerlich mit Quellen zu stützen ist. Marx hielt zunächst fest, dass mit der Auflösung ursprünglicher Gemeinwesen „die Spaltung der Gesellschaft in besondre und schließlich einander entgegengesetzte Klassen“ begann, wie es bereits im ‚Kommunistischen Manifest‘ heißt, und weiter: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Zugleich sah er, was heute die Gazetten füllt, dass die „bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern“, dass „alle diese Klassen ins Proletariat hinab(fallen)“.
Auch Frauen bleiben nicht außen vor; die Kritik lautet, der „Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument“, und die – politische – Perspektive muss sein, „die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben.“ Alles, was angesprochen wird, sinkt nicht neben dem Klassenbegriff zu einer Residualkategorie herab, selbst das Lumpenproletariat nicht, „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“, das „seiner ganzen Lebenslage nach (…) bereitwilliger sein (wird), sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ Waren emanzipatorische Interessen ehestens solche der Arbeiterklasse, einer „Klasse an sich“, sah Marx dort durchaus nicht ungebrochene Entwicklungen (die anhalten, deren Erscheinungsformen sich gewandelt haben, die politisch aufzunehmen sind): „Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.“ Und wenn es weiter heißt, es bedürfe „aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren“, tut man dem Text keine Gewalt an, wenn man ‚nationalen‘ durch ‚internationalen‘ ersetzt – ganz im Sinne jenes „Proletarier alles Länder…“. Gleichzeitig entging Marx nicht, dass „(d)iese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, (…) jeden Augenblick wieder gesprengt (wird) durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ – Insofern ist bereits bei Marx selbst konturiert, was die Autoren in aktuellen Erscheinungen aufnehmen und sich eben aktuell als Problem für eine emanzipatorische und mehr als radikaldemokratische Politik stellt.
Jene ‚Spannungen‘, wie sie Mezzadra und Neumann im Werk von Marx ausgemacht haben wollen, sie sind insoweit beim ‚jungen‘ Marx selbst schon zu finden, und wenn ‚oszillieren‘ meint, da schwinge etwas hin und her zwischen partikularen, subjektiven (Fraktionen-)Interessen und einem objektiven, verallgemeinerten Klasseninteresse, dann ist dem zunächst mit Marx entgegenzuhalten, dass die „ökonomischen Verhältnisse (…) zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt“ hat und die „Herrschaft des Kapitals (…) für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen“ hat, womit „diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital (ist), aber noch nicht für sich selbst.“ Dann einen ‚Widerspruch‘ bei Marx auszumachen, ist schwer nachvollziehbar, zumal er selbst ‚einige Phasen‘ gekennzeichnet hat, aus denen jene „Klasse für sich“ erwächst (resp. erwachsen kann). Das ist ein Punkt, den die Autoren selbst mit Blick auf ‚Geschichte von unten‘ und in Erweiterung von Thompson hervorheben. Bei Marx lautet das im „Elend der Philosophie“: „In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigen, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ – Für den politischen Kampf heute ist (u.a. und erst einmal) bei den genannten „vielen Lokalkämpfen von überall gleichem Charakter“ einzuhaken, auch wenn sie nicht ‚von gleichem Charakter‘ sind oder scheinen (wobei wir uns längst inne sind, das ‚Lokale‘ im Weltmaßstab sehen zu müssen); bei der „Konkurrenz der Arbeiter“ untereinander, wobei dies nicht auf ‚Arbeiter‘ beschränkt ist oder scheint (wissen wir doch längst, dass die Kategorie der Arbeiterklasse buntscheckiger geworden ist und ‚Normalarbeitsverhältnisse‘ in der Geschichte eher die Ausnahme waren); bei den ‚Interessen‘, die im Kampf ‚verteidigt‘ werden, die sehr weit auseinanderdriften oder auseinanderzudriften scheinen (wobei wir vor Augen haben, dass ‚Kampf‘ eine Metapher für weltweite Revolten und Widerstände ist). Es geht um das ‚Scheinen‘: Soll Klassenbewusstsein über und in Solidarität gestiftet werden, welche die Autoren danach befragen, ob sie „eine egoistische, automatische oder gar intuitive Taktik zur Verfolgung eigensinniger Ziele oder vielmehr eine politische (ist), die nicht automatisch durch die Objektivität einer Lage entsteht“ (S. 57 f.), dann muss, um es mit den lapidaren Worten Marx´ aus der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ zu sagen, „der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden“ einschlagen, eine Aufgabe linker Politik, die über Erhellung der „Objektivität einer Lage“ eine Solidarität als Notwendigkeit ausweist, worüber sich – entgegen allem ‚Scheinen‘ – ein Klassenbewusstsein ausbilden kann: Klassenbewusstsein nicht in der Allgemeinheit von Aufhebung des ‚falschen Bewusstseins‘, als Durchschauen von ‚Mystifikationen‘, sondern als Innewerden der Wirkmacht eines ökonomischen Systems bis in subjektive Ausstattungen, die im nicht unbedingt unmittelbar erlebten, für das System nicht zu hintergehenden ‚Hauptwiderspruch‘ ihren Zentralnerv hat, der freizulegen ist, um ihn in seinen Verzweigungen und als letztendlichen Begründungszusammenhang in so genannten ‚Nebenwidersprüche‘ kenntlich zu machen, die in all ihren Erscheinungsformen nicht leichtfertig abzutun sind. Sie sind über alle nationalen Grenzen hinaus Initiationsmomente und Anknüpfungspunkte zugleich für Aufklärung einer emanzipatorischen Politik – und dies nicht erst da, wo sie ganz real existenzbedrohlich werden. Insofern ist bei den Autoren anzuschließen, „dass der Klassenbegriff nach wie vor eine zentrale Herausforderung für die Begründung jeder linken Politik bleibt.“ (S. 57)
Die weitere ‚Herausforderung‘ ist und bleibt, sich mit Marx´ Analyse der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft vertraut zu machen, die Kritik der politischen Ökonomie aufzunehmen und dadurch lebendig zu halten, dass Entwicklungen des Kapitalismus bis in gegenwärtige und bereits bröckelnde neoliberale Erscheinungsformen darauf abzubilden und dadurch zu erklären sind, was manchmal vielleicht gebetsmühlenartig erscheint, weil als längst bekannt unterstellt, doch aber notwendig bleibt, um Solidarität ‚auf die Füße zu stellen‘ und Klassenbewusstsein – konkret – gehaltvoll zu machen. Dazu gehört dann auch, sich mit Begriffen wie Wert, abstrakte Arbeit, Konkurrenz u.a.m. zu beschäftigen, nicht zuletzt mit dem Begriff der Freiheit, wie ihn Marx im Kapital entfaltet und ganz anders als den idealistischen Freiheitsbegriff fasst, nämlich als vermittels der ökonomischen Struktur immer gesetzte Unfreiheit. Das wappnet auf der Theorieebene gleichsam en détail ins Fahrwasser von Methoden der Integration von Desintegration zu geraten, denen neue Formen der Desintegration folgen, wie es von Adorno bereits analysiert wurde. Es nährt das Verstehen der zugrundeliegenden Ursache, für das der Begriff ‚Hauptwiderspruch‘ als Kürzel steht. Implizit ist die Aufforderung zu solcher Wissensaneignung der „Flugschrift“ zu entnehmen und solche dann Vergewisserung ist auch darum notwendig, um eben nicht einer „politischen Rhetorik“ zu folgen, die ohne Not „Klasse als etwas selbstverständliches, objektiv begründetes, darstellt“ (S. 14) – einerseits. Andererseits muss es auch darum gehen, auch das ist von Mezzadra und Neumann angeregt, mit solchem Rüstzeug in die akademische marxistische Debatte um Lesart und Deutung des Marxschen Werkes einzugreifen.
Als „Erbe von 1968“ können (u.a.) auch Untersuchungen von marxistischen WissenschaftlerInnen der 70er Jahre in der Bundesrepublik gelten, geboren aus Problemen außerparlamentarischer Opposition und Politik, in welchen Klassenstruktur, Klassenlage und Bewusstseinsformen erhoben wurden. Das Interesse war nicht nur ein soziologisches, vielmehr war es das Ziel, Begriffe wie Klasse und Klassenbewusstsein nicht zuletzt für den Zweck einer Klassenpolitik inhaltlich auszukleiden. Diskussionen um Differenzierungen zwischen dem ‚jungen‘ und dem ‚alten‘ Marx, dem Marx der Arbeiterbewegung und des „Kapital“ gab es auch in politischen Zusammenhängen bereits, hatten aber (noch) keinen prominenten Stellenwert. Was als Erbe von 1968 noch nicht absehbar war, ist eine positivistische Aufnahme von Marx, wie sie zurzeit unter dem Label einer neuen Marxlektüre von sich reden macht. Darunter soll ein „spezifische(r) Versuch“ verstanden werden, „das Gegenstands- und Methodenverständnis von Marx selbst zu rekonstruieren. Die Vertreter der neuen Marxlektüre eint die Ansicht, dass die bisherige Rezeption mehrheitlich ein verkehrtes oder zumindest restringiertes Verständnis der Grundbegriffe von Marx ausgebildet habe.“ (Elbe) Abgesehen davon, dass es bei Auflistung der von Elbe im „Marx Handbuch“ von Quante und Schweikard behandelten Autoren kaum einsichtig werden will, wie ihnen allen mehr oder minder umstandslos dieses Etikett anzuheften ist, wird man höchst irritiert, zu welchen Schlüssen solche neue Marxlektüre à la Elbe zumindest führt. So behauptet Elbe in einem Ankündigungstext zu einer Marx-Tagung von 2017 in Trier, „dass sämtliche dieser revolutionstheoretischen Vorstellungen und Kriterien von Marx´ ausgearbeiteter Ökonomiekritik systematisch“ zu widerlegen sind, womit „der wissenschaftliche Kern der Kritik der politischen Ökonomie als ‚negative Theorie in praktischer Absicht‘ erkennbar (wird), Marx als Kritiker auch des proletarischen Klassenbewusstseins sichtbar, als Kritiker geschichtsphilosophischer und politökonomischer Denkformen, der in seiner negativ-desillusionierenden Haltung gegenüber der Arbeiterbewegung das ‚polizeilich Erlaubte und logisch Unerlaubte‘ ihrer Sozialismusvorstellungen nachweist.“ Auf dieser weniger gewagten denn kruden Interpretation gründet Elbe seine These: „Nicht die Revolution, sondern ihre Unwahrscheinlichkeit und ihr Scheitern in ihren bisherigen Formen können mit Marx erklärt werden“, was er für „nicht wenig“ hält. Für erbärmlich wenig, möchte man erweitern, zumal aus philosophisch-wissenschaftlicher Sicht, und solchen Tönen ein selbst derart „restringiertes Verständnis“ bescheinigen, über das man eigentlich nur den Kopf schütteln kann, womit es aber nicht aus der Welt geschafft ist. Für Elbe, der solcherlei an einer Universität lehrt, folgt daraus politisch, dass eine ‚linke‘ Gegnerschaft gegen den Imperialismus völlig neben angezeigter Politik ist, der es um Abwehr antizionistischen Antisemitismus gehen muss, wie er von ‚den‘ Linken und der LINKEN und einer nahestehenden Stiftung zusammen mit Islamisten betrieben werde. Erich Frieds „Höre Israel“ und alle folgenden Diskussionen um dieses Problem scheinen spurlos an ihm vorbeigegangen zu sein. Noch mehr aber ist das Problem, dass Verweser des Marxismus wie Elbe sich mit viel Trara und Tamtam vom Katheder oder Podium aus Gehör verschaffen können und vor allem demokratisch gesinnte oder linksorientierte Studierende erreichen und sie so in den Bann der Gegenaufklärung schlagen können. Es geht sicherlich nicht darum, „dem objektiven Ernst der Lage mit dem Versuch (zu) begegnen, die soziale Wirklichkeit in das Korsett des 20. Jahrhunderts zu zwängen“ – was die Autoren Interventionen aus dem Umfeld der Partei DIE LINKEN anlasten –, es ist aber daran festzuhalten, dass die „Frage des Politischen eine Klassenfrage ist“ und es daher angezeigt ist, „eine zeitgemäße Klassenpolitik zu entwickeln.“ Das zu verhindern, tritt Elbe an, besorgt die ‚neue Marxlektüre‘ seiner Couleur.
Auch um solchen ‚Theorie‘, damit sie praktisch nicht folgenreich werden, begegnen zu können, bietet die Schrift von Mezzadra und Neumann Material, Kenntnisse, schärft Problembewusstsein. Sie führt gegenüber solchen Abgesängen die „Suche nach dem neuen Proletariat“ weiter. Gorz hatte bereits in seinen Büchern „Abschied vom Proletariat“ und „Wege ins Paradies“ auf der Basis der Feststellung, die ökonomische Entfaltung des Kapitalismus habe die Rolle des Proletariats als wirksame – und geschichtsmächtige – Gegenklasse sukzessive außer Kraft gesetzt, eine „Nicht-Klasse“ der „Nicht-Arbeiter“ als Motor zu einer emanzipierten sozialistischen Gesellschaft ins Gespräch gebracht; eine inzwischen verklungene Wende in der Diskussion um „Klasse“ und deren historische Mission. Mehr Aufmerksamkeit ist bspw. Guy Standing zu schenken und seiner „Charta des Prekariats“, wo er nach Möglichkeiten und Chancen einer „gestaltenden Klasse“ sucht; oder etwa auch Katrin Meyer, die in ihrem Buch über „Macht und Gewalt im Widerstreit“ vor allem in Bezug auf die – weltweite – Frauenbewegung anmahnt, „das Handeln mit anderen als sinnvoll zu erfahren, weil alle Beteiligten unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen in die gemeinsame Praxis hinein tragen.“ In solchen Arbeiten ist die Engführung des Klassenbegriffs zumindest ausgehebelt und jenes von den Autoren in den Vordergrund gerückte „Erlebnis der Klasse“ (s.o.) thematisiert, das begründeter Selbstvergewisserung bedarf, die nicht auf der ‚Erlebnishand‘ liegt. Dann kann eingelöst werden, was Horkheimer in einem Gespräch mit Adorno gegenüber verkürzenden Aufnahmen von Marx´ theoretischen Arbeiten und davon nicht abzuspaltenden praktischen Folgerungen meinte: „Das kritische Bewußtsein muß frei sein vom Marxismus, der besagt, wenn ihr sozialistisch werdet, wird alles gut.“
Fazit
„Jenseits von Interesse & Identität“ bietet gegen solche Entpolitisierung des Marxschen Werkes und durch kritische Würdigung linker und/oder radikaldemokratischer Theorie(n) und politischen Bewegungen ein Rüstzeug und hält politisch Aktive im breiten linken Spektrum an, sich nicht nur vertieft mit den von Mezzadra und Neumann behandelten Gegenständen zu beschäftigen, sondern in Diskussionen um eine zeitgemäße Politik in emanzipatorischer Absicht und dabei um Schulterschlüsse zu bemühen, gar um eine „zeitgemäße Klassenpolitik“, die solche ist, wenn sie das Wissen um das „Ganze“ bzw. um das transportiert, was Adorno unter dem Begriff „Bann“ fasste.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 15.11.2017 zu:
Sandro Mezzadra, Mario Neumann: Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. LAIKA-Verlag GmbH & Co. KG
(Hamburg) 2017.
ISBN 978-3-944233-89-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23351.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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