Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse u.a.: Herausforderndes Verhalten von Kindern professionell bewältigen
Rezensiert von Prof. Dr. Gerd Krüger, 15.12.2017

Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse, Claudia Tinius: Herausforderndes Verhalten von Kindern professionell bewältigen - Ein Curriculum für die Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen.
FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2017.
160 Seiten.
ISBN 978-3-932650-82-6.
40,00 EUR.
Materialien zur Frühpädagogik ; Band 20.
Thema
Die VerfasserInnen legen ein Fort- und Weiterbildungscurriculum für die kompetenzorientierte Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte in Teamzusammenhängen vor. Gegenstand ist herausforderndes Verhalten von Kindern in Kindertageseinrichtungen.
Autorinnen und Autor
- Maike Rönnau-Böse ist Professorin für Pädagogik der Kindheit an der Evangelischen Hochschule (EH) Freiburg.
- Die Kindheitspädagogin Claudia Tinius arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ) an der EH Freiburg.
- Klaus Fröhlich-Gildhoff ist Psychologe, Psychotherapeut und Professor an der EH Freiburg und Leiter des ZfKJ.
Entstehungshintergrund
Das Werk fußt auf Erfahrungen der AutorInnen mit dem Thema. Es fließt empirisches Material aus zwei Forschungsprojekten ein, in deren Rahmen eine Arbeitsgrundlage für die Weiterqualifizierung von Kita-Teams entwickelt wurde. Das Buch baut auf Erkenntnissen des von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierten Projektes „HeVeKi- Herausforderndes Verhalten in Kindertageseinrichtungen“ auf.
Aufbau und Inhalt
Das spiralgebundene Buch umfasst 160 Seiten im DIN-A 4-Format und gliedert sich in zwei große Teile:
- Teil I: Theoretische und empirische Grundlagen
- Teil II: Praxisteil.
Eine beiliegende DVD bietet alle Arbeitsblätter, PP-Folien und Videosequenzen zur weiteren Verwendung an.
In dem 20 Seiten umfassenden ersten Teil beschäftigen sich die AutorInnen mit den Grundlagen ihres Curriculums. Sie reißen kurz den diesbezüglichen Forschungsstand an und gehen auf ein „Kompetenzmodell frühpädagogischer Fachkräfte“ nach Fröhlich-Gildhoff et al. (2014) ein. Darüber hinaus stellen sie den Aufbau des Curriculums vor, welches fünf Bausteine beinhaltet, und geben allgemeine Hinweise zur Handhabung und Umsetzung.
Das allgemeine Ziel des didaktischen Entwurfs ist die Weiterentwicklung der Kompetenzen pädagogischer Fachkräfte in Bezug auf herausforderndes Verhalten von Kindern. Die Verfasser konstatieren – gerade auch vor dem Hintergrund der Erfordernisse der Inklusion –, dass individuell ausgerichteten pädagogischen Handlungsformen eine besondere Bedeutung zukommt und daher ein hoher Bedarf an einer passgenauen Weiterbildung besteht.
Das Kompetenzmodell von Fröhlich-Gildhoff et al. (2014), welches den didaktischen Ausgangspunkt das Curriculum bildet, erkennt Kompetenzen im konkreten erzieherischen Handeln. Diese basieren auf berufsbiographisch erworbenen Dispositionen, deren Wirksamkeit aber wesentlich beeinflusst wird von individuellen Einstellungen und Orientierungen (Haltung / Habitus).
Aus dieser Einsicht folgern die AutorInnen das Ziel, individuelle Kompetenzen der TeilnehmerInnen möglichst breit gefächert auf – und auszubauen. Das Lernen soll nicht lediglich auf theoretischer Ebene, sondern im Rahmen von Übungen und über Praxisbeispiele auch anwendungsorientiert erfolgen (vgl.11). Die Reflexion des eigenen Lernprozesses und praktischen Vorgehens erfährt dabei eine zentrale Stellung. Damit wird der empirischen Erkenntnis Rechnung getragen, dass sich PädagogInnen im konkreten Handeln auch an subjektiven (Alltags-)Theorien orientieren, die sie vor ihrer beruflichen Sozialisation erworben haben, im Rahmen ihrer Ausbildung / Studium aber nicht ausreichend reflektieren konnten.
Der zweite Teil bildet den Schwerpunkt des Werkes und ist der Explikation des Curriculum selbst gewidmet. Folgende Bausteine werden angeboten:
- Einführung und Beobachten
- Analysieren und Verstehen
- Planen
- Handeln
- Evaluieren und Überprüfen.
Diese sind in Lerneinheiten untergliedert, beinhalten Ziel- und auf die Fachkräfte bezogene Kompetenzbeschreibungen, einen detaillierten Ablaufplan, methodisch-didaktische Instruktionen und Kommentierungen, Quellenangaben und weiterführende Literaturempfehlungen sowie diverse Hinweise zu geeigneten Medien und Materialien. Ebenso finden wir weitgehend übersichtlich gestaltete PP-Folien und Kopiervorlagen vor. Die empfohlenen Vermittlungsmethoden und -techniken sind vielgestaltig und entsprechen dem üblichen Standard in der Erwachsenenbildung.
Im ersten Baustein (Einführung und Beobachtung) werden die Lernenden mit einem Prozessmodell professionell-pädagogischen Handelns vertraut gemacht, setzen sich mit den Begriffen Verhaltensauffälligkeit und herausforderndes Verhalten auseinander, reflektieren (auch vor dem Hintergrund biographischer Überlegungen) ihr eigenes Leitbild in der Arbeit mit kindlichen Verhaltensschwierigkeiten, setzen sich mit der Bedeutung der individuellen Wahrnehmung für die Bewertung von Verhalten auseinander, erfassen den Unterschied zwischen Beobachten und Interpretieren, werden anhand eines Praxisbeispiels an die Bedeutung von Beobachtung und Dokumentation herangeführt und lernen Möglichkeiten einer Systematisierung kennen. Des Weiteren beschäftigen sie sich mit Zielen und Grundprinzipien diagnostischen Vorgehens sowie mit einem standardisierten Beobachtungsverfahren (KOMPIK). Darüber hinaus werden ihnen Einblicke in die systemische Perspektive sowie in das Resilienzkonzept angeboten.
Der zweite Baustein (Analysieren / Verstehen) ermöglicht eine fallgestützte Auseinandersetzung mit Ursachen und Erklärungsansätzen („bio-psycho-soziales Ursachenmodell“). Die Lerner sollen kindliche Verhaltensweisen vor dem Hintergrund des Konstrukts „Verhaltensauffälligkeit“ einschätzen und bewerten und sich mit Klassifikationssystemen beschäftigen. Es werden biologische, soziale und innerseelische Aspekte systematisiert und dabei auf die Bandbreite zeitgenössischer zeitgenössischer psychologischer Theorien Bezug genommen, wie beispielsweise auf Persönlichkeits- und Bindungstheorien, auf Selbstregulation und Regulationsstrategien, Affektsteuerung und Mentalisierung, auf den Ansatz der Selbstwirksamkeit, auf soziale Kompetenzen und seelische Grundbedürfnisse.
Kriterien und Klassifizierungssysteme für die Einschätzung auffälligen Verhaltens sowie eine Auseinandersetzung mit ihnen befinden sich ebenfalls im Angebot, auch eine entwicklungspsychologisch akzentuierte Betrachtung fehlt nicht. An den Beispielen Aggression, Angst und ADHS soll ein verstehender Umgang mit herausforderndem Verhalten erarbeitet werden. Mit Blick auf ein stärken- und ressourcenorientiertes Vorgehen und unter Bezugnahme auf wahrnehmungspsychologische Überlegungen sind pädagogische Optionen zu reflektieren.
Der dritte Baustein (Planen) beinhaltet im Wesentlichen den systematischen Umgang mit herausforderndem Verhalten und gibt einen Überblick über präventive Handlungsstrategien und Präventionsprogramme.
Der vierte Baustein (Handeln) will „den TeilnehmerInnen unterschiedliche Handlungsstrategien im Umgang mit herausforderndem Verhalten“ (103) aufzeigen und deren Fähigkeiten zur Umsetzung optimieren. Über praktische Übungen sollen diese lernen, wie pädagogische Herausforderungen im Berufsalltag anzugehen und zu bewältigen sind. Dabei wird auf die Ebene des Kindes, seiner Eltern, des Mitarbeiterteams sowie die der Vernetzung und Kooperation mit anderen Institutionen und Angeboten eingegangen. Die „Entwicklung passgenauer Handlungs- und Begegnungsformen“ (15) steht dabei im Mittelpunkt.
Der fünfte Baustein (Evaluieren / Überprüfen) ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Möglichkeiten systematischer Reflexion und Evaluation pädagogischen Handelns und fordert eine Bestimmung diesbezüglicher professioneller Essentials ab. Dabei wird auch auf die Sicherung der Nachhaltigkeit und eine konzeptionelle Verankerung eingegangen.
Diskussion
Das Curriculums bezieht sich auf ein zeitloses, klassisches pädagogisches Problem, welches bislang von Theorie und Lehre für die pädagogische Praxis nicht wirklich zufriedenstellend bearbeitet wurde. Der Wille zur Inklusion schafft hier eine zusätzliche Herausforderung, und es wäre zynisch, die pädagogischen Fachkräfte in dieser Situation allein zu lassen. Es besteht daher eine Bringschuld von Politik, Wissenschaft, Forschung, Aus- und Fortbildung, ihnen sinnvolle Voraussetzungen, Stützen und Hilfen anzubieten.
Das vorliegende Curriculum vermag hierzu im Grundsatz einen Beitrag zu leisten und ist daher notwendig und zu begrüßen.
Im Grundlagenteil werden relevante wissenschaftliche Inhalte sowie professionelle Probleme aber leider nur flüchtig und unvollständig angerissen.
Hingegen zeigt der Praxisteil viele Stärken, Schwächen sind jedoch nicht zu übersehen. Der erste Baustein (Einführung und Beobachten) soll 4,75 Zeitstunden dauern und eine Vielzahl komplexer Themen behandeln (z.B. „herausforderndes Verhaltens“, der systemische Ansatz, das Konzept der Resilienz und Stärkebildung, biographische Selbstreflexion, Wahrnehmungspsychologie, systematisches Beobachten, Interpretieren, Bewerten und Dokumentieren von Verhaltensweisen, diagnostisches Vorgehen). Diese wollen aber nicht nur vermittelt, sondern bearbeitet, reflexiv verstanden und verinnerlicht werden.
Das ist meiner Erfahrung nach eine ziemliche Herausforderung und zugleich eine theoretische Überfrachtung. Selbst wenn berechtigt davon auszugehen ist, dass die Lerner in ihrer beruflichen Sozialisation mit diesen Themen bereits intensiv Berührung hatten (Fachschule/ Studium), so muss doch von inhomogenen Wissensvoraussetzungen, unterschiedlichen Reflexionskompetenzen und -bereitschaften sowie erheblichem Diskussionsbedarf (auch als Ventil für den Belastungsdruck der Praxis) ausgegangen werden.
Im zweiten Baustein (Analysieren und Verstehen) ist das Ziel, „ein bio-psycho-soziales Verstehen …, insbesondere im Umgang mit herausforderndem Verhalten, zu entwickeln.“ (56)
Es ist begrüßenswert, dass die Verfasser Analyse, Diagnose und Verstehen unter Einbezug einer Ressourcenorientierung und der Stärken des Kindes zusammen denken. Gerade im Vorgang des Verstehens lassen sich Analyse- und Diagnosedaten sowie (selbst-) reflexive, emotionale und beziehungsorientierte Einsichten und Erkenntnisse auf das einzelne Kind bezogen integrieren. Das jedoch ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen und fordert der einzelnen Fachkraft und dem Team einiges ab. Die Dozenten finden im Curriculum leider wenig Anleitung, dieses mit den TeilnehmerInnen gezielt zu gestalten und zu vertiefen.
Es ist vermutlich Absicht, das Thema Inklusion nicht näher anzugehen, alle im Curriculum vorgebrachten Themenkomplexe jedoch sind im Rahmen einer inklusiven Praxis grundsätzlich verwendbar. Diese allerdings unterliegt gerade auch im Bereich der Frühpädagogik einer doppelgesichtigen Anforderung. In ihrem Bemühen, Zuschreibungs- und Stigmatisierungsprozessen im Keime entgegenzuwirken sowie sozialintegrative Lernprozesse auszulösen und zu gestalten, sollte die inklusive Praxis aus Gründe einer günstigen Prognose herausforderndes Verhalten mit Störungswert nicht übersehen oder klein reden, sondern angemessen sozialpädagogisch angehen.
In meinem Denken ist der Bereich der Kindertagesstättenarbeit Domäne der Sozialpädagogik. Eine dezidiert sozialpädagogische Bearbeitung herausfordernden Verhaltens und der Aufgaben der Inklusion sind in dem Entwurf aber leider nicht auszumachen. So stellt sich mir die Frage, wo die AutorInnen ihren curricularen Beitrag zur Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen eigentlich theoretisch verorten.
Diese Kritik mache ich an zwei als schmerzlich empfundenen Unterlassungen fest: Die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen ist wesentlich durch Gruppenpädagogik und das didaktisch-methodische Arrangement bestimmt – in steigendem Maße mit ansteigendem Alter der Kinder. Herausforderndes Verhalten von Kindern und Aufgaben der Inklusion sind ohne Berücksichtigung dieser beiden Felder nicht zu bewältigen. Das Curriculum aber geht auf diese Inhalte nicht explizit ein, obwohl es hierfür durchaus Ansatzpunkte bietet, wie z.B. im Fall „Carlo“.
Das Ziel des Curriculums, die individuellen Kompetenzen der TeilnehmerInnen möglichst breit gefächert auf- und auszubauen und das eigene praktische Vorgehen einer Reflexion zu unterziehen, ist nicht ohne systematische Behandlung gruppenpädagogischer und programm-didaktischer Aspekte zu erreichen. Dieser Malus ist gravierend und professionell unverständlich!
Der Wirkmacht der Gruppe gegenüber bleibt das Curriculum nicht nur hinsichtlich der sozialpädagogischen Praxis blind, sondern auch in Bezug auf die Dynamik der Gruppe der Lernenden.
In den didaktischen Materialien finden wir beispielsweise Arbeitsfragen, die lauten: „Welche Werte / Normen sind Ihnen am wichtigsten?“, „Warum sind Ihnen besonders diese Werte / Normen wichtig? Welche Erfahrungen bzw. Erlebnisse haben Sie geprägt, dass Sie diese als bedeutsam empfinden? Wer war daran beteiligt?“ (44) Ohne eine gezielte Handhabung der Gruppendimension lassen sich bei den Lernern authentische Bekenntnisse nur schwer herauskitzeln und gewinnbringend bearbeiten. Aber gerade derartige (Selbst-)Reflexionen sind ja für die AutorInnen und die Ziele ihres Curriculums bedeutend.
Fazit
Das Curriculum ist klar und übersichtlich gegliedert. Wir finden differenzierte und verständliche Ziel- und Kompetenzbeschreibungen vor. Die didaktischen Kommentare sind gut verständlich und ermöglichen den Lehrenden eine bequeme Vorbereitung der einzelnen Veranstaltungen. Arbeitsmittel und Materialien sind gut gewählt, die PP-Folien weitgehend gelungen.
Apropos bequem: Dass die beiliegende DVD alle Arbeitsblätter, Folien und Videosequenzen enthält, ist aus arbeitsökonomischen Gründen für potenzielle DozentInnen zwar sehr attraktiv, aber auch eine große Verführung.
Die im Curriculum vorgeschlagenen Bearbeitungswege sind im Kontext aktueller und „angesagter“ Theorien verortet, befinden sich also auf der Höhe der Zeit, was ohne Frage ein Vorteil ist. Für meinen Geschmack sind diese aber zu psychologielastig. Es scheint mir so, als würde man mehrere Jahrgänge der Zeitschrift „Psychologie Heute“ als „Daumenkino“ durchrauschen lassen.
Das Curriculum geht also mehr in die Breite denn ins theoriegestützte Detail, reißt viele Aspekte an und erfasst trotzdem nicht alle wichtigen Inhalte. Sozialpädagogische Gegenstände bleiben marginal. Die Versprechung des Untertitels, „herausforderndes Verhalten von Kindern professionell bewältigen“, wird nur teilweise eingelöst, da der Bezug auf die Profession nicht klar hergestellt wird und in wichtigen Bereichen unvollständig (Gruppenpädagogik und didaktisch-methodisches Handeln) bleibt.
Rezension von
Prof. Dr. Gerd Krüger
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales
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Zitiervorschlag
Gerd Krüger. Rezension vom 15.12.2017 zu:
Klaus Fröhlich-Gildhoff, Maike Rönnau-Böse, Claudia Tinius: Herausforderndes Verhalten von Kindern professionell bewältigen - Ein Curriculum für die Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2017.
ISBN 978-3-932650-82-6.
Materialien zur Frühpädagogik ; Band 20.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23387.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
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