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Tim Krüger: Sterben und Tod

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 07.02.2018

Cover Tim Krüger: Sterben und Tod ISBN 978-3-95650-243-9

Tim Krüger: Sterben und Tod. Kernthemen Sozialer Arbeit. Ergon Verlag (Würzburg) 2017. 211 Seiten. ISBN 978-3-95650-243-9. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Erziehung, Schule, Gesellschaft, Band 79.

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Thema

Sterben und Tod gehören zum menschlichen Leben, sind letztlich das einzig gesicherte Faktum menschlicher Existenz und sind ein wesentliches Thema in Gesellschaft und Wissenschaft. Bislang fehlt es an einer umfassenden Integration der Thematik in die Handlungswissenschaft Sozialer Arbeit, auch wenn hier viele Befunde und Theorien zu einer Auseinandersetzung auffordern. Soziale Arbeit findet längst in den klassischen Feldern, z.B. in Hospizen und Krankenhäusern statt, greift dort professionell ein, oder ist wenigstens mit dem Phänomen des Sterbens konfrontiert. Unklar ist dabei oft, auf welche Theorien Bezug genommen wird, welche methodischen Konzepte zum Tragen kommen und wie sich Disziplin und Profession Sozialer Arbeit generell gegenüber Tod und Sterben positionieren. Tim Krüger greift diese Fragestellungen in seiner Studie auf und erschließt damit philosophische, ethische, institutionelle, fachwissenschaftliche und methodische Aspekte des Sterbens für die Soziale Arbeit. Die Studie wurde als Abschlussarbeit/Masterthesis vorgelegt.

Herausgeber und AutorInnen

Tim Krüger lehrt nach Abschluss als M. A. Bildungswissenschaften/Sozialpädagogik als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Geschichte und Theorien der Sozialen Arbeit, Erziehungswissenschaft und Soziale Arbeit im Kontext von Sterben, Tod und Trauer. Aktuell Promotionsstudium an der Universität Lüneburg

Aufbau und Inhalt

In drei Abschnitten beschäftigt sich Tim Krüger mit Grundlagen und allgemeinen Aspekten des Sterbens und der historischen und aktuellen Bedeutung für gesellschaftliche Zusammenhänge, beschreibt ehrenamtliche und professionelle Hilfeangebote und extrahiert daraus theoretische und methodische Ansätze für die Soziale Arbeit und verknüpft diese abschließend mit den handlungswissenschaftlichen Grundlagen der Sozialen Arbeit.

Grundlagen

Das Grundlagenkapitel erschließt die historischen und gegenwärtigen Aspekte des Sterbens, dessen Bedeutung, Platzierung und gesellschaftliche Wahrnehmung. Krüger beschreibt hier Phänomene wie Integration des Todes in Gesellschaften und dessen kollektive Verdrängung. Auf die Gegenwart bezogen erschließt er die Bedingungen des Lebens und Sterbens in der Postmoderne, die er, mit Bezug auf die entsprechenden Referenztheorien und -analysen als Gefährdung der Subjektivität bei Wegfall tradierter sozialer Einbettung, Institutionalisierung, Entfremdung (Globalisierung), Enttraditionalisierung und Ausgliederung des Todes beschreibt. Diese, betrieben in und durch Institutionalisierung sieht er verknüpft mit einer Gegenbewegung, die einen bewussten Umgang via Spiritualität, Gestaltung von Abschieds- und Trauerprozessen, die umfangreiche Begleitung Sterbender im Rahmen der neueren Hospizbewegung entwickelt hat.

Einen Exkurs unternimmt Krüger zum Thema „Sterben und Tod nach Auschwitz“. Auschwitz sieht er hier u.a. als Symbol für eine Sinnkrise und als tiefe Verunsicherung, „die sich in postmodernen, kaum noch an etwas metaphysisch Höheres gebundenen Gesellschaftsformen zeigt.“ Sehr weitgehend, aber eben als Diskussionsaufforderung gemeint formuliert er: „Auschwitz und die durch seine Symbolität beschriebenen faschistoiden Menschen- und Gesellschaftsbilder können auch als Vorgriff auf die postmoderne Entwertung des Individuums interpretiert werden“ (95).

Geschichte des Helfens

„Die Death Education nimmt die angenommene Notwendigkeit über den Tod zu sprechen, sich mit ihm, dem Sterben auseinanderzusetzen, wieder auf. Die Vorzeichen … haben sich allerdings geändert. Nicht mehr eine allgemeingültige christliche Fundierung des dies- und jenseitigen Lebens wird angenommen. Metaphysik und Religiösität werden durch die Death Education unter dem Oberbegriff der ‚Spiritualität‘ als subjektive Haltungen gewürdigt“ (67). Death Education also, als Vorform der frühen, dann der organisierten und vernetzten Hospizbewegung greift philosophische, biologische und spirituelle Bezüge aus unterschiedlichen Epochen – vom antiken Griechenland bis in die Neuzeit – auf und wirbt für einen bewussten Umgang mit dem Sterben, den Sterbenden und dem Tod, der so greifbar und – optimaler Weise – handhabbar, oder zumindest gestaltbar gemacht wird. Krüger zeichnet diese Entwicklung von den Anfängen bis hin zur modernen Hospizbewegung nach und verweist auf die damit verbundene Übergangsthematik, z.B. in Form von Trauerarbeit und Verlustbewältigung. Damit etablierte sich die Abkehr einer Wahrnehmung des Sterbens und des Todes als rein biologisches Phänomen hin zu einer „Prävention des sozialen Todes“ (100). Gemeint ist hier einerseits die Einbeziehung sozialer Akteure (z.B. Ehrenamtlicher) in die Begleitung Sterbender, die Öffnung des Sterbevorgangs (als soziales Phänomen), aber eben auch die Vermittlung „unbedingte(r) Solidarität“.

Niemand muss alleine, abgeschottet und verborgen in Sterbeinstitutionen (die hier als totale Institutionen im Kontext der Arbeiten Goffmans bezeichnet werden) sterben, sondern kann auch in diesem – letzten – Abschnitt Teil einer Gruppe, der Gesellschaft sein, sozial wahrgenommen und gestützt. Die Hospizbewegung zeigt sich hier auch als institutionskritische Bewegung, indem sie kritisiert „dass in Folge des verlernten Umgangs mit Sterbenden eine Professionalisierung einsetzte, die authentisches Mitgefühl und gesellschaftlich-gemeinschaftliche Solidarität durch Techniken und Routine ersetzte“ (102), wodurch es zu einer deutlichen Entmenschlichung des Sterbens und damit zum Verlust sozialen Zusammenhalt gekommen ist. Hospize schaffen hier als praktischer Ansatz eine sozio-kulturelle Rückbindung in natürliche soziale Strukturen mit Verknüpfung traditioneller Aspekte und Begriffe wie Familie und Zuhause, wodurch eine gelingende Praxis des Sterbens und sterben Lassens ermöglicht wird.

Sterben und Tod in der Sozialen Arbeit

„Im Zuge der Ausweitung sozialpädagogischer Handlungsfelder und der gesellschaftlichen Normalisierung sozialpädagogischer Tätigkeiten ist für Disziplin und Profession das Thema zu Sterben zu reflektieren. Sterben und Sterbebegleitung, auch im Sinne einer Arbeit mit Angehörigen, gewinnen eine immer größere Relevanz im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext … Professionelle der Sozialen Arbeit haben in den verschiedensten ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen mit den Themen Sterben, Tod, aber auch Sterbe- und Trauerbegleitung, zu tun. Der Themenbereich lässt sich in den zentralen, subjektorientierten Zugängen zur Sozialen Arbeit, der Subjektorientierung … der Lebensweltorientierung … als auch in der Lebensbewältigungstheorie verorten“.

Tim Krüger erschließt im dritten Kapitel diese theoretischen und methodologischen Grundsätze und Konzepte und führt sie mit dem Thema seiner Studie, Sterben und Tod zusammen. Vor allem die Grundprinzipien aus Lebensweltorientierung (nach Thiersch) und Lebensbewältigung (nach Böhnisch) werden auf den „Anwendungsfall“ Sterben und Tod hin analysiert und ausgewertet und zu einem Konzeptansatz („Die Dramatiken des Lebens zulassen – Thiersch und Böhnisch im Dialog“ 130) verarbeitet. Die Betreuung Sterbender und ihrer Angehöriger definiert Krüger abschließend als „Querschnittsthemen theoretisch fundierter Praxis der Sozialen Arbeit“, deren fachliche Aspekte er vor allem in der Klinischen Sozialarbeit als Fachsozialarbeit (deren Grundzüge referiert werden) und im Casemanagement verortet sieht. Die Ausführungen dazu führt Krüger dann noch mit grundsätzlichen ethischen Überlegungen zum Umgang der Sozialen Arbeit mit Sterben und Tod, mit Erfahrungen der amerikanischen „Death Prevention“ und „Palliative Social Work“, dem Sonderfall der Suizidthematik und den Erfordernissen und Möglichkeiten der Adressatenforschung zusammen.

Im Ausblick formuliert der Autor nochmals seine Überlegungen: „Eine durch die Begriffe des sozialpädagogischen Problems, der Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung fundierten Praxis der Sozialen Arbeit wird sich bewusst über die Bedeutung von Verlusten im Zuge von Sterben und Tod. Sie weiß um die veränderte Generationendifferenz in sozialpädagogischen Kontexten. Sterben und Tod sind Querschnittsthemen einer theoretisch fundierten Praxis, die im Lichte der bestehenden Theorien, also einer auf das ‚gelingendere‘ Leben ausgerichteten Handlungspraxis, bearbeitet werden muss“ (188)

Zielgruppe

Tod und Sterben werden hier als Kernthema Sozialer Arbeit erschlossen. Entsprechend richtet sich das Buch an alle in der Praxis stehenden Sozial Arbeitenden und bietet sich auch für die Verwendung in Ausbildungszusammenhängen an.

Diskussion

Sterben und Tod sind, als unabdingbar zur menschlichen Existenz gehörend, ein allgegenwärtiges Phänomen und eng mit dem Leben, der Bewältigung des Daseins verknüpft. Damit wäre auch schon der Zusammenhang zwischen Sterben/Tod und Sozialer Arbeit definiert, vom Kontext der Gesundheitshilfen, der Familienhilfe, Psychiatrie, der Krisendienste, den sozioökonomischen Aspekten die damit assoziiert sind. Gleichwohl hat sich die Soziale Arbeit kaum strukturiert mit der Thematik befasst, sie in ihrer Bedeutung erfasst und in eine Handlungstheorie integriert. Abgesehen von einzelnen An- und Aufsätzen, die zumeist in enger Bezogenheit auf ein Phänomen (z.B. psychosoziale Onkologie, Palliativarbeit) hin formuliert worden sind. Das ist das Verdienst der vorliegenden Arbeit und des Autors, der hier einen – für eine Masterthesis sehr – umfassenden Entwurf vorlegt zur Bedeutung des Sterbens in der Gesellschaft, den damit verknüpften sozialen Bezügen, psychosozialen Problemlagen und der fachlichen Einordnung in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit.

Die historische Orientierung zeigt, z.B. in den mittelalterlichen Totentänzen, der früheren Bedeutung des Friedhofs als sozialer Ort – dass die Integration von Tod und Sterben in postmodernen Zeiten – zwar nicht mühelos, aber – selbstverständlicher und besser gelang, wodurch positive Bezugspunkte formuliert werden.

Neben einer gründlichen theoretischen Verortung – i. S. einer Orientierung – liefert Krüger auch praktische Aspekte, methodische Ansätze und damit konkrete, fachlich begründete Handlungsansätze, die dazu einladen, Sterben und Tod als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit über alle Arbeitsfelder hinweg aufzugreifen und den Platz einzuräumen der angemessen ist. Die fachlichen Perspektiven reichen dazu von einer grundlegenden Gestaltung des Umgangs mit dem Tod (unter dem Konzept der Death-Education und Hospizbewegung) bis zu sozialtherapeutischen Ansätzen bei durch Verlust und Tod ausgelösten Krisen- und Belastungsphänomenen im Kontext der Klinischen Sozialarbeit. Krügers Bezugnahmen und Analysen sind dabei umfassend, weisen aber auch Lücken auf (z.B. wurde auf die Integration der Arbeiten Engelkes [2015] zum Umgang mit Tod und Sterben (und den dort formulierten Ansätzen zu einer besseren Verknüpfung der Thematik im Alltag) verzichtet.

Krüger beweist insgesamt ein hohes fachliches Geschick, Gründlichkeit und ein hohe Fähigkeit der Integration der unterschiedlichen fachlichen Anteile und Perspektiven. So ist das Buch mehr als eine reine theoretische Studie (hier im Rahmen einer Masterthesis vorgelegt), ist in einzelnen Kapiteln als konkrete Handlungsempfehlung und Praxisbeispiel in der Art eines Handbuchs formuliert und bietet zweierlei: theoretische Fundierung/Erschließung und praxistaugliche Hinweise, die den state-of-the-art erschließen und Perspektiven für die Weiterentwicklung in der Sozialen Arbeit eröffnen.

Tim Krüger erschließt mit seiner Studie Sterben und Tod als Querschnittsthemen Sozialer Arbeit. In diesem Sinn erweist sich Krügers Studie als wichtiger Markstein für die Soziale Arbeit. Die historischen Verknüpfungen erweisen sich dabei als teilweise erweiterbar, so wäre z.B. die Bezugnahme auf den Aspekte des kollektiven Vergessens bzw. Verdrängens der nationalsozialistischen Vergangenheit bei Mitscherlich & Mitscherlich (1967) dringend in den – ansonsten sehr gelungenen – Abschnitt „Nach Auschwitz“ (92ff) zu integrieren. Im Bereich der aktuellen gesellschaftlichen Bezüge wäre eine Integration der Flüchtlingsthematik und deren Bedeutung für die Soziale Arbeit wünschenswert; hier vor allem eine Auseinandersetzung mit dem von Flüchtenden massenhaft erlebten Traumata von Tod, Verlust, Bedrohung und den damit verknüpften psychosozialen Problemlagen, aber auch den Auswirkungen auf die hier professionell Tätigen (Stichwort: sekundäre Traumatisierung).

Fazit

Tim Krüger erschließt in seiner Studie historische Aspekte von Tod und Sterben im Kontext gesellschaftlicher Umgangs-, Bewältigungs- und Verdrängungspraktiken, beschreibt ehrenamtliche und professionelle Hilfeangebote und extrahiert daraus theoretische und methodische Ansätze für die Soziale Arbeit und verknüpft diese abschließend mit den handlungswissenschaftlichen Grundlagen der Sozialen Arbeit. Damit definiert und integriert Krüger Tod und Sterben als Kernthema der Disziplin Sozialer Arbeit, als Querschnittsaufgabe durch alle Arbeitsfelder der Profession. Das Werk empfiehlt sich so als Grundlagenliteratur für alle Ausbildungsgänge Sozialer Arbeit, vor allem in den grundlegenden Ausbildungsabschnitten. Dementsprechend ist Krügers „Tod und Sterben“ eine weite Verbreitung zu wünschen.

Literatur

  • Engelke, E. (2015). Die Wahrheit über das Sterben. Wie wir besser damit umgehen. Reinbeck: Rowohlt
  • Mitscherlich, A. & Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245