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Anne Broden, Stefan E. Hößl et al. (Hrsg.): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n)

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 15.05.2018

Cover Anne Broden, Stefan E. Hößl et al. (Hrsg.): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n) ISBN 978-3-7799-3491-2

Anne Broden, Stefan E. Hößl, Marcus Meier (Hrsg.): Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n). Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 240 Seiten. ISBN 978-3-7799-3491-2. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.

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Thema

Das Buch führt drei Großthemen zusammen, von denen jedes für sich Bände füllt:

  • Antisemitismus,
  • Rassismus und
  • Lernen aus der Geschichte.

So etwas kann nur schief gehen, und es geht auch schief. Die Lektüre lohnt trotzdem.

Herausgeber

Die Herausgeber sind seit langem in der historisch-politischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und Rassismus tätig.

  • Anne Broden leitete von 2017 bis 2018 das Projekt „Jederzeit wieder! Gemeinsam gegen Antisemitismus“ der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V., davor hat sie über viele Jahre als Programmchefin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW) die Diskussion über rassismuskritische Bildungsarbeit in Deutschland wesentlich mitbestimmt.
  • Stefan E. Höhl ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln und promoviert zum Thema „Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen“.
  • Marcus Meier ist Geschäftsführer der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V.

Entstehungshintergrund

Der Sammelband enthält die überarbeiteten Vorträge der Tagung „Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n)“, die im Jahr 2015 in Köln stattfand, ergänzt um weitere Beiträge.

Aufbau

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die das Thema „Lernen aus Geschichte(n)“ aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven beleuchten:

  1. Biographische Reflexionen, die Antisemitismus- und Rassismuserfahrungen zur Sprache bringen (mit Beiträgen von Gabriel Goldberg und Doğan Akhanli).
  2. Literarische und biographische Zugänge im Kontext des Nationalsozialismus und des Antisemitismus nach Auschwitz (mit Beiträgen von Susanne Urban, Akim Jag, Gottfried Kößler/Meron Mendel und Stephan Bundschuh).
  3. „Multiperspektivische Zugänge“ zu rassismuskritischen, ‚empowernden‘ Wissensbeständen (mit Beiträgen von Laura Digoh-Ersoy, Vanessa Höse/Susanne Schmidt und Astrid Messerschmidt)
  4. rassismus- und antisemitismuskritische Perspektiven für die historisch-politische Jugendarbeit und Schulpädagogik (mit Beiträgen von Heiko Klare/Michael Sturm, Silke Baer/Oliver Kossack, Stefan E. Hößl/Jan Raabe, Katja Bauch und Rainer Jansen/Maik Wunder).

Ausgewählte Inhalte

Aus der Fülle lesenswerter Beiträge seien hier die von Akim Jah, Laura Digoh-Ersoy und Katja Bauch hervorgehoben.

Es gehört zu den unterschlagenen historischen Wahrheiten, dass der Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung, aber auch in anderen europäischen Ländern unmittelbar nach Kriegsende 1945 stärker denn je war. Er traf die etwa 300.000 jüdischen Displaced Persons (DPs) in schonungsloser Härte. Viele von ihnen waren in den großen DP-Lagern der westlichen Besatzungsarmeen untergebracht, weil eine Repatriierung wegen des aggressiven Antisemitismus in ihren Herkunftsländern, vor allem Polens, unmöglich war. Ihre Geschichten sind in den Beständen des International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen dokumentiert. Ausgehend von diesen Lebensgeschichten stellt Akim Jah in seinem Beitrag das archivpädagogische Workshopkonzept vor, das im Rahmen der Bildungsarbeit des ITS entwickelt wurde. Anhand der Selbstaussagen jüdischer DPs wird die Geschichte des Antisemitismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit thematisiert. Zugleich eröffnet sich so die Möglichkeit, die weit verbreitete Legende zu destruieren, es habe Antisemitismus vor 1945 gegeben, aber danach nicht mehr. Die Formen des sekundären Antisemitismus, die sich damals herausbilden, sind auch heute noch von unverminderter Aktualität. Die Auseinandersetzung mit ihnen muss deshalb, so die Forderung Jahs, ein zentraler Bestandteil einer zeitgemäßen antisemitismuskritischen Bildungsarbeit sein.

Wie historisch-politische Bildung als Empowermentarbeit funktioniert, stellt Laura Digoh-Ersoy in ihrem Beitrag dar. Sie verweist beispielhaft auf die Wanderausstellung „Homestory Deutschland. Schwarze Biographien in Geschichte und Gegenwart“ der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD Bund e.V.), die nicht nur „empowerndes Wissen“ generierte, sondern auch Möglichkeiten eröffnete, rassismuskritische Arbeit in Gruppen mit heterogenen Rassismuserfahrungen zu gestalten. In der Repräsentation Schwarzer Lebensgeschichten zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten geht es um den Aufbau eines ‚Gedächtnisspeichers‘, eines Bestands an widerständigen Wissen, eines Gedächtnisses der Kämpfe und Strategien gegen den alltäglichen Rassismus. Aus der Erfahrung heraus, dass sich die Machtasymmetrie zwischen weiß und schwarz positionierten Menschen auch in der politischen Bildungsarbeit reproduziert, erinnert Digoh-Ersoy überdies an die Notwendigkeit geschützter Räume, in denen Menschen mit Rassismuserfahrungen sich ohne Rechtfertigungsdruck und ohne Reduzierung auf ihr vermeintliches ‚Andersein‘ mit ihren vielfältigen Sichtweisen auseinander setzen können. In beiden, der Generierung von Widerstandswissen und der Bereitstellung von Safer Spaces, erweist sich rassismuskritische Bildung als Teil der Schwarzen Emanzipationsbewegung. Teilt Bildungsarbeit diesen inneren Bezug zur Emanzipationsbewegung nicht, dann ist sie, so Digoh-Ersoy, auch nicht rassismuskritisch.

Auf den ersten Blick scheint es keinen besseren Ort zu geben, nachwachsende Generationen über die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus aufzuklären, als die Schule. Gerade in Deutschland wäre zu erwarten, dass Antisemitismusprävention ein fester Bestandteil im Schulcurriculum ist. Tatsächlich aber war dies nach 1945 nie der Fall. Im Gegenteil: In Schulen wurde nachweislich jahrzehntelang aktiv an der Tradierung antisemitischer Wissensbestände mitgearbeitet – sei es dadurch, dass Jugendbücher wie „Damals war es Friedrich“ im Deutschunterricht zur Pflichtlektüre erhoben wurden, ohne dass die darin transportierten Klischees über Juden kritisch thematisiert wurden, sei es dadurch, dass im Geschichtsunterricht das jahrhundertealte Stereotyp von den Juden als Geldverleiher und Wucherer zur Erklärung für die Judenfeindschaft in der Mehrheitsbevölkerung herangezogen wurde (und wird!), oder sei es, dass zur Illustration aktueller Finanzkrisen antisemitische Karikaturen verwendet werden (wie in dem Schulbuch „Anstöße 2. Geschichte Wirtschaft Gesellschaft“ des Klett-Verlags aus dem Jahre 2012). Überdies verfügen Lehrer*innen häufig nicht über die Kompetenz, aktuelle Erscheinungsformen wie den israelbezogenen Antisemitismus im Unterricht angemessen zu bearbeiten, ja überhaupt zu erkennen. Entsprechend hilflos reagieren sie, wenn es zu antisemitischen Vorfällen an Schulen kommt. Häufig leugnen sie auch schlicht, dass es Antisemitismus überhaupt an ihren Schulen gibt. Dass es diesen gibt, erfährt man aber, wenn man mit jüdischen Schüler*innen über ihre Erfahrungen spricht. Katja Bauch hat dies getan und die Ergebnisse in ihrem Beitrag dargestellt.

Es zeigt sich, dass es vor allem die Gewaltförmigkeit des scheinbar banalen Alltagsantisemitismus ist, die den Schüler*innen zu schaffen macht, und es ist die Gleichgültigkeit und Passivität der Lehrer*innen und Mitschüler*innen: „Das Gefühl des Alleinseins trugen“, so Bauch, „alle Interviewten in sich“ (S. 184). Und alle Interviewten wünschten sich, „dass eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Schule erfolgt“ (ebd.). Dazu allerdings, so die Forderung von Bauch, wäre es nicht nur notwendig, sondern längst überfällig, dass die Behandlung des Themas in der universitären Lehramtsausbildung verankert wird, dass die kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Formen des Antisemitismus ins Schulcurriculum aufgenommen wird und dass antisemitische Klischees endlich aus den Schulbüchern verschwinden.

Diskussion

Es ist schwierig herauszubekommen, was genau die Fragestellung des Buches ist.

  • Ist es das „Lernen aus Geschichte(n)“ unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen, also vor allem die schon seit längerem diskutierte Frage, wie eine zeitgemäße historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus auszusehen hätte?
  • Ist es die Herausforderung, Kontinuität und Diskontinuität von Antisemitismus und Rassismus in der historisch-politischen Bildungsarbeit angemessen zu thematisieren?
  • Oder ist es die überfällige Diskussion über die spezifische Differenz zwischen rassismus- und antisemitismuskritischer Bildungsarbeit?

Liest man die Einleitung, so verstärkt sich der Eindruck, dass dies den Herausgebern selber nicht so ganz klar zu seien scheint: „Wenn wir das ‚Lernen aus Geschichte(n)‘ in diesem Sammelband in den Fokus rücken, so verbunden mit der Frage nach einer Verhältnisbestimmung zu Antisemitismus und Rassismus. Damit öffnen wir ein weites und äußerst facettenreiches Feld“ (S. 7). So ist es. Ein facettenreiches, aber auch ein disparates Feld, wie an der Zusammenstellung der Beiträge zu sehen ist, die manchmal so „multiperspektivisch“ gerät, dass der berühmte ‚rote Faden‘ nur noch mit viel Phantasie zu erkennen ist. Ein wenig ‚Komplexitätsreduktion‘ oder auch ein wenig mehr ‚Fokussierung‘ wäre hier möglicherweise sinnvoll gewesen.

Wie immer lässt sich jede Schwäche aber auch als Stärke darstellen. Diese läge dann nicht in der Stringenz des Bandes, sondern in seiner Diversität. Jeder Beitrag breitet eine neues Thema aus und regt zum Weiterdenken an. Die Herausgeber nennen dies sehr hübsch ein „facettenreiches Mosaik“ (S. 12). Auch können die Schwierigkeiten der Herausgeber, ihre Fragestellung präzise zu formulieren, als Indiz dafür genommen werden, dass sich die Diskussion über eine zeitgemäße historisch-politische Bildungsarbeit noch sehr am Anfang befindet. Das Buch kann dann als Suchbewegung, als Versuch der tastenden Orientierung in einem ziemlich freien Gelände gelesen werden. Und dieses ziemlich freie Gelände wäre eben das, was die Herausgeber als historisch-politisches Lernen im Kontext von vergangenem und gegenwärtigem Antisemitismus und Rassismus kennzeichnen. Dazu gibt es in der Schulpädagogik wenig, dazu gibt es aber auch an den außerschulischen Lernorten der kollektiven Erinnerungsarbeit wenig. Ja, es gibt hier sogar so wenig, dass man der Forderung des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags nur uneingeschränkt zustimmen kann, „endlich eine zeitgemäße Aufarbeitung des Nationalsozialismus voranzutreiben und vor allem pädagogische und didaktische Methoden zur Verbindung von historischem und aktuellem Antisemitismus und Rassismus zu entwickeln“ (S. 9). Ansätze dazu finden sich, wie gezeigt, in dem Buch.

Fazit

Der Sammelband erörtert die Herausforderungen einer zeitgemäßen historisch-politischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und Rassismus aus vielfältigen Perspektiven. Er hat aufgrund der Fülle von sehr praxisnahen Beiträgen einen hohen Gebrauchswert für die pädagogische Arbeit.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245