Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus
Rezensiert von Sabine Hollewedde, 17.01.2018

Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte. Siedler Verlag (München) 2017. 592 Seiten. ISBN 978-3-8275-0099-1. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 33,90 sFr.
Thema
‚Der‘ Marxismus wurde nicht von einem Tag auf den anderen ‚erfunden‘ und er existierte nie als eine ausformulierte, fertige Idee. Morina untersucht „gruppenbiografisch“ die erste Generation von Marxisten und geht dabei der Frage nach, wie sich ihre Hinwendung zu Marx und damit die ‚Erfindung‘ des Marxismus vollzog. Über die Rekonstruktion der individuellen Politisierungsprozesse von neun Marxisten erklärt die Autorin die „Faszination“ der als „Weltanschauung“ beschriebenen Marxschen Gesellschaftskritik und trägt so zur „Historisierung des Marxismus“ (S. 476) bei. Untersucht wurden zu diesem Zweck die (politischen) Biografien von Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurès, Jules Guesde, Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Peter B. Struve. Dabei beginnt die Autorin mit der jeweiligen Sozialisation in den Elternhäusern und der Schule, beschreibt Wege der Politisierung und der Aneignung der Marxschen Schriften und schließlich das unterschiedliche Engagement der vorgestellten Personen, wobei Kontroversen innerhalb dieser nicht homogenen Gruppe deutlich werden. Insgesamt zeichnet die Autorin so das Bild eines sich international formierenden Marxismus, der von Beginn an nicht von den politisch-historischen und persönlichen Umständen zu trennen ist, in denen diese neun Mitbegründer des Marxismus wirkten.
Aufbau und Inhalt
Nebst einem Prolog und einem zusammenfassenden Schlussteil stellt Morina die Erfindung des Marxismus in drei Abschnitten dar, die sich an den biografischen Daten der neun Protagonisten orientieren. Die Autorin arbeitet mit einer erfahrungsgeschichtlichen Methode, was bedeutet, dass sie anhand der individuellen Erfahrungen und Sozialisationsprozesse die Entwicklung des politischen Marxismus erklären möchte, wobei weniger die Frage danach leitend sein soll, was Marx „‚uns heute noch zu sagen hat‘ – als enthielte sein Werk eine ewig gültige Urwahrheit –, als danach, was Marx als Person und Denker, historisch gesehen, so einzigartig und wirkmächtig gemacht hat.“ (S. 11) Die Historikerin möchte damit also nicht einstimmen in an aktuellen Marx-Jubiläen zelebrierten Aktualisierungen seiner Theorie, sondern macht den Versuch einer historischen Verortung der politischen Wirkmacht seiner Ideen, die aus heutiger Perspektive und nach dem Zerfall der realsozialistischen Staaten bisher nur langsam vorankomme. Ihr Ansatz ist dementsprechend „eher auf Historisierung denn auf Aktualisierung angelegt“, wenngleich er „natürlich selbst nicht frei von aktualisierenden Impulsen“ ist. (S. 12) Der Marxismus wird dabei als eine Weltanschauung in Anlehnung an Wilhelm Dilthey aufgefasst, weshalb es der Autorin nicht um eine theoretische Rekonstruktion marxistischer Debatten geht, sondern um eine „erfahrungsgeschichtliche Perspektive“ und die Fragen: „Wie erklärt man sich Radikalisierung? Wie ticken Revolutionäre?“ (S. 12) Insofern ist plausibel, dass Morina an den Erfahrungen der Vertreter des Marxismus ansetzt und diese Erfahrungen zur Erklärung dessen heranzieht, was den politischen Marxismus, den sie als „Generationsprojekt“ (S. 17) auffasst und „sozusagen im Prozess seiner Entstehung“ beobachtet, als Weltanschauung ausmacht. So entfaltet die Autorin „das Portrait einer Gemeinschaft von sinnsuchenden, eklektisch und doch systematisch lernenden, aktionistischen, ehrgeizigen, rechthaberischen Weltverbesserern, deren reale Lebensgeschichten sich gänzlich auf dem Schlachtfeld der politisch-ideologischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit abspielten.“ (S. 19)
Im ersten Abschnitt zur „Sozialisation“ werden der familiäre und soziale Hintergrund der neun Vertreter des Marxismus untersucht. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle aus einem eher (klein-)bürgerlichen, nicht-proletarischen Milieu stammten und überwiegend eine gute Schulausbildung genossen. Morina stellt fest, dass in allen Familien „ein ausgeprägter Sinn für Bildung und Literatur, ein hohes Maß an Weltzugewandtheit und Neugier, ein Interesse am überlieferten wie am alltäglichen, lebensweltlichen Wissen der Gegenwart“ herrschte. (S. 55) Des Weiteren spielten meist die Mütter in Bezug auf die Weltanschauung eine besonders prägende Rolle und eine für die Zeit überdurchschnittliche Schulbildung ermöglichte ihnen einen „außergewöhnlich guten Start ins Erwachsenenleben.“ (S. 55) Psychologisch befindet die Autorin, „dass alle Protagonisten ein enormes Selbstbewusstsein, einen festen Glauben an sich selbst und ihre eigenen Wirkungschancen sowie einen ausgeprägten Sinn für ihre eigene Historizität, ihren Platz in der Epoche hatten.“ (S. 59 f.) Diese Charaktereigenschaften begreift Morina als „Schlüssel zum Verständnis ihres Engagements“, welches somit nur durch Rückbezug auf die primäre Sozialisation erklärbar sei. „Die Entwicklungspsychologie spricht in diesem Zusammenhang von einer internen Kontrollüberzeugung“ (S. 60), stellt die Autorin heraus und bezeichnet dies auch als „hohe sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung“, welche entscheidend für das spätere politische Engagement der Protagonisten gewesen sei. Prägend seien aber vor allem die sich überschneidenden Lektüren und Bildungserfahrungen gewesen, in deren Zuge sich auch ein erstes „Unbehagen“ entwickelt habe. „Das Rebellische und das Romantische, jene beiden Züge, die uns in vielen frühen Selbstzeugnissen begegnen, sollte man nicht als Vorboten eines revolutionären Engagements im Erwachsenenalter überbewerten.“ (S. 114) Jedoch zeugten diese bereits in der Schulzeit sich ausprägenden Charaktereigenschaften von einem sensiblen Umgang mit der Wirklichkeit und einer enormen Weltzugewandtheit der späteren Marxisten. Bis auf zwei der Protagonisten absolvierten alle nach der Schule ein Studium, welches mit intensiven Lektüren prägender Literatur einherging.
Im zweiten Abschnitt geht es um die Wege der Politisierung, also zum Marxismus, die aufgeteilt werden in verschiedene örtliche und biografische Stationen und „die lange Geburt einer Weltanschauung“ nachzeichnen (S. 341). Dabei werden bereits die unterschiedlichen Aneignungsweisen und Interpretationen der Marxschen Texte durch die neun Individuen deutlich und in sechs Unterkapiteln nach Personen aufgeteilt dargestellt, wobei für Luxemburg gelte, dass sie „zwar das Relativieren historisch gewonnener Einsichten“ bei Marx schätzte, was Morina als relative Wahrheiten bezeichnet, „damit aber gleichzeitig dessen Erhebung zum Stifter einer höheren ‚unerschütterlichen‘ Wahrheit“ begründete (S. 339), was die Autorin auch bspw. bei Kautsky erkennt und kritisiert. (vgl. S. 224) Und bei den Bezügen des jungen Lenin auf Marx und Engels wird deutlich, dass die Abschaffung der herrschenden Ordnung stark emotional besetzt war, „der Einsatz für die Befreiung der Unterdrückten hingegen eher rational motiviert“ und aus theoretischer Einsicht entsprang. (S. 320) Morina schildert Lenin als einen „geradezu pathologisch hasserfüllten Machtpolitiker[…]“. (ebd.) – „Was Lenin mit Marx und Engels verband, war ein ‚Gefühl des Hasses‘.“ (S. 319) Bei allen neun dargestellten politischen Bildungswegen wird deutlich, dass es sich um eine langwierige und mühsame Aneignung und individuelle Verarbeitung der primären Schriften handelte, wobei vor allem „Das Kapital“ von Marx und das „Manifest der kommunistischen Partei“ von Engels und Marx als Referenzen dienten. Keine bewusste Entscheidung zum Marxismus, sondern eher „ein langwieriger intellektueller und emotionaler Approprationsprozess – eine Art tertiäre Sozialisation“ zeichne diesen Weg zum Marxismus aus. (S. 342) „Nicht Erlösung, sondern Aufklärung versprach (sich) der frühe Marxismus. Die frühe Strahlkraft des Marx-Engels´schen Werkes lag also eher in dessen Aktualität und jetztzeitigem Wirklichkeitsbezug als in einer diffusen sozialistischen Zukunftsvorstellung.“ (S. 342)
Im dritten Abschnitt, der mit „Engagement“ überschrieben ist, werden das Studium der Wirklichkeit und das Verhältnis der neun Marxisten zur Revolution genau dargestellt. „Das ‚radikale‘ Studium der Wirklichkeit“ sei das erste Gebot des Marxismus gewesen (S. 347), so die Autorin mit Verweis auf die Schriften des jungen Marx. Leitend sei seit dem 19. Jahrhundert und für die Vertreter des Marxismus die „Soziale Frage“ gewesen, worauf der Marxismus eine Antwort geboten habe. Für Marxisten bedeutete diese Antwort allerdings, so Morina, eine Verschiebung des Fokus vom Mitgefühl zur eingeforderten Gerechtigkeit. „Die politische Idee des Klassenkampfes scheint – global gesprochen – die moralische Idee einer universellen Solidarität auf lange Sicht zerstört zu haben.“ (S. 349) Wie bereits im ersten Teil deutlich wurde, kamen die hier vorgestellten Marxisten selbst nicht aus proletarischen Verhältnissen und waren zum größten Teil (bis auf Guesde, Bernstein, Jaurès und Plechanow) nicht durch ihre Herkunft mit den sozialen Verhältnissen vertraut gewesen, in denen ‚einfache Leute‘ lebten. „Hingegen finden sich in allen Lebensläufen im Kontext ihrer Politisierung vielfältige Begegnungen mit jenen ‚Ausgebeuteten‘ und Benachteiligten, deren Interessen die Protagonisten mit ihrem Engagement zu vertreten und durchzusetzen suchten.“ (S. 355) Auf unterschiedliche Weise machten die Intellektuellen Erfahrungen mit und suchten Kontakt zu Arbeitern, Bauern und ärmeren Menschen. Und auf verschiedene Weise reagierten sie auch auf das ‚Studium‘ der sozialen Wirklichkeit. Während Kautsky bspw. Fremdheitsgefühle gegenüber „den ‚armen Teufeln‘ und der ‚Masse‘“ verspürte (S. 356) und sich wie auch etwa Struve vor allem auf statistische Daten und wissenschaftliche Literatur bezog, hatten Adler und Luxemburg einen direkteren Kontakt und eine andere Art Verbundenheit zu den Leuten, an die und über die sie schrieben. Vor allem Luxemburgs Verhältnis zu den ‚Massen‘ erscheint dabei sehr ambivalent. „Ich weiß nicht, ob ich aus schlechtem Stoff bin, der zu leicht die umgebende Atmosphäre einsaugt“ (S. 359), schrieb sie an einen Freund und beklagt sich darüber, dass sie im „Menschengewühl“ ihr geistiges Niveau verliere. Morina beschreibt Luxemburgs Haltung als „paradoxe Perspektive distanzierten Mitgefühls“ (S. 359). Meist vollzog sich das Studium der sozialen Wirklichkeit mit einer gewissen Distanz, da die marxistischen Intellektuellen in einer anderen Lebenswelt wirkten, und damit „gerade nicht in der Form eines Dialogs mit den darin lebenden sozialen Wesen, sondern als einseitiges Sprechen und Schreiben über sie.“ (S. 366) Lenin sei gar für sein „kühles und betont mitleidloses Wesen“ (S. 374) bekannt und als „kühler Realist“ wenig interessiert an direktem Kontakt mit ‚dem Elend‘ gewesen. „Lenins eigentliches Interesse galt der politischen ‚Ausnutzung‘ dieses ‚Rohmaterials‘, nicht dem ‚Rohen‘ selbst.“ (S. 375) Auch in Bezug auf die Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter gelte, dass sie vor allem aus der Distanz wahrgenommen wurden. Lenin, Plechanow und Struve beriefen sich dabei vor allem auf Statistiken, Fachliteratur und Zeitungsartikel, wohingegen für Luxemburg und Kautsky „der Arbeitsplatz beziehungsweise das Arbeitsverhältnis im Kapitalismus vor allem Schauplatz sozialdemokratischer Politik“ war. (S. 390) Zusammenfassend betrachtet die Autorin den „engagierten Blick“ als überwiegend distanziert, wenngleich er von einer „nachhaltigen Befasstheit mit den damaligen sozialen Zuständen“ zeuge. (S. 399) Als unterschiedliche Formen der Weltaneignung beschreibt Morina diese Verhältnisse zu den arbeitenden Menschen in einem Spektrum „zwischen eher wirklichkeitsnaher (konkreter) und eher wirklichkeitsferner (abstrahierender) Welteinordnung“. (S. 399)
Denken und Praxis sind für den Marxismus miteinander verschränkt und so kommt die Autorin zum „Zweiten Gebot: Philosophie als Praxis – Über Revolution“. Das Denken und Wirken der ersten Marxisten war politisches Engagement und sie „übten folglich nicht ‚Kritik als Beruf‘, sondern folgten einer Berufung; sie spielten keine Rolle, sondern verschrieben ihre ganze Existenz der Verwirklichung eines politischen Programms.“ (S. 406) Ihr Handeln beruhte nicht auf einer allgemeinen gesellschaftskritischen Haltung, sondern „auf einer grundsätzlich geschlossenen, parteilichen und fundamentalkritischen Weltanschauung.“ (S. 407) Philosophie müsse mit Marx in Praxis münden und diese Praxis ist für die Marxisten der Umsturz der sozialen Verhältnisse. Die Autorin zeigt vor allem anhand der Auseinandersetzungen Luxemburgs und Lenins mit den Ereignissen von 1905/06 in Russland und Polen, wie sich die marxistische Revolutionstheorie in der revolutionären Praxis bildete, wobei sie bei Luxemburg eine typische „Mischung aus Voluntarismus und Idealismus, aus Aktion und Reaktion, welche den modernen Revolutionsbegriff kennzeichnete“, konstatiert. (S. 409) Sei der Revolutionsbegriff bei Marx Ergebnis philosophischer Deduktion und nicht Resultat von Beobachtungen gewesen, so galt es nun, einen marxistischen Revolutionsbegriff zu konkretisieren. „Revolution hatte Marx gerade nicht in Reaktion auf bestimmte politische Ereignisse, sondern in philosophie- und ideologiekritischer Absicht entwickelt.“ (S. 410) Genauer werden die Revolutionsvorstellungen von Lenin und Luxemburg dargestellt, die zwar in Fragen der Organisation zunehmend differierten, aber denen doch gemeinsam gewesen sei, dass für sie „Revolution nicht ein Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich“ gewesen sei. (S. 418) Unter Bezug auf Iring Fetscher teilt auch Morina die Revolutionstheorien der vorgestellten Marxisten in drei Varianten ein: „der ‚pseudorevolutionäre Nur-Parlamentarismus‘ Kautskys (dem auch Bernstein, Adler und Jaurès anhingen) stand Luxemburgs ‚demokratischer Revolutionarismus‘ gegenüber (den auch Plechanow und Guesde vertraten), der wiederum mit Lenins singulärem ‚elitären Revolutionarismus‘ unvereinbar war.“ (S. 423) Vertrat also die Gruppe um Kautsky keinen eigentlich revolutionären Marxismus mehr und machte Struve gar eine Entwicklung hin zu einem Liberalen, so ging es in der Kontroverse zwischen Rosa Luxemburg und Wladimir I. Lenin vor allem um die Organisation der Massen und die Rolle der Partei(führer). Für Luxemburg war klar, dass die Revolution nicht durch eine elitäre Minderheit geführt werden konnte: „Eine Revolution bedürfe mehr als der Mobilisation einer bewaffneten Minderheit, sie könne nur als ‚Massenbewegung des ganzen Volkes‘ gelingen, warnte sie.“ (S. 468) Die Vorstellungen Luxemburgs kritisierte dagegen Lenin als „verschleierte ‚Prinzipienlosigkeit‘, die den Marxismus ‚vulgarisiert und prostituiert‘“. (S. 471) Für die revisionistische Linie stellte sich mit 1905 keine revolutionäre Perspektive; ihre Vertreter plädierten für einen Parlamentarismus und einen evolutionären Übergang in den Sozialismus. Struve war gar bereits zu einem „hoffnungsfrohe[n] Liberale[n]“ (S. 473) geworden, der keine marxistische Politik mehr betrieb. „Im Gegensatz dazu konkretisierten sich Lenins und Luxemburgs Erwartungen revolutionärer Handlungsmacht in jenen Monaten. Beide sammelten zugleich Allmachts- und Ohnmachtserfahrungen […]. Beide zogen aus der gescheiterten Revolution sowohl programmatische als auch taktische Schlüsse, die ihr zukünftiges politisches Handeln maßgeblich formten.“ (S. 473)
Im Schlussteil „Von Marx zum Marxismus – oder: Über Feldforscher, Bücherwürmer und Abenteurer“ fasst die Autorin die Ergebnisse ihrer umfangreichen Studie zusammen. Sie macht noch einmal deutlich, warum sie eine „erfahrungsgeschichtliche Perspektive“ auf die Entstehungsgeschichte des Marxismus wählte und dass es ihr vor allem darum ging, „die Geschichte einer politischen Faszination“ zu erzählen. (S. 476) So sollte erklärt werden, warum gerade Marx’ Schriften so wirkmächtig werden konnten, dass sie über das 20. Jahrhundert eine solche politische Kraft entfalten konnten. Die „Gruppe“ der neun vorgestellten Marxisten wird zusammenfassend dargestellt als eine von „sehr selbstbewussten, gebildeten, ehrgeizigen und mobilen Persönlichkeiten, denen das intellektuelle und praktische Eingreifen in das gesellschaftliche Leben zur selbstverständlichen Form, mithin zum Sinn ihres Lebens wurde.“ (S. 477) Mit der Aneignung der Marxschen Texte wird eine Weltanschauung verbunden, welche die marxistische Existenz präge und als ein „Erlebnis“ beschrieben wird. Für Morina stellt dies nicht in erster Linie einen intellektuellen Akt dar, sondern eine die gesamte Existenz betreffende ideologische Haltung. „Ich beschreibe es als Einrasten in eine bestimmte Optik und damit eher als Prozess denn als Epiphanie, als ein allmähliches Eintreten in eine distinkte Diskursgemeinschaft.“ (S. 480) Durch diese individuelle und lebensgeschichtlich geprägte Aneignung der Marxschen Theorie (bei Morina: „des Marx´schen Ideenpakets“) habe sich so eine marxistische Weltanschauung gebildet, wobei Marx als Entdecker, als Erleuchter und als Erbauer wahrgenommen worden sei und damit akute politische Bedürfnisse befriedigt habe: „Aufklärung, Perspektive und Mobilisierung.“ (S. 481) Das Anziehende an der Marxschen Theorie sei somit „der realhistorische, analytisch-erklärende Anspruch der Ideen, Begriffe und Argumentationslinien“ gewesen. (S. 482) Als dogmatischste Marxisten werden hier Luxemburg, Lenin und Guesde vorgestellt. Diese hätten nicht nur in der politischen Praxis am „bedingungslosesten“ argumentiert und agiert, sondern auch besondere persönliche Eigenschaften gezeigt. „Ihr eigentlich auf die Gemeinschaft gerichtetes Engagement war außerordentlich stark von einer vielfach nachweisbaren Ich-Bezogenheit, einem hohen Selbstvertrauen und einem unerschütterlichen Selbstwirksamkeitsglauben geprägt. Je selbstbezogener der Wirklichkeitsbezug, je subjektivistischer also dieses Engagement, desto bedingungsloser waren dessen Mittel und Folgen.“ (S. 487)
Diskussion
Morinas Studie geht äußerst detailreich den individuellen und politischen Biografien der neun vorgestellten Marxisten nach. Die Autorin hat dazu eine sehr breite Quellenbasis aus veröffentlichten und unveröffentlichten Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern und Notizen zusätzlich zu den publizierten Schriften ausgewertet und daraus neun Portraits gezeichnet. Dabei stellt das Buch den historischen Kontext heraus, in welchem sich ‚der‘ politische Marxismus bildete und wirkmächtig wurde. Welche Anziehungskraft die Marxsche Gesellschaftskritik als analytisches Mittel für eine sozialdemokratische/sozialistische Praxis hatte, wird in diesem Werk vielschichtig dargestellt und die einzelnen „Protagonisten“ nicht über einen Leisten schlagend deutlich. Sehr aufschlussreich sind die historischen Bezüge und die Verquickung des Politischen mit dem Individuellen in den einzelnen Biografien und in der Gruppe, wie sie vorgestellt wird.
Gleichwohl drängt sich nach der Lektüre dieses Werkes die Frage auf, wie von ‚dem‘ Marxismus als einer einheitlichen „Weltanschauung“ geschrieben werden kann, wenn zugleich betont wird, dass diejenigen, welche diese Weltanschauung laut der Autorin ‚erfanden‘, kaum einheitliche Perspektiven auf die Politik hatten. Marxismus als Weltanschauung heißt für Morina in Anlehnung an Dilthey, dass dieser weniger Erzeugnis des Denkens und der Erkenntnis ist, als dass er aus „dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität“ hervorgehe (Dilthey). Morina hebt aber zu Recht hervor, dass es vor allem die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft war, welche die Marxschen Schriften anziehend und für die politische Aktion fruchtbar machte. Das, was die Autorin als „Marx-Erlebnis“ (S. 480) zitiert, muss daher nicht in einem irrationalen, psychologisch zu erklärenden Lebensgefühl aufgehen, sondern ein solches Erlebnis dieser frühen engagierten Marxisten könnte gerade darin bestanden haben, dass ihnen die Lektüre von und die Debatten über die Werke von Marx und Engels die gesellschaftlichen Ursachen für ihr jugendliches „Unbehagen“ erklärten und damit überhaupt zu einer Politik, die auf die Ursachen der „sozialen Frage“ geht, befähigten. Ob eine solche Erklärung als ein „Einrasten in eine bestimmte Optik“ (S. 480) zu fassen ist, erscheint fraglich, zumal die Autorin deutlich macht, dass diese an Marx orientierten Intellektuellen in einem regen, bisweilen heftig kontroversen Austausch standen – es eben keine fertig daliegende Weltanschauung „Marxismus“ gab. Die Kritik dieser Marxisten stehe mitnichten in einer Tradition „suchenden, autonomen, gesellschaftskritischen Denken[s] des ‚allgemeinen Intellektuellen‘, sondern [beruhe; S.H.] auf einer grundsätzlich geschlossenen, parteilichen und fundamentalkritischen Weltanschauung.“ (S. 406) Es bleibt an solchen Stellen die Frage offen, wie ein grundsätzlich geschlossenes, „fundamentalkritisches“ Weltbild, das doch gerade erst durch diese frühen Marxisten laut Morina erfunden wird, zur Grundlage des Denkens dieser politisch Engagierten werden konnte.
Zuweilen hätte man sich bei der Lektüre gewünscht, die Autorin hätte sich, wenn sie den Marxismus an Marx rückbindet, bei Marx selbst vergewissert. Es wird etwa ausgeführt, Marx habe den Begriff der Revolution als Ergebnis einer „philosophischen Deduktion“ – im Gegensatz zu: „Resultat der Beobachtung“ – entwickelt und habe Revolution „gerade nicht in Reaktion auf bestimmte politische Ereignisse, sondern in philosophie- und ideologiekritischer Absicht entwickelt.“ (S. 410) Die angeführte Referenz ist an dieser Stelle die „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von Marx, in welcher Marx zum ersten Mal das Proletariat als revolutionäre Klasse anspricht. Abgesehen davon, dass in dieser Schrift keine Theorie der Revolution, nicht einmal eine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt wird, wendet sich Marx in diesen frühen Schriften gerade gegen eine rein philosophisch-begriffliche Ableitung, wie er sie bei Hegel kritisierte. Wenn es heißt, dass „die Philosophie im Proletariat ihre materiellen […], das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen“ findet (Marx), dann ist diese ‚revolutionäre Klasse‘ explizit nicht begrifflich abgeleitet, sondern wird ganz materiell – in der Verelendung der Menschen – vorgefunden. „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (Marx) Revolution und Philosophie stehen hier also nicht in einem Ableitungsverhältnis, sondern gerade durch die Tatsache des Proletariats muss für den jungen Marx die Philosophie negiert werden.
Es werden in dem Buch neun wichtige frühe Marxisten vorgestellt. Dabei erschließt sich allerdings nicht von alleine die Auswahl dieser fraglos wirksamen Persönlichkeiten. Warum etwa wurde die Kontroverse um Trotzki nicht als prägend für die Entwicklung des Marxismus erachtet, dagegen der liberale Struve als Marxist in dieses Gruppenportrait aufgenommen? Am Ende bleibt der Eindruck, dass Lenin und Luxemburg – und die sich an ihnen entzündenden Debatten um die Organisation – übrigbleiben und ‚der‘ Marxismus gerade nicht als ein einheitliches ‚Ideenpaket‘ aufgefasst werden kann.
Die Methode der erfahrungsgeschichtlichen Erklärung der Entstehung des Marxismus bietet die Möglichkeit, die subjektiven Motive der einzelnen vorgestellten Personen ins Zentrum zu rücken und zeigt, dass der politische Marxismus nicht ohne die Subjekte, die ihn in historisch-politischen Konstellationen und politischen wie theoretischen Auseinandersetzungen formten, zu begreifen ist. Gleichwohl scheint das Anliegen der Autorin, die „Historisierung des Kommunismus“ (S. 492), wie es in der Danksagung noch einmal betont wird, damit nur insofern erfüllt zu sein, als dass deutlich wird, dass die konkreten Auseinandersetzungen, in welchen die neun Protagonisten standen und ihre politischen Ideen entwickelten, andere waren als heute. Man muss nicht eine „ewig gültige Urwahrheit“ (S. 11) im Marxschen Werk annehmen, um auf die Aktualität der Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise hinzuweisen. Wie Marx selbst betonte, ist seine Theorie, die wesentlich Kritik ist, eine, die für die bürgerliche Gesellschaft gilt und in anderen Gesellschaftsformationen ihre Gültigkeit verliert. Die Kategorien der Marxschen Kritik sind auch „Produkt historischer Verhältnisse“ und besitzen „ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse.“ (Marx) Wahr ist die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, solange es Kapitalismus gibt – und insofern ist das Erbe dieser frühen Marxisten weiterhin nicht obsolet. Wenn die Autorin dagegen von einem „Marx´schen Ideenpaket“ (S. 479) schreibt, an welchem Marxisten unbedingt festhielten, so trifft dies die Marxsche Kritik nicht, welche keine ‚Ideen‘ lieferte, wovor sich Marx stets aus gutem Grund hütete und keine Politikentwürfe bereithielt. Und es trifft die neun vorgestellten Individuen nicht, die, wie durch Morinas detaillierte Studie dargelegt wird, nicht an einem Paket von Ideen festhielten, nicht nur Denken als Praxis begriffen, sondern Denken und Praxis miteinander verschränkten.
Fazit
Die „Erfindung des Marxismus“ war ein langwieriger Prozess, den Morina anhand von neun Protagonisten der ersten Generation historisch und biografisch nachzeichnet. Das Buch bietet einen spannenden und erhellenden Blick in politische und theoretische Debatten und dem Leser zudem einen Einblick, was diese frühen Marxisten bewegt hat. Ein großes Verdienst dieser Studie ist es, dass sie zeigt, wie das, was heute als ‚Marxismus‘ gilt, sich historisch bildete und mit den Individuen, die für eine bessere Gesellschaft kämpften, verknüpft ist. Einen fix und fertigen Marxismus gab es nicht und es gibt es bis heute nicht.
Rezension von
Sabine Hollewedde
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