Sina Holst, Johanna Montanari (Hrsg.): Wege zum Nein (Sexualstrafrechtsreform in Deutschland)
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 18.10.2017

Sina Holst, Johanna Montanari (Hrsg.): Wege zum Nein. Emanzipative Sexualitäten und queer-feministische Visionen. Beiträge für eine radikale Debatte nach der Sexualstrafrechtsreform in Deutschland 2016. edition assemblage (Münster) 2017. 256 Seiten. ISBN 978-3-96042-015-6. 14,00 EUR.
Thema
Das Buch wendet sich dem Themenfeld sexualisierte Gewalt zu, sowie den neu eingeführten juristischen Regelungen, die dem Prinzip „Nein heißt Nein“ folgen. Dabei werden sowohl die feministischen Hintergründe des Prinzips vorgestellt und diskutiert, wie auch der aktuelle juristische Sachstand, der, im Anschluss an Debatten nach der „Kölner Silvesternacht“ 2016, auch eine deutlich politische Komponente trägt. Nicht zuletzt werden Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt thematisiert. Bei Fokus auf Präventionsdebatten werden dennoch auch Möglichkeiten selbstbestimmter Sexualität und positive Aspekte sexuellen Tuns vorgestellt.
Herausgeber_innen und Entstehungshintergrund
Die beiden Herausgeber_innen Sina Holst und Johanna Montanari haben im Jahr 2015 The Irksome Institute gegründet und publizieren seitdem unter diesem Namen. Zur Abstimmung und Entwicklung des Bandes haben sie die Autor_innen zu mehreren Zusammenkünften eingeladen, bei denen das Gesamtkonzept des Buches entwickelt wurde. Gefördert wurde die Publikation von der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenförderung.
Aufbau …
Bereits in der Anlage des Bandes zeigt sich der Ertrag der ausführlichen Abstimmung zwischen den Autor_innen im Schreibprozess. So stellt das Inhaltsverzeichnis nur eine erste Richtschnur dar und werden am Ende eines jeden Beitrags alternative Möglichkeiten aufgezeigt, im Buch weiterzulesen. Zugleich erweisen sich die Beiträge als sprachlich aufeinander abgestimmt, so dass bei der vom Inhaltsverzeichnis abweichenden Lektüre weder Schwierigkeiten im Lesefluss, noch im inhaltlichen Verständnis entstehen. Das Inhaltsverzeichnis:
- Eine Einladung (Sina Holst und Johanna Montanari)
- Wege durch Wege zum Nein (Überblick über den Band)
- Richtige Reform aus falschem Anlass: Eine geschichtliche und juristische Einordnung der Reform des Sexualstrafrechts 2016 in Deutschland (Nina Kromm)
- Kein Käfig, keine Grenze: Für eine Politik der Beziehungen und der Präzision (Johanna Montanari)
- Notizen zu m_einem Nein (Nello Fragner)
- Die (Un-)Möglichkeit ‚nach Köln‘ über sexualisierte Gewalt zu sprechen: Bericht aus der Kampagne #NeinHeisstNein (Daniela Christina Antons und Eva Busch)
- ‚Schutz‘ als Framing repressiver Sicherheitsdiskurse: Analyse aus der Kampagne #NeinHeisstNein (Daniela Christina Antons und Eva Busch)
- Disruptive Talk: Ein fiktives Gespräch über queer BDSM, kink und Konsens (Laura Eftychia Papachristos)
- Wenn die Sexualassistenz meine Grenze überschreitet (Katja Alekseev)
- Der Wille zum Nein: Wie die deutsche Rechtsprechung Betroffenen sexueller Gewalt den selbstbestimmten Subjektstatus verweigert hat (Dania Alasti)
- Ja sagen! Aber zu was, wenn es keine Worte gibt? Kommunikationserleichterung durch Repräsentation der klitoralen Masturbation in der Sprache (Debbie Taudt)
- Fragile Frauen: Über die Vorstellung von Betroffenheit durch sexuelle Gewalt (Teresa Mallt)
- Konsenskultur: Zutaten und Bausteine einvernehmlicher Atmosphären (Joris Kern)
- Sprechende Bilder, Widerstand und Spucke: Eine poetisch-aktivistische Auseinandersetzung mit der Debatte um die Sexualstrafrechtsreform 2016 (Sina Holst)
- Anzeigen oder nicht? Der Weg durch die Justiz bei Sexualdelikten (Ronska Verena Grimm)
- Autor*innen und Dank
… und Inhalt
Der Band spannt mehrere Themenstränge auf, die sich – liest man das Buch einfach von vorne nach hinten durch – miteinander abwechseln. So wird ein lebendiges Lesen ermöglicht, da sich etwa juristische Fragestellungen mit konkreten Erfahrungsberichten abwechseln. Grob lassen sich folgende Themenbereiche untergliedern:
- juristische Perspektiven,
- mit eigenen Erfahrungen sexueller Gewalt umgehen,
- das neue Sexualstrafrecht und Asylrecht / Rassismus,
- Unterstützung, Bündnisse, Verbündete.
Die gesellschaftliche Einbindung der Debatte gelingt bereits in den eröffnenden Beiträgen, gleichzeitig werden die Grundzüge der Strafrechtsreform vorgestellt. So stellen Nina Kromm und Daniela Christina Antons / Eva Busch in ihren Beiträgen den feministischen Streit für eine „Nein heißt Nein“-Regelung vor, wie er über Jahre geführt wurde. Mit den Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2016 und vor allem der sich daran anschließenden rassistisch zugespitzten Debatte habe sich die Diskussion verbreitert, seien aber wesentliche Grundprinzipien von „Nein heißt Nein“ in der gesellschaftlichen Diskussion nicht angekommen. So sei ein zentrales Ziel der Kampagne #NeinHeisstNein in den Hintergrund getreten, nämlich den grundlegenden sexistischen Konsens in der deutschen Gesellschaft zu thematisieren und zu problematisieren. Das führte auch dazu, dass das Bündnis #NeinHeisstNein vor dem Deutschen Bundestag demonstrierte und forderte, „dass #NeinHeisstNein als Grundtatbestand im Sexualstrafrecht konsequent umgesetzt wird – ohne weitere Verschärfungen des Aufenthaltsgesetzes!“ (S. 82) Durch die Verquickung der Änderungen des Sexualstrafrechts mit asylrechtlichen Bestimmungen und rassistischen Diskussionen würden einerseits der Sexismus und die sexuelle Gewalt, die von weißen Männern ausgehen, unsichtbar gemacht und andererseits rassistische staatliche Interessen verfolgt. Und auch mit Blick auf Männer of Color verweisen die Autor_innen auf Selbstbestimmung: „Als der Polizeieinsatz [zur Kölner Silvesternacht 2016, Anm. HV] im Nachhinein gelobt wurde, weil er das ungestörte Feiern der Kölner*innen und Silvester-Tourist*innen ermöglicht habe, war klar: Hunderte Menschen of Color waren hier nicht mitgedacht. Denn diese wurden am Hauptbahnhof eingekesselt und kontrolliert, statt ungestört feiern zu können.“ (S. 95) Männer of Color waren unter Generalverdacht, ein konkreter Anfangsverdacht gegen eine Person war nicht mehr Ausgangspunkt einer Kontrolle, sondern Männer of Color wurden gruppiert und in ihrer Gesamtheit kontrolliert. Besonders problematisiert wird in den Beiträgen die neue Regelung im § 184j StGB, weil mit der dort verankerten Regelung nicht mehr notwendig sei, dass sich eine Person konkret an einer Straftat beteiligt, sondern für eine Strafverfolgung schon ausreichend sei, wenn sie in einer Gruppe unterwegs ist, aus der heraus von irgendjemandem eine Straftat begangen wird.
Trotz der strafrechtlichen Neuregelung sei weiterhin abzuwägen, ob frau(_mann) eine Straftat anzeige, da mit der Anzeige weiterhin Risiken verbunden seien. So sei ein genauer und gerichtsfester Nachweis für die Straftat erforderlich. Eine ausführliche Diskussion des Wegs der Anzeige gibt Ronska Verena Grimm im Beitrag „Anzeigen oder nicht?“, der den Band beschließt.
In den weiteren Beiträgen werden konkrete Erfahrungen mit sexueller Gewalt, mit Übergriffen und Grenzüberschreitungen geschildert. Das geschieht im Beitrag „Notizen zu m_einem Nein“ von Nello Fragner und „Wenn die Sexualassistenz meine Grenze überschreitet“ von Katja Alekseev. In ihnen wird plastisch deutlich, wie Übergriffe und sexuelle Gewalt ablaufen können und welche Herausforderungen vor der betroffenen Person stehen, diese zu thematisieren und dabei Gehör und Glauben zu finden. Dass in den Situationen von Übergriffen und sexualisierter Gewalt nicht nur die Sprache genommen wird (Wie lässt sich ein Übergriff nachweisen?), sondern dass es auch zum sexistischen Grundproblem der Gesellschaft gehört, dass es gerade für weibliche Sexualität keine oder nur unpräzise Begriffe gibt, macht Debbie Taudt in dem Beitrag „Ja sagen! Aber zu was, wenn es keine Worte gibt?“ deutlich und geht dabei von nicht bzw. in nur geringem Maße vorhandenen Begriffen für weibliche Selbstbefriedigung und weibliche Genitalien aus.
Abschließend sei noch darauf verweisen, dass im Buch auch Fragen selbstbestimmter Sexualität – etwa selbstbestimmter BDSM-Praktiken – artikuliert und Vorschläge für „einvernehmliche Atmosphären“ unterbreitet werden. Das Buch „Wege zum Nein“ beinhaltet damit – und auch das zieht sich als Thematik durch die Beiträge – auch einen positiven Ausblick darauf, wie denn „Wege zum Ja“ aussehen könnten.
Diskussion und Fazit
Die Beiträge sind sorgfältig und fundiert gearbeitet und geben einen sehr guten Überblick über den aktuellen Sachstand und schlagen zugleich weitere innovative Sichtweisen vor. Inhaltlich ist das Buch äußerst facettenreich, gleichzeitig sind die Beiträge gut und tief miteinander verschränkt – die_der Leser_in profitiert damit ganz erheblich von den Abstimmungsprozessen unter den Autor_innen, die das Entstehen des Bandes begleiteten.
Zugleich ist der Band äußerst flüssig und gut verständlich geschrieben, mit jeweils eingeflochtenen Erläuterungen ggf. schwieriger Begriffe und Konzepte. Auf den Lesefluss störende Zitierungen im Text wurde verzichtet – notwendige Anmerkungen erfolgen in sparsam angebrachten Fußnoten.
Kurz: Es handelt sich um eine sehr ertragreiche und leichtgängige Publikation, der ein großes Publikum zu wünschen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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