Thomas Straubhaar: Radikal gerecht (bedingungsloses Grundeinkommen)
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang, 12.03.2018
Thomas Straubhaar: Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert. Edition Körber (Hamburg) 2017. 248 Seiten. ISBN 978-3-89684-194-0. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR.
Thema
Mit seinem beiden Grundthesen vom bedingungslosen Grundeinkommen als radikal gerecht und als Revolution des Sozialstaates präsentiert Professor Thomas Straubhaar ein Projekt der Körber Stiftung, die 1959 gegründet mit Sitz in Berlin und Hamburg interessante Projekte zum demographischen Wandel und der internationalen Verständigung anbietet und insbesondere Nachwuchswissenschaftler fördert. Wir leben in Zeiten umfangreichen Wandels und einer dadurch bedingten Verunsicherung. Demographischer Wandel, Digitalisierung sowie einfach die zu erwartenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen erfordern einen radikalen Systemwechsel des Sozialstaats. Eine liberale, gerechte und effektive Alternative zu diesen Entwicklungen sei das bedingungslose Grundeinkommen, so Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Er legt hier ein kleines rotes Bändchen mit nicht allzu umfangreicher Seitenzahl vor, welches sich in gewisser Weise als programmatisch in einer fast parteipolitisch anmutenden Weise vorstellt.
Als Direktor des Europa-Kollegs Hamburg sowie Non-Resident Fellow der Transatlantic Academy in Washington, D. C. Allerdings argumentiert Professor Straubhaar häufig genug weniger ökonomisch oder mit konkreten technologischen Entwicklungspfaden und ihren wirtschaftlichen Folgen, sondern mit sehr allgemeinen Anmerkungen zu zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen vor allem auf der Basis von Erfahrungen, die wir mit der ersten Welle der neuen Arten von Digitalisierung gemacht haben, nämlich der Internetökonomie. Das Buch spräsentiert das Programm in mehreren Schritten und zunächst seinen Ansatz.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung beginnt Straubhaar mit folgendem Bekenntnis: „Wenn aber der demographische Wandel, die Digitalisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhaltensänderungen alles Bisherige infrage stellen, bedarf es neuer, zeitgemäßer Antworten […] Ein radikaler Systemwechsel eröffnet die dringend benötigte Chance eines unverbrauchten Neuanfangs“ (S. 7-9). Dies klingt zunächst gut, ein bisschen skeptisch sollte aber stimmen, dass Entwicklungspfade gerade im gesellschaftlichen wie technologisch-ökonomischen Bereich selten unverbraucht anfangen können.
Straubhaars Beitrag zur Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen beruft sich dabei auf umfangreiche globale Entwicklungstendenzen mindestens in Industriegesellschaften, ist dann aber überwiegend fiskalischer Natur im klassischen nationalstaatlichen Rahmen: wer viel verdient, wird nämlich weit mehr Steuern an den Staat abführen als das Grundeinkommen. Er ist Netto-Steuerzahler und das Grundeinkommen mindert lediglich seine Steuerschuld. Offensichtlich sind die Höhe des Grundeinkommens und der Steuersatz die Stellschrauben, mit denen Politik und Bevölkerung das neue Sozialsystem steuern können. Dabei gilt es, zwischen Gerechtigkeitszielen und Anreizeffekten ein vernünftiges Gleichgewicht zu finden. Diese Abwägung ist weder spezifisch für das Grundeinkommen noch eine neue Problematik für die Bewertung des Sozialstaates (S. 16 f.), allerdings sind Anreizfunktionen bei einem Steuersatz von 50 % für alle steuerpflichtigen Einkünfte nicht unbedingt hoch.
Der Ansatz seiner Diagnose bei den Problemen eines Sozialstaat-Modell auf der Basis eines industriegesellschaftlichen Modells, welches offenbar durch vielfältige Prozesse technologischer und ökonomischer Art abgelöst wird, ist nachzuvollziehen. Seine Anmerkungen zu den Sozialversicherungen wie Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung sind leuchtend, sprechen aber eher für eine Reform der Sozialversicherungen auf der Basis einer steuerfinanzierten Absicherung als für die Forderung nach einem generellen bedingungslosen Grundeinkommen. Zuwanderung zudem sei nur eine sehr begrenzte Lösung für die durch den demographischen Wandel hervorgerufenen Herausforderungen der Sozialsysteme (S. 48). Allerdings bleibt gerade unter Straubhaars Annahme eines massiven Wegfalls von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung die Unterstellung einer kräftig anwachsenden Wirtschaft mit dem entsprechenden Einkommensteuer-Aufkommen, welche angeblich für einen stetig größeren Verteilungsspielraum sorgt (S. 34), zumindest ein wenig bezweifelbar. Ein Staat hat zudem ja eine ganze Menge von Aufgaben, die aus dem Steueraufkommen bezahlt werden müssen, nicht nur ein bedingungsloses Grundeinkommen. Vor allem können auch die stark angewachsenen Staatsschulden und ihre Finanzierung Sorgen bereiten, welche ja nicht verschwinden, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird.
Die fundamentale Stellschraube, um die Renten nachhaltig zu sichern, ist eine hohe Produktivität. Es genügt nicht, wenn Menschen nur eine Arbeit haben, nur wenn sehr viele Menschen ein ganzes Leben lang mit viel sehr viel höherer Produktivität arbeiten und deutlich später als heute in den Ruhestand gehen, kann das soziale Sicherungssystem grundlegend saniert werden. Eine Robotersteuer könnte dem mit der Digitalisierung einhergehenden Strukturwandel helfen, gesellschaftlich an Akzeptanz zu gewinnen. Eine Robotersteuer bremst aber den Einsatz von Automaten und Maschinen in einem neuen industriellen oder technologischen Produktion-System. Das mag auf den ersten Blick gewollt sein. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass eine Verdrängung des Roboters aus dem Wirtschaftsprozess den Menschen, der geschützt werden soll, eher schadet und nicht nützt. Die Arbeitsproduktivität, also das, was Menschen pro Stunde an Mehrwert schaffen, wird dann nämlich gedämpft. Um genau diese Überlegungen in die Praxis umzusetzen, besteuert das bedingungslose Grundeinkommen alle Einkommen gleich – unabhängig von ihrer Herkunft. Arbeitseinkommen, Zinsen, Dividenden, Tantiemen, ausgeschüttete Gewinne, Miet-, Pacht-und alle anderen Kapitalerträge, so Straubhaar (S. 58-62). Aber derartige Vorschläge versucht man schon länger umzusetzen, ohne dass sich entsprechende Wirkungen bei den Steuereinnahmen gezeigt hätten, die auch nur annähernd den Umfang erreichen, denen nach Straubhaars eigenen Berechnungen ein bedingungsloses Grundeinkommen einschließlich der darin finanzierten Sozialleistungen für alle für die Bundesrepublik erforderlich wären.
Die Herausforderung der Individualisierung der Gesellschaft zumindest in den Hochtechnologiezivilisationen in einer Vielheit der Lebensphasen ist in der Tat ein zu berücksichtigender Faktor bei der ökonomischen Bewertung gesellschaftlicher Veränderungen. Die wachsende Bedeutung alternativer Familienformen und die Vielfalt der Lebenspartnerschaften sowie eine gesellschaftlich mehr und mehr akzeptierte Individualisierung erlauben und erleichtern es mehr und mehr Menschen, das Leben so unabhängig wie möglich nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können (S. 69). Eine der Folgen für die Sozialversicherung ist: Altersarmut wird in Zukunft zu einem weiteren Anstieg der Empfänger von Grundsicherung im Alter hervorrufen. Vor allem nicht oder in Teilzeit arbeitende Mütter sind die großen Verliererinnen des heutigen Sozialversicherungssystems – besonders, wenn sie alleinerziehend sein sollten. Sie werden die Altersarmen von morgen sein. Ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts muss von gebrochenen, nichtlinearen Lebensverläufen als neuem Normalfall ausgehen. Die neuen Sozialversicherungen müssen auf Einzelpersonen und nicht auf Familien ausgerichtet sein (S. 73). Somit spricht für Straubhaar vieles dafür, dass sich Digitalisierung und Demographie in wunderbarer Weise ergänzen. Weniger, aber besser ausgebildete Menschen werden vernetzt und verbunden mit dem Internet der Dinge mit weniger Aufwand mehr Wohlstand schaffen als heute. Das Rentensystem des 21. Jahrhunderts wird nur überleben können, wenn die deutsche Bevölkerung länger und produktiver arbeitet (S. 81 f.). Doch woher kommt Straubhaars Hoffnung auf die neue technologische Zukunft (die der Rezensent übrigens teilt) und ist unter diesen Bedingungen ein Grundeinkommen noch erforderlich? Aus der Internetökonomie jedenfalls nicht.
Diskussion
Das Modell von Herrn Professor Straubhaar erscheint mir nicht unbedingt als radikal gerecht, wünschenswert insbesondere aus der Perspektive derer, die die Empfänger sind. Der Staat steht in der Pflicht, ausreichende Summen einzunehmen, um neben dem bedingungslosen Grundeinkommen auch andere Staatsausgaben finanzieren zu können. Dies wird unter den Bedingungen der Globalisierung immer schwieriger, nicht zuletzt, weil besonders qualifizierte Arbeitnehmer und auch Firmen wohl keine 50 % Steuern auf ihre Einkommen und ihre Maschinen bezahlen werden. Dieses Modell denkt ausschließlich von der Wirtschaft von Nationalstaaten her, und zwar von den Bereichen, die früher eher der Produktion zuzurechnen waren. Nun gibt es aber auch schon heute sehr viele non-profit-Bereiche, bei denen der Arbeitgeber, ob privat oder öffentlich, dann das Doppelte des heute gültigen Einkommens bezahlen muss, um die entsprechenden Anreizfunktionen für die anfallenden Arbeiten zu schaffen. Damit dürften diese im Globalisierungsstrudel gelegentlich überfordert sein. Das Gerechtigkeitsverständnis von Herrn Straubhaar ist sehr formal und denkt trotz oberflächlicher Orientierung am Individualfall im Ansatz kollektivistisch. Da eine ganze Reihe von Arbeiten in den ehrenamtlichen Bereich abrutschen dürften, der nicht besteuert werden kann, weil keine Gewinne durch die Arbeit abgeworfen werden, aus denen die Besteuerung bezahlt werden könnte, werden doch immer mehr wenig bezahlte und besteuere Tätigkeiten ausüben, und sich immer mehr Menschen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen begnügen müssen, weil bezahlbare Arbeit schrumpft und auch bei steuerbare Roboterarbeit nicht in unendlichem Maße nachwächst. Abgesehen davon kann das Wahlvolk seine Politiker besser unter Druck setzen, wenn es meint, dass ihr Grundeinkommen angehoben werden sollte, egal was die aktuellen Finanzeinnahmen eines Staates hergeben oder nicht. Staatsbankrotte könnten dann häufiger auf der Tagesordnung stehen als bisher.
Außerdem muss man Digitalisierung wohl etwas differenzierter sehen als Herr Straubhaar. Die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen ist ein Kennzeichen der Deindustrialisierung und der ersten Phase der Digitalisierung, des Internets der Kommunikation und Information. Die nächsten Wellen der Digitalisierung vom Internet der Dinge über 3D Drucker oder insbesondere die Bio-Ökonomie, aber auch neue Formen der Energieerzeugung werden die arbeitsteilige Technologie-Gesellschaft nicht abschaffen, sondern differenzieren. Dies ist umso mehr wünschenswert, weil wir nicht unbedingt jede Maschinenentscheidung oder Roboterhandlung unhinterfragt akzeptieren sollten. Wenn eine Humanisierung der nächsten Stufen der Digitalisierung erreicht werden soll, müssen wir Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine, d.h. die Mensch-Maschinen-Interaktionen, sehr ausdifferenziert neu einstellen. Automatisierte Verkehrsleitsysteme erscheinen nur in Routinesituationen als vertretbar, zumindest solange nicht erwiesen ist, dass Maschinen dies wirklich so gut können wie Menschen. Insgesamt gesehen meine ich, dass die Digitalisierung kein Argument für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist und dass aus staatlicher Sicht die Risiken sehr viel höher sind als die Gewinne, die ein möglicher besserer sozialer Zusammenhalt aufscheinen lassen können.
Fazit
Zum Schluss sei noch angemerkt: viele Passagen des kleinen Bändchens wiederholen sich mehrmals über das ganze Buch verteilt in zum Teil identischen Sätzen. Sind die Argumente doch nicht so zahlreichen wie behauptet, oder verfolgt diese Strategie sogar mehr? Radikal gerecht wäre für mich eine Position, die nicht nur steuerpolitisch argumentiert, sondern einsieht, wie prekär die Einnahmesituation des klassischen Nationalstaatskonzeptes im Globalisierungsstrudel ist, wobei die Ausgabenseite durch bedingungslose Grundeinkommen auf jeden Fall aufgebläht wird. Neue Schuldenberge werden wohl entstehen. Anregungen von Herrn Straubhaar für eine Neustrukturierung der Sozialversicherungen könnten hilfreich sein, wobei allein für die Finanzierung der Sozialversicherungen ein Steuersatz von 50 % wohl nicht erforderlich sein dürfte.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang
Der Rezensent lehrte Technikphilosophie und angewandte Ethik an der TU Dresden
Mailformular
Es gibt 19 Rezensionen von Bernhard Irrgang.
Zitiervorschlag
Bernhard Irrgang. Rezension vom 12.03.2018 zu:
Thomas Straubhaar: Radikal gerecht. Wie das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat revolutioniert. Edition Körber
(Hamburg) 2017.
ISBN 978-3-89684-194-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23384.php, Datum des Zugriffs 19.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.