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Lena Huber: GrenzgängerInnen (Transmigration unter Asylbedingungen)

Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 16.10.2017

Cover Lena Huber: GrenzgängerInnen (Transmigration unter Asylbedingungen) ISBN 978-3-7799-3661-9

Lena Huber: GrenzgängerInnen. Symbolische Transmigration unter Asylbedingungen in Deutschland. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 403 Seiten. ISBN 978-3-7799-3661-9. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,30 sFr.

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Thema und Aufbau

Bei der vorliegenden empirischen Untersuchung handelt es sich um die Dissertation der Autorin. Sie umfasst neben einer Einleitung (Kapitel 1) insgesamt sechs Kapitel.

Im Fokus der Studie steht die „symbolische transnationale Lebensbewältigung“ von Menschen, die in Deutschland unter den rechtlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen des Asyls leben. Sie geht den Fragen nach

  • „Welche Formen symbolischer Überschreitung von (National-) Grenzen können unterschieden werden? Welche symbolischen Bedeutungsträger erweisen sich dabei als relevant?
  • Unter welchen Bedingungen greifen Akteure auf Formen symbolischer Grenzüberschreitung zurück und welche Bedeutung kommt diesen Formen im Kontext der Lebensbewältigung unter Asylbedingungen in Deutschland zu?“ (13)

Der Fokus auf symbolische Bewältigungsformen trägt der Tatsache Rechnung, „dass Transmigration (und auch Transnationalität!) keineswegs mit physischer Mobilität einhergehen muss, sondern Transmigration beispielsweise auch in Form mentaler oder symbolischer Bezüge, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten, zum Ausdruck kommen kann.“ (ebd.)

Inhaltliche Schwerpunkte

Im zweiten Kapitel „Wer lebt wie im deutschen Asyl“ skizziert die Autorin zunächst die Lebenssituation und die daraus erwachsenden Herausforderungen und Bewältigungsaufgaben der Akteure. Sie schildert die rechtlichen Bedingungen und die Konsequenzen unterschiedlicher Aufenthaltstitel auf Alltag und Perspektive der Betroffenen. Durch Einbeziehung ausgewählter diesbezüglicher Aussagen der Akteure, die sie in ihren Interviews gewonnen hat, gelingt es ihr, diese Auswirkungen konkret und Asyl als „erzwungenes Leben im Transit“ anschaulich zu machen.

Im dritten Kapitel „Forschungsgegenstand und theoretische Grundlagen“ gibt die Autorin zunächst einen Überblich über den Forschungsstand zur Transnationalität von Geflüchteten und konstatiert, dass es international sehr wenige Studien zu den sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Bezügen gibt, die Flüchtlinge vom Aufnahmeland aus zu ihren Herkunftsland aufrecht erhalten.

Diese beziehen sich auf

  • transnationale Gemeinschaften und soziale Netzwerke;
  • transnational organisierte Kriminalität;
  • Menschenrechte;
  • die Bedeutung (nationaler) Politik und Statusfragen sowie
  • transnationale Aktivitäten und die Konsequenzen für Soziale Arbeit. (vgl. 50)

Insgesamt ist der Forschungsstand allerdings eher unbefriedigend, was auch daran liegen kann, dass theoretische Grundlagen und überzeugende Erklärungsmodelle zur Transnationalität bislang nur sehr rudimentär vorhanden sind, wie die Autorin feststellt.

Anknüpfend an diese Erklärungsmodelle versteht die Autorin Transmigration als „Formen nationalstaatlicher Grenzüberschreitung, über die von AkteurInnen Verbindungen, die sich zwischen mehreren Länderkontexten aufspannen, hergestellt oder aufrechterhalten werden. Die vollzogene Grenzüberschreitung kann dabei über die Bewegung von Körpern oder Dingen genauso zum Ausdruck kommen, wie über (kollektive oder individuelle) Vorstellungen, Ideen, Orientierungen, Erinnerungen, die sich mittels Bedeutungsträgern materialisieren.“ (83)

Vor diesem Hintergrund entfaltet die Autorin ausführlich mit Rückgriff auf Schütz, Habermas u.a. relevante Aspekte unterschiedlicher Symboltheorien und stellt unterschiedliche Kategorisierungs- und Ordnungsmodelle vor. Sie macht dabei deutlich, „…dass symbolische Bezüge als Voraussetzung für die Herstellung von Intersubjektivität und Zugehörigkeitserfahrungen jenseits von direkten kommunikativen Beziehungen und face-to-face Kontakten fungieren.“ (115)

Als weitere theoretische Grundlage bezieht sich die Autorin auf das Konzept der Lebensbewältigung von Böhnisch, dessen Grundannahmen sie prägnant skizziert und in ihrem Untersuchungskontext diskutiert.

Im vierten Kapitel „Beschreibung des methodischen Vorgehens“ entwickelt und begründet die Verfasserin die Struktur und Umsetzung ihrer qualitativen Studie. Sie diskutiert zunächst die prekäre Zugangssituation zum Feld und damit verbunden die Rolle von Gatekeepern und relevanten Schlüsselpersonen. Entsprechend ihrem ethnographischen Ansatz stehen teilnehmende Beobachtung, ethnographische Gespräche und qualitative Interviews als Methoden für die empirische Erhebung zu Verfügung, die ausführlich vorgestellt werden. Das gilt in gleicher Weise für die Verfahren der Transkription, Kodierung und Auswertung.

Im fünften Kapitel „Empirische Analyse“ schließlich referiert die Autorin (endlich, nach 198 Seiten) ausgewählte Ergebnisse ihrer Studie. Sie identifiziert anhand ausgewählter Interview- und Beobachtungsprotokolle zentrale Strategien und Alltagspraxen symbolischer Transmigration und analysiert plausibel deren Voraussetzungen, Funktion, Effekte und Verbindungen. Im Zentrum stehen dabei vor allem Träume, religiösen Rituale und Identität stiftende Alltagsrituale. Deutlich arbeitet die Autorin deren Funktion als Angst reduzierende Bewältigungsstrategien und kollektive Unterstützungsressourcen gegenüber Belastungen heraus, „die in Form des Erlebens von Langeweile, Selbstwertverlust und Orientierungslosigkeit,…einer mehr oder weniger selbstbestimmten Alltagsgestaltung, Erfahrungen sozialer Anerkennung und dem Gefühl von Handlungsmächtigkeit entgegenstehen.“ (325) Hinzu kommen Fremdheitserfahrunen durch sprachliche und kulturelle Differenzen und ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit. Strategien symbolischer Transmigration helfen, die Belastungen auszuhalten und im besten Fall schrittweise zu überwinden.

Im sechsten Kapitel „Theoretische Modelle“ unternimmt die Autorin den Versuch, ihre empirischen Befunde in einem theoretischen Modell zusammen zu fassen. Sie entwirft hierfür eine Typologie und unterscheidet

  • kontinuitätsstiftende symbolische Transmigration
  • harmonisierende symbolische Transmigration
  • Zugehörigkeit aktualisierende symbolische Transmigration (335),

fasst deren jeweilige Kennzeichen und Funktionen knapp zusammen und stellt sie jeweils in einer komplexen Matrix dar. Sie führt (nochmals) die mit diesen Typen verbundenen Strategien aus und identifiziert die im Rahmen dieser Strategien jeweils relevanten symbolischen Bedeutungsträger.

Im abschließenden Kapitel „Abschlussdiskussion“ ordnet die Autorin die Ergebnisse ihrer empirischen Studie in den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs ein. Ein (politisch) wichtiges Ergebnis dabei ist, dass Strategien symbolischer Transmigration und soziale Integration sich keineswegs ausschließen. „Vielmehr zeigt sich, dass transnationale Orientierungen und Gestaltungsweisen auch soziale Integration und Inklusion auf anderen Ebenen forcieren kann; vorausgesetzt, es wird hierbei kein Assimilationsmodell zugrunde gelegt, das die Aufrechterhaltung von Bezügen zum Herkunftsland als Zeichen sozialer Desintegration wertet.“ (370) Die Autorin betont die Ambivalenzen der Akteure in ihrer Haltung zum Herkunftsland ebenso wie zum Ankunftsland und beschreibt sie als kompetente und kreative transnationale Akteure.

Fazit

Wie eingangs bereits erwähnt, handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine Dissertation. Als solche weist sie alle Eigenschaften auf, die von einer fundierten Dissertation erwartet werden: Begriffe und Definitionen werden ausführlich und prägnant hergeleitet, der aktuelle Forschungsstand wird multiperspektivisch erörtert, die gewählten Forschungsansätze und -methoden werden detailliert beschrieben und begründet usw. Nur: eine fundierte und nach den Regeln der Profession verfasste Dissertation macht (in aller Regel) noch kein gut lesbares und anregendes Buch. Im vorliegenden Fall hat der Verlag versäumt, durch ein verantwortungsvolles Lektorat auf deutliche Kürzungen zu drängen und stilistisch eben gerade durch Glättung der allzu sehr an eine Dissertation gemahnenden Passagen aus dem Text ein lesenswertes Buch zu machen. In der vorliegenden Form ist es für PraktikerInnen z.B. in der Betreuung von Geflüchteten eine schwere Kost, für Wissenschaftler hingegen über weite Strecken redundant. Das ist sehr schade, weil die konkreten inhaltlichen Ergebnisse dieser Studie durchaus interessant sind und hilfreichen Aufschluss über symbolische Bewältigungsformen in der Lebenswelt des Asyls geben.

Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 16.10.2017 zu: Lena Huber: GrenzgängerInnen. Symbolische Transmigration unter Asylbedingungen in Deutschland. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-3661-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23352.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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