Theresa Hilse-Carstensen: Freiwilligenengagement in der häuslichen Begleitung von Menschen mit Demenz
Rezensiert von Alexandra Günther, 17.10.2018
Theresa Hilse-Carstensen: Freiwilligenengagement in der häuslichen Begleitung von Menschen mit Demenz. Eine qualitative Interviewstudie. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2017. 383 Seiten. ISBN 978-3-7344-0481-8. D: 42,90 EUR, A: 44,20 EUR.
Thema
Wie Freiwillige ihre Tätigkeit in der Versorgung demenzkranker Menschen im häuslichen Umfeld aus ihrer Sicht deuten, wurde bisher nicht untersucht, obwohl diese als wichtige gesellschaftliche Ressource gelten angesichts des demographischen Wandels, steigender Lebenserwartung und Zunahme von Demenzerkrankungen. Dabei können aus den Erkenntnissen neue Möglichkeiten abgeleitet werden, um das Hilfesystem bei Demenz weiter zu stärken.
Autorin
Dr. phil. Theresa Hilse-Carstensen ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH) und promovierte 2016 am Institut für Soziologie an der Universität Jena. Sie arbeitete u.a. im Forschungs- und Entwicklungsprojekt „KoAlFa – Koproduktion im Welfare Mix der Altenarbeit und Familienhilfe“ unter Leitung von Prof. Dr. M. Opielka (EAH Jena) als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit. Seit 2017 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für kommunale Planung und Entwicklung in Erfurt tätig.
Aufbau
Das Fachbuch beinhaltet folgende Kapitel:
- Theoretischer Rahmen
- Forschungsstand
- Gesellschaftliche Deutungskonzepte von Demenz und von Freiwilligenengagement bei Demenz
- Forschungsdesign
- Freiwilligenengagement in einer Beziehungstriade – empirische Ergebnisse
- Ausblick
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Hilse-Carstensen geht in ihrer Studie der Frage nach, wie freiwillig Engagierte ihre Tätigkeit im häuslichen Handlungsfeld Demenz deuten.
In Kapitel 1 stellt die Autorin den theoretischen Rahmen ihrer Arbeit vor. Dabei geht sie auf das ihrer Arbeit zugrundeliegende Konzept der Deutung ein. Sie rekonstruiert u.a. aktuelle politische, ökonomische und gesellschaftliche Ansätze zur Wohlfahrtsproduktion, sowie das Verhältnis zum Freiwilligenmanagement und Spannungen zwischen den Sektoren Staat, Markt und Gemeinschaft. Hilse-Carstensen behandelt weiterhin, wie Freiwillige mit Familie und Fachkräften zentrale Versorgungsakteure von Menschen mit Demenz Zuhause sind. Sie tragen zur informellen Wohlfahrtsproduktion z.B. als Koproduktionsdreieck im Sinne des Welfare Mix, bei. Außerdem geht die Autorin auf ihre Definition von und Kriterien für Freiwilligenengagement ein.
Kapitel 2 nimmt den aktuellen Forschungsstand zum Thema in den Blick. Die Autorin gibt eine Übersicht über die nationale Engagementlandschaft. Sie diskutiert Forschungsarbeiten, politische Maßnahmen, Literatur etc.. Hierbei geht sie auch auf kritische Forschungspositionen und aktuelle Debatten ein wie z.B. zur Monetarisierung von Freiwilligenarbeit. Als Unterscheidungsmerkmale ihrer Studie führt die Autorin auf: die soziologische Perspektive der Arbeit, Fokus auf Demenzerkrankung und häuslichen Versorgungskontext, Untersuchung der Perspektive der Freiwilligen und den Beziehungen dieser zu Angehörigen, demenzkranken Menschen und Fachkräften.
In Kapitel 3 erläutert sie Deutungskonzepte von Demenz und das Freiwilligenengagement bei demenzkranken Menschen. Sie zeigt Besonderheiten des häuslichen Handlungsfeldes Demenz für das Freiwilligenengagement. Des Weiteren diskutiert sie medizinische, gesundheitspolitische und gesellschaftliche Deutungskonzepte von Demenzerkrankungen und die Folgen für die Versorgung. Außerdem geht sie auf kritische Positionen ein wie z.B. von Reimer Gronemeyer.
In Kapitel 4 wird ihr Forschungsdesign dargestellt. Die Studie gründet auf dem Ansatz der Grounded Theory Methodologie. Mittels episodischer, qualitativer Interviews werden die Perspektiven der freiwillig Engagierten untersucht. Sie stellt Kriterien der Fallauswahl und das Sampling, sowie Auswertungsmethoden vor.
Kapitel 5 zeigt die empirischen Ergebnisse der Studie. Innerhalb der untersuchten Fälle gibt es folgende Schwerpunkte:
- Im Konflikt mit der Demenzerkrankung
- Zwischen Integration und Abgrenzung
- Kümmern aus Sehnsucht
- Emotionalität als Zugang
- Koordination als Funktion
- Einen Entwicklungsprozess initiieren
- Handeln nach dem eigenen Rhythmus
- Nachbarschaftshilfe als Selbstverständnis
In allen Fallportraits wird die Perspektive der Freiwilligen von dem Verhältnis zum dementen Menschen einerseits und zum Angehörigen andererseits bestimmt. Pflegekräfte spielen aus der Perspektive der Freiwilligen keine zentrale Rolle für ihre Tätigkeit. Nach Hilse-Carstensen zeigt sich im Begriff der Beziehungstriade das durchgängige, zentrale Deutungskonzept und damit eine neue auf Beziehung fokussierte Koproduktionskonstellation.
Die Vorbereitung, Koordination, und Begleitung der Freiwilligentätigkeit durch eine Fachkraft ist entscheidend für das Gelingen des Freiwilligenengagements, wie die Autorin herausarbeitet. Die Beziehungen müssen fortlaufend strukturiert und unter dem Aspekt des gemeinsamen Wachsens, als kontinuierliche Beziehungsentwicklung, begleitet werden. Hilse-Carstensen diskutiert dazu u.a. das Phasenmodell aus André Fringers Studie „Pflegenden Angehörigen ehrenamtlich helfen“. Zudem zeigt sie auf, inwiefern das Freiwilligenengagement sowohl von der subjektiven Deutung als auch sozialpolitischen Deutungskonzepten bestimmt wird.
Kapitel 6 gibt einen Ausblick auf den sozialpolitischen Entwicklungsbedarf des Freiwilligenfeldes und dessen Bedeutung in der Zukunft. Die Autorin gibt Empfehlungen für die Praxis und zeigt die Nachhaltigkeit einer Investition in die Freiwilligenbegleitung durch eine Fachkraft aus der Sozialen Arbeit auf.
Diskussion
In der Untersuchung der Perspektive der Freiwilligen, die in der häuslichen Versorgung dementer Menschen engagiert sind, entwickelt Hilse-Carstensen ein neues Deutungskonzept. Sie gibt einen tiefgehenden Einblick in die Perspektive der Freiwilligen selbst und ihre wechselseitige Beziehung zu dem dementen Menschen und den pflegenden Angehörigen. Die Arbeit lässt die Akteure selbst zu Wort kommen und arbeitet Motive und biografische Deutungen ebenso heraus wie Zusammenhänge zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ebene.
Die Erkenntnisse zeigen, dass wohlfahrtspluralistische Strategien auch auf sozialpolitischer und kommunaler Ebene in die fachliche Begleitung und Förderung der Beziehungsentwicklung für ein langfristiges Freiwilligenengagement in der häuslichen Demenzversorgung investieren müssen.
Fazit
Die Autorin untersucht die Perspektive freiwillig Engagierter in der häuslichen Demenzversorgung. Aus den Studienergebnissen der insgesamt acht qualitativen Fallstudien zeigt sie die Notwendigkeit der fachlichen Koordination zwischen den Akteuren und der Förderung bei Beziehungsaufbau und -entwicklung zu dementen Menschen und Angehörigen. Sie analysiert Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Wohlfahrtsproduktion auf personenbezogener und institutioneller Ebene.
Das Fachbuch bietet für alle Fachkräfte, die in der Freiwilligenkoordination, kommunalen Engagementplanung und Konzeptentwicklung für die häusliche Versorgung dementer Menschen tätig sind, eine wichtige Grundlage.
Rezension von
Alexandra Günther
Sozialpädagogin und Ethikerin
Mailformular
Es gibt 45 Rezensionen von Alexandra Günther.
Zitiervorschlag
Alexandra Günther. Rezension vom 17.10.2018 zu:
Theresa Hilse-Carstensen: Freiwilligenengagement in der häuslichen Begleitung von Menschen mit Demenz. Eine qualitative Interviewstudie. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2017.
ISBN 978-3-7344-0481-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23375.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.