Antonio Damasio: Im Anfang war das Gefühl
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.11.2017
Antonio Damasio: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur. Siedler Verlag (München) 2017. 320 Seiten. ISBN 978-3-8275-0045-8. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 34,90 sFr.
Thema
Gefühle sind Bewegungen der Seele. Dass im psychologischen Diskurs der Gefühlszustand des Menschen eher dem rationalem, verstandesgemäßem Denken und Handeln nachgeordnet wurde, hat damit zu tun, dass bereits in der antiken Philosophie, etwa in der aristotelischen Nikomachischen Ethik, Pathos, Emotion, Affekt und Gefühl als Unterklasse des Qualitativen eingeordnet wurden: „Unter Pathos verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Zuneigung, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust und Schmerz verbunden ist“ ( Ch. Rapp, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 427ff ). Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant gab zu bedenken, dass beim gefühlsorientierten Denken und Handeln der Objektivitätsanspruch von Urteilen nicht gewährleistet werden könne ( Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 251f).
Entstehungshintergrund und Autor
Die Descartesche Feststellung „cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“) drückt das umfassende Ergebnis des menschlichen, individuellen und kollektiven Nachdenkens über das „Wer bin ich?“ aus. Dabei mündet dieses intellektuelle Erkunden des menschlichen Daseins immer auch in der Erfahrung, dass der Mensch sich seiner Gedanken unmittelbar bewusst sei, während er die Dinge, die von der Außenwelt auf ihn einwirken, nur unmittelbar aufnehme. Die Frage, wie unser Bewusstsein entsteht, wird philosophisch meist damit beantwortet: Aus unserem bewussten Geist. Was aber unser Geist ist, lässt sich wiederum nicht messen und schon gar nicht anschauen; denn unseren Geist spüren wir nur selbst von unserem Innern heraus. Die Vermutung, dass unser Geist in unserem Gehirn entsteht, ruft – neben den Philosophen – diejenigen auf den Plan, die unser Gehirn als ein Organ kennen: Die Neurologen und Psychologen.
Der portugiesische Neurowissenschaftler von der University of Southern California, António R. Damásio, fragt: „Wie baut das Gehirn einen Geist auf?“ und „Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?“ (Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13124.php). Noch bevor er 2018 den Originaltitel „The Strange Order of Things. Life, Feeling and the Making of Cultures“ vorlegt, erscheint in deutscher Sprache das von Sebastian Vogel übersetzte Buch „Im Anfang war das Gefühl“. Mit der vielsagenden Entdeckung „Ich seh´ es fühlend“, im Dialog zwischen Cloucester und König Lear in Shakespeares Drama gibt Damasio die Richtung seiner neurophysiologischen Forschungen über kulturelles Denken und Handeln der Menschen an: „Kulturelle Tätigkeit hat ihren Ausgangspunkt im Effekt und bleibt tief in ihm verwurzelt“. Er untersucht die vielfältigen, festgefügten und differenzierten Wechselwirkungen zwischen Gefühl und Verstand. Er macht sich auf den langen Weg der evolutionären, emotionalen und rationalen Entwicklung des Homo Sapiens. Die kulturelle Entwicklung des Menschen wird durch Entdeckung, Erfahrung, Staunen, Ehrfurcht, Drama und Abenteuer bestimmt. Menschliches Leben artikuliert sich als „Geist, Gefühl, Bewusstsein, Gedächtnis, Sprache, komplexe Sozialbeziehungen und kreative Intelligenz“; und die Frage, inwieweit und wie wirksam sich gelingendes und misslingendes gutes Leben gestaltet und Kultur entsteht, ist bei der Betrachtung der Geschichte der Kultur von Bedeutung.
Aufbau und Inhalt
Damasio gliedert seine Untersuchung über den biologischen Ursprung der menschlichen Kultur in drei Teile.
- Im ersten Kapitel denkt er über das Leben und seine Regeln nach: „Homöostase“.
- Im zweiten Teil reflektiert er über den „Aufbau des kulturellen Geistes“.
- Und im dritten über den „kulturellen Geist der Arbeit“.
Es sind die vielfältigen Antriebe, Versuchungen, Erlebnisse, Schmerzen, Leid und Lust, bis hin zu den scheinbaren und tatsächlichen Erfahrungen, die Menschen empfinden, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen, sich Gefühlen aussetzen, als Kalkulatoren, Macht- oder Druckmittel einsetzen und sich damit kulturell äußern. Die Definitionen und Auffassungen darüber, was Kultur ist, wie sie erkennbar und (er)lebbar wird, sind als zivilisations- und kulturspezifische Ausdrucksformen differenziert zu betrachten. Die Frage nach dem „kulturellen Geist des Menschen“ ist unmittelbar verbunden mit dem Bewusstsein, dass Leben sich im homöostatischem Gleichgewicht befinden müsse, bei dem „Leben innerhalb eines Bereichs reguliert wird, der nicht nur mit dem Überleben verträglich ist, sondern auch dem Gedeihen dient und eine Fortsetzung des Lebens in der Zukunft eines Organismus oder einer Spezies ermöglicht“. Weil Leben immer Veränderung ist, sind auch die verschiedenen Formen der Homöostase für körperliches und geistiges Dasein bedeutsam.
Der „aufrechte Gang“ des Menschen wird im philosophischen Denken nicht nur als ein humanes, körperliches Merkmal betrachtet, sondern ist gleichbedeutend mit dem kulturellen Geist (Jos Schnurer: Ich denke, also bin ich – Eine neue Kultur der Nachdenklichkeit, 21.12.2016, www.sozial.de/ich-denke-also-bin-ich.html). Es sind Vorstellungen, (Vor-)Bilder und Abbildungen, Phantasien, Gedanken und Narrative, die die biologischen und körperlichen Prozesse beeinflussen und das Gedächtnis steuern: „Mit seinem ständigen Suchen und Tasten in Vergangenheit und Zukunft versetzt uns unser Gedächtnis … in die Lage, die mögliche Bedeutung gegenwärtiger Situationen intuitiv zu erfassen und die potentielle unmittelbare und weniger unmittelbare Zukunft vorherzusagen, während das Leben seinen Lauf nimmt“. Gefühle, als die besondere Form von mentalen Erlebnissen, spiegeln und reflektieren körperliche Zustände und bieten somit die Möglichkeit, sie zu erkennen, zu werten und mit ihnen human umzugehen; sie ermöglichen „das Erleben bestimmter Aspekte innerhalb eines Organismus“. Um empathische Zustände zu erreichen, ist es notwendig, die verschiedenen Arten von emotiven Prozessen zu kennen und individuell und in Kommunikationsprozessen einsetzen zu können. Daraus wird auch deutlich, dass Gefühlsentwicklung wichtige Herausforderungen für lebenslange Bildungsprozesse sind.
Weil alle mentalen Fähigkeiten in den Prozess des menschlichen kulturellen Denkens und Handelns in irgendeiner Form eingreifen und wirksam werden, kommt es darauf an, den kulturellen Geist im Rahmen der homöostatischen, evolutionären Entwicklung zu betrachten. Es sind Prozesse und Wirksamkeiten, die sowohl den inneren, als auch auf den äußeren Organismus beeinflussen, die Subjektivität des Bewusstseins steuern, die bildbasierte Gedächtnisfunktion einbeziehen, sich in emotionalen und kreativen Aktivitäten äußern, die Notwendigkeit von kooperativem Denken und Tun betonen, sich in emotionsgeladenen Bewegungen und Gesten zeigen, und in den Genen festgelegt sind.
Fazit
Die letztendlich wichtige Frage, wie eine Conditio humana heute in der realen Wirklichkeit der Unzulänglichkeiten des menschlichen Daseins gelebt werden kann, nimmt die Nachfrage auf, ob die vielgenannte, kritisch betrachtete, prophetisch angesagte wie auch kassandrisch ausgerufene Kulturkrise einen biologischen Hintergrund habe: „Die einzige vernünftige und hoffentlich tragfähige Lösung für das Problem besteht in größeren Zivilisationsanstrengungen, durch die es den Gesellschaften mittels Bildung gelingt, trotz aller großen und kleinen Unterschiede auf der Grundlage bestimmter Anforderungen an die Regierungsführung zu kooperieren“ (vgl. dazu auch: Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20955.php). Der Neurologe Damasio widerspricht dabei der Befürchtung, „umfangreichere biologische Kenntnisse würden das komplexe, geistbegabte, vom Willen gelenkte kulturelle Leben auf automatische, vormentale Prozesse reduzieren“; vielmehr zeigt er in seiner Studie auf, dass biologisches Wissen die Verbindung zwischen Kultur und Lebensprozessen vertieft, den Reichtum und die Originalität von Kultur verdeutlicht; und schließlich sind biologische Kenntnisse, die wir im Sinne des homöostatischen Bewusstseins erwerben, hilfreich für humanes, ganzheitliches, erdbewusstes und mundanes (Wolfgang Welsch) Denken und Handeln. Es ist der Fingerzeig auf die biologischen Wurzeln der menschlichen Zivilisation, der neue Bilder für ein humanes Zusammenleben der Menschen in der (Einen?) Welt projiziert und so auf die Herausforderungen für eine neue Aufklärung verweist.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.11.2017 zu:
Antonio Damasio: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur. Siedler Verlag
(München) 2017.
ISBN 978-3-8275-0045-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23378.php, Datum des Zugriffs 08.10.2024.
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