Désirée Laubenstein, David Scheer (Hrsg.): Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen, 15.02.2018

Désirée Laubenstein, David Scheer (Hrsg.): Sonderpädagogik zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 323 Seiten. ISBN 978-3-7815-2200-8. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR.
Thema
Die in dem Band zusammengestellten Aufsätze sind Beiträge zu einer Tagung, die sich den Anspruch gestellt hat, „zur Wirksamkeit pädagogischer Handlungspraxen sowie zu gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen aus wissenschaftstheoretischer und forschungsmethodischer Perspektive“ Impulse zu setzen und zu einer intensiven Diskussion beizutragen. Dabei sollte es „um aktuelle Aufgabenbereiche einer Pädagogik“ gehen, „die sich mit Erziehungs- und Bildungsprozessen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen befasst, die behinderungs- oder benachteiligungsbedingt spezifischer Hilfestellung bedürfen, aber auch nach wie vor eine marginalisierte Rolle im Prozess einer sich verändernden Schul- und Bildungslandschaft spielen.“ (Zitate jeweils aus der Pressemitteilung zur 51. Tagung Sonderpädagogik vom 21. bis 23. September an der Universität Paderborn, Vanessa Dreibrodt Stabsstelle Presse und Kommunikation, Universität Paderborn, https://idw-online.de/de/news658898)
Herausgeberin
Prof. Dr. Désirée Laubenstein ist Professorin für den Studiengang Sonderpädagogische Förderung und Inklusion in der Schule unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunkts Emotionale und Soziale Entwicklung an der Universität Paderborn. David Scheer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an Universität Paderborn in der AG Sonderpädagogische Förderung / Inklusion mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber tragen in dem Band Beiträge zur 51. Tagung der Dozierenden der Sonderpädagogik in den deutschsprachigen Ländern im Rahmen der DGfE zusammen. Die Tagung fand vom 21.-23.8.2016 in Paderborn statt.
Aufbau
Das Werk enthält nach einem Vorwort der Herausgeber die Beiträge von Markus Dederich (Universität zu Köln), Michael Grosche (Bergische Universität Wuppertal) und Mechthild Gomolla (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg), die als Hauptredner/Hauptrednerin bei der Tagung mitgewirkt haben. In fünf weiteren Abschnitten wird das Thema entfaltet. Dies sind
Die Suche nach Wirksamkeit und Inklusivität mit insgesamt drei Beiträgen (einem von Sandra Schütz, Folke Brodersen, Sandra Ebner, Nora Gaupp, einem weiteren von Anna Behrens und Katja Koch und einem abschließenden von Sven Bärmig),
Selbst wirksam sein mit insgesamt fünf Beiträgen (einem von Dorothea Ehr, einem weiteren von Karoline Siegert und Bettina Lindmeier, einem von Marwin Felix Löper und Frank Hellmich, einem von Gamze Görel und Frank Hellmich und abschließend einem Beitrag von Susanne Groth, Sinem Ulutas und Mathilde Niehaus),
Selbst wirksam werden mit insgesamt vier Beitragen (einem von Pierre-Carl Link, Thomas Müller und Roland Stein, einem weiteren von Tatjana Leidig, Thomas Hennemann und Matthias Grünke, einem weiteren von Ute Waschulewski und einem abschließenden Beitrag von Dagmar Orthmann Bless und Karina-Linéa Hellfritz),
Die Gestaltung von Bildung mit insgesamt sieben Beiträgen (einem ersten von Birgit Werner, Teresa Klein und Angelika Kuppetz, einem weiteren von Birgit Werner und Rebecca Müller, einem von Lisa Rott und Annette Marohn, einem von Ulrike Schildmann, einem weiteren von Dirk Sponholz und Christian Lindmeier, einem von Elena Brinkmann, Marie Heide, Lena Bergs und Mathilde Niehaus und einem abschließenden von Hans-Walter Kranert und Roland Stein) sowie
Die Aufdeckung gesellschaftlicher Exklusionspraktiken mit insgesamt vier Beiträgen (einem von Hendrik Trescher, einem weiteren von René Schroeder, einem von Anika Elseberg, Anja Hackbarth und Benjamin Wagener sowie einem abschließenden Beitrag von Sarak Kurnitzki und Birgit Lütje-Klose).
Ausgewählte Inhalte
Als Beispiel für die vielfältigen Texte in dem Band sollen hier die Darstellungen von Sven Bärmig, Was heißt Wirkungsforschung in der Sonderpädagogik? (S. 102-111), von Pierre-Carl Link, Thomas Müller und Roland Stein, Die Sonderpädagogische Wirksamkeit von Trainings und Förderprogrammen und die Komplexität von Erziehung (S. 163-170), von Ute Waschulewski, Möglichkeiten der Dokumentation und Evaluation tiergestützter Interventionen in vor-/schulischen Bildungseinrichtungen (S. 181-190) kurz vorgestellt werden.
In dem Text von Sven Bärmig wird die Wirkungsforschung in der Sonderpädagogik zunächst in den Kontext der Illusionen gestellt, die Profis über die Wirksamkeit ihrer Tätigkeit erzeugen. Als Selbstzweck werden Diagnostiken vorgestellt, die in defizitorientierter Weise mit der Lebenssituation von Klientinnen und Klienten umgehen und im Ergebnis Prozesse der gesellschaftlichen Exklusion wenigstens befördern. In diesem Zusammenhang legt der Autor ein besonderes Augenmerk auf den gesellschaftlichen Kontext von Wirkungsforschung. Dem Begriff der Wirkungen und insbesondere evidenzbasierter Zugänge zu Wirkungsbegriffen begegnet der Autor mit besonderer Skepsis und entwickelt zu solchen Zugängen mit Bezug auf Adorno eine kritische Perspektive. In seiner Zusammenfassung entwickelt der Autor seine Perspektive auf die Wirkungsforschung in der Sonderpädagogik und stellt fest: „So ist also zu fragen, aus welchen Gründen die Kinder sich ständigen Leistungstests stellen sollen, wenn es nicht dazu führt, ein Lehren und Lernen anzuvisieren, dass für alle zur Autonomie führt. Ins Spiel zu bringen ist beispielsweise die Abkehr vom Leistungsprinzip hin zu einer Schule als Ort, in der Kinder sich in einer umfassenden Weise bilden können, völlig ohne Druck. … Erst das würde auch das Bildungssystem unter Zugzwang bringen, die Kriterien und Kategorien zu verändern.“ (S. 111)
Pierre-Carl Link, Thomas Müller und Roland Stein setzen sich in ihrem Beitrag mit der Evidenzbasierung von sonderpädagogischen Maßnahmen auseinander. Vor der Folie einer kritischen Bewertung der Entwicklung sonderpädagogischer Studiengänge im Bologna-Prozess, „Verschulung und Verjuristung“ (S. 163), bewerten sie eine einseitige Betonung evidenzbasierter Forschungen als gefährlich. Sie treten einem Irrtum aus Wirtschaft und Politik entgegen, Erziehung sei machbar, und fragen nach einer theoretischen Fundierung evidenzbasierter Forschung. Trainings und Programme beschreiben sie in Hinblick auf Entwicklung, Evaluation und Einsatz im Wesentlichen kritisch. Vier besondere Problemstellungen identifizieren sie: Ein Problem bei der Orientierung am Messbaren, ein Problem der Orientierung an einer kritiklosen Orientierung an Wirkung, ein Problem eines Theorieverlustes und ein Problem der zu geringen Berücksichtigung von Haltungen. Vor diesem Hintergrund konstatieren sie die Verantwortung der Sonderpädagogik, „die ethische Vertretbarkeit, Güte und Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen auf den Prüfstand wissenschaftlicher Erkenntnis zu stellen, wozu evidenzbasierte Forschung einen maßgeblichen Anteil leisten kann.“ (S. 168 f)
In dem Text von Ute Waschulewski wird zunächst kurz in das Konzept tiergestützter Angebote eingeführt und tiergestützte Pädagogik als Teildisziplin der Pädagogik vorgestellt. Der Förderplan für einzelnes Kind, Anna, wird als Beispiel eingeführt. An diesem Beispiel zeigt die Autorin Anforderungen an Planung und Evaluation. Sie stellt ein konkretes Verfahren (Dortmunder Selbstkonzept-Menü mit Pferd) vor. Sie beschreibt einen Förderplan und eine quantifizierende Auswertung von Protokollbögen. In einer sehr konkreten und nachvollziehbaren Weise werden Elemente gelingender Hilfe beschrieben und eine knappe Analyse und Evaluation der Fördermaßnahme angeboten. Modifikation der Maßnahme aufgrund besonderer Ereignisse („Eines der beiden Ponys verstarb unerwartet“ (S. 188) werden genauso vorgestellt wie eine Fortführungsperspektive der Hilfe. Die Autorin kommt zum Fazit ihrer Erwägungen mit dem Satz: „Am Fall Anna wird deutlich, dass professionelle tiergestützt-pädagogische Interventionen zwingend zu dokumentieren und zu fördern sind.“ (S. 189).
Diskussion und Fazit
Der vorgestellte Band kennzeichnet in einer gut lesbaren Form den fachwissenschaftlichen Diskussionsstand. Diese Diskussion ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil Leistungen nach dem SGB VIII und Eingliederungshilfeleistungen nur dann erbracht werden, wenn sie den gesetzlich skizzierten Zwecken dienen. Sonst sind sie im wörtlichen Sinn zwecklos und damit dann auch rechtswidrig. Teils wird die Zweckdienlichkeit der Leistungen in jedem Fall unterstellt, etwa bei Leistungen der Kindertagesförderung. Ähnliches gilt bei den auch als Leistungen verstehbaren schulischen Angeboten. Teils ist die Zweckdienlichkeit ausdrücklich und in jedem Einzelfall zu prüfen. Dies gilt etwa bei den Hilfen zur Erziehung. Auch § 53 SGB XII erwähnt ausdrücklich die Zwecke der Eingliederungshilfe und bindet mindestens die Dauer der Hilfegewährung an die Zwecke der Eingliederungshilfe. So lässt sich feststellen, dass bereits das vor dem Inkrafttreten des BTHG geltende Recht der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe stets an die Verfolgung der gesetzlich normierten Zwecke dieser Sozialleistungen geknüpft hat. Mit dem BTHG ist dieser Rechtsgedanke unterstrichen worden. Die Ziele der Leistungen werden als Gegenstand des Teilhabeplans genannt und „erreichbare und überprüfbare Teilhabeziele und deren Fortschreibung“ (§ 19 SGB IX) eingefordert. Die Regelungen zum Gesamtplan folgen demselben Rechtsgedanken.
Besonders deutlich wird die Zielorientierung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BTHG mit der Vorschrift des § 122 SGB IX, die den Abschluss von Teilhabezielvereinbarungen ermöglicht. Die Ziele der Hilfe haben ausweislich dieser Regelung eine sehr hohe Bedeutung. In dem Fall, dass in dem Vereinbarungszeitraum Ziele nicht mehr erreicht werden können, ist eine Anpassung der Vereinbarung zwingend vorgesehen. Diese Zielorientierung im Einzelfall ist die grundlegende Dimension der Wirksamkeit dieser Sozialleistungen. Sie determiniert damit auch die grundlegenden Maßstäbe der Beurteilung der Wirksamkeit der Tätigkeit der Leistungserbringer insgesamt.
In diesem Sinne wäre es nützlich, wenn die Kriterien solcher Beurteilungen noch stärker als bisher fachwissenschaftlich geprägt werden könnten. Der vorliegende Band kann helfen, dies zu befördern.
Fazit: Die Diskussion um die Wirksamkeit heilpädagogischer Verfahren und Angebote ist zentral und zukunftsweisend. Dieser Band ist ein wichtiger Beitrag zur theoretischen Einordnung der Diskussion und ihrer praktischen Weiterentwicklung, auch weil er die kritischen Aspekte der Bestimmung Wirksamkeit von vornherein mitdenkt.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Christian Bernzen
Partner bei BERNZEN SONNTAG Rechtsanwälte und Hochschullehrer an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin
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