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Christoph Drösser: Wir Deutschen und die Liebe

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 24.10.2017

Cover Christoph Drösser: Wir Deutschen und die Liebe ISBN 978-3-8419-0561-1

Christoph Drösser: Wir Deutschen und die Liebe. Wie wir lieben. Was wir lieben. Was uns erregt. Edel Verlag (Hamburg) 2017. 208 Seiten. ISBN 978-3-8419-0561-1. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Holger Geißler (Herausgeber), Andreas Volleritsch (Urheber).

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Thema

„Wir Deutschen & die Liebe“ wendet sich, orientiert an Studien des YouGov-Marktforschung-Institutes, dem Beziehungsverständnis, den sexuellen Fantasien und sexuellen Vorstellungen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu. Die zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Untersuchungen wurden im Rahmen der Marktforschung durchgeführt und basieren jeweils auf Umfragen mit etwa 1.000 bis 2.000 Teilnehmenden, die als repräsentativ einzuordnen sind. Die Eigendarstellung in der Pressearbeit des Instituts, dass etwa 12.000 oder gar 70.000 Befragte in die Untersuchung einbezogen worden seien, mag in der Gesamtheit zutreffen – für die einzelnen Fragen gilt dennoch etwa n = 1.000 bis 2.000.

Zielgruppe

Das Buch selbst richtet sich an ein größeres Publikum, der Textteil ist auf das Mindestmaß reduziert, und es arbeitet intensiv mit veranschaulichenden Grafiken. Auch der Titel „Wir Deutschen & die Liebe“ ist auf ein solches breiteres Publikum und die werbewirksame Auslage in Bahnhofsbuchhandlungen abgestimmt – würde „sexuell“ oder „Sex“ im Titel auftauchen, wäre die Verbreitung über den stationären Buchhandel kaum möglich. Liebe steht damit durchaus in zentralen Teilen des Buches einfach für Sex.

Herausgeber_innen und Entstehungshintergrund

Als Herausgeber sind Christoph Drösser und Holger Geißler auf dem Buchcover genannt. In der Eigendarstellung des Verlags und des YouGov-Institutes im Hinblick auf das Buch wird zwischen beiden unterschieden: Christoph Drösser, der Diplom-Mathematiker ist und selbst insbesondere als Wissenschaftsjournalist – lange bei der Zeitschrift „Die Zeit“ – gearbeitet hat, wird als Autor des Buches benannt; Holger Geißler, der Forschungsleiter und Sprecher von YouGov ist und als Lehrbeauftragter am Institut für Informationswissenschaft der TH Köln geführt wird, wird als Herausgeber angeführt. Angebunden ist das Buch bei dem Marktforschungsinsitut YouGov, das international vielfältige Untersuchungen durchführt.

Aufbau

Bereits das Inhaltsverzeichnis ist anschaulich gestaltet und nutzt verschiedene Bildformate. Angeführt sind die folgenden Kapitel:

  • Ein Gefühl namens Liebe
  • Mein Körper und ich
  • Die Anbahnung
  • Das erste Mal
  • Partnerschaft
  • Sex konkret
  • Sex im Kopf
  • Verhütung und Hygiene
  • Homosexualität
  • Porno und Prostitution
  • Die dunkle Seite des Sex
  • Das Ende der Liebe
  • Meinungen zu Sex und Liebe
  • Impressum

Inhalte und ihre Einordnung in den wissenschaftlichen Sachstand

Entlang der im Inhaltsverzeichnis angeführten Punkte werden im Buch die Beziehungs- und sexuellen Vorstellungen von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt, wie sie in den Online-Untersuchungen des YouGov-Institutes angegeben wurden. Dabei nähern sich Autor und Herausgeber von Fragen zu Beziehung. Liebe, Partnerschaft und eigenem Körperempfinden an, um anschließend explizite Vorstellungen zu sexuellem Erleben, sexueller Zufriedenheit, sexuellen Fantasien und sexuellen Praktiken anzuführen.

Bereits eingangs halten Drösser und Geißler als Essenz ihrer Ausführungen fest: „Das Ergebnis ist das Bild eines Volks, das einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen in allen Spielarten toleriert und sich nicht moralisch über andere erhebt. Das gleichgeschlechtlichen Paaren nicht nur die ‚Ehe für alle‘ zugesteht, sondern mehrheitlich auch das Adoptionsrecht. Und das andererseits bei all dieser erotischen Unübersichtlichkeit immer noch an dauerhafte Beziehungen glaubt – und an die Liebe auf den ersten Blick.“ (S. 5)

Die Darstellungen im Buch erfolgen unterhaltsam und breit – und dabei nicht explizit sexuell, sondern dem stationären Buchhandel gemäß – bebildert. Und die Ergebnisse decken sich ganz wesentlich mit denen, die von der Sexualforschung in Hamburg und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie die von der Sexualwissenschaft in Merseburg („Jugendsexualität in Ostdeutschland“) erhoben wurden. Der besondere Ertrag ist, dass nicht nur Angaben zur Sexualität von Studierenden (Hamburg) oder der Jugend (Merseburg und BZgA/Hamburg) erhoben wurden, sondern dass Drösser und Geißler angeben, repräsentativ einen Querschnitt durch die Bevölkerung vorzustellen. Entsprechend werden direkte Altersvergleiche möglich und im Buch dargestellt.

Ein Untersuchungsergebnis ist für die YouGov-Studien besonders, da die entsprechenden Fragen nicht in dieser Form in anderen deutschen Studien erhoben werden. So wird in den YouGov-Studien nicht nur nach der sexuellen Selbstidentifizierung als „heterosexuell“, „homosexuell“ und „bisexuell“ gefragt und werden nicht nur explizite sexuelle Erfahrungen erhoben, sondern die Befragten werden in den Online-Erhebungen aufgefordert, sich selbst entsprechend der bzw. angelehnt an die sexualwissenschaftliche Kinsey-Skala den verschiedenen Stufen zuzuordnen. Diese reichen von einer insgesamt „heterosexuellen“ Einordnung, bei der dennoch noch Möglichkeiten für gleichgeschlechtliche Fantasien bestehen, bis hin zu einer „homosexuellen“ Einordnung, wiederum mit Möglichkeit, andersgeschlechtliche sexuelle Fantasien zu haben und zu formulieren. Dazwischen ist ein Raum, in dem einzelne, seltene, gelegentliche oder häufigere gleich- und andersgeschlechtliche sexuelle Erlebnisse Platz finden. Interessant ist hier nun, dass lediglich 52 % der Befragten sich als „ausschließlich heterosexuell“ einordnen und sich nur 5 % als „ausschließlich homosexuell“ bezeichnen. Hingegen ordnen sich 38 % der Befragten zwischen diesen beiden Extremen ein. Die an 100 % fehlenden Anteile werden auf Angaben „weiß nicht“ zurückzuführen sein – das ist im Buch nicht genannt. (Vgl. S. 190; n = 2.036 Befragte.)

Nicht nur sexuelle Bedürfnisse und Erfahrungen werden im Buch in dieser Offenheit vorgestellt, sondern auch „Liebe“. So wird Liebe nicht nur im Sinne einer innigen und leidenschaftlichen Anziehung zu einer oder mehreren Personen verstanden, sondern wird auch „platonische Liebe“ als Möglichkeit angeführt, also eine innige, aber nicht sexuelle Beziehung und Leidenschaft, bei der 19 % der befragten Männer und 33 % der befragten Frauen beschreiben, eine solche „platonische Liebe“ zu einem_einer gleichgeschlechtlichen Partner_in zu empfinden (S. 15, n = 2.061 Befragte).

Interessant an den Darstellungen sind darüber hinaus Fragen zum Körperempfinden und der Thematisierung von „Schönheitsoperationen“. Dabei zeigt sich, dass die Befragten insgesamt recht zufrieden mit ihrem Körper sind, dennoch sich auch mit der „Norm“ vergleichen. 15 % der befragten Männer und 34 % der befragten Frauen haben demnach schon an eine Schönheitsoperation gedacht, 2 % der Männer und 3 % der Frauen haben sie bereits durchführen lassen (S. 42, n = 2.062 Befragte). Allerdings wird bei diesen Ergebnispräsentationen auch der normative Blick deutlich, den Drösser & Geißler selbst in die Ergebnispräsentation einbringen. So thematisieren sie in Bezug auf Männer explizit das Verhältnis zu ihrem Penis (78 % seien mit der Länge zufrieden, S. 38, n = 1.005), während sie für Frauen nicht etwa die Zufriedenheit mit ihrer Vulva oder zumindest ihrer Klitoris dieser Frage entgegenstellen, sondern die Zufriedenheit mit ihren Brüsten (52 % sind mit ihren Brüsten zufrieden, S. 39, n = 1.057). Warum die weibliche Brust die Entsprechung zum männlichen Penis sein sollte, wird nicht weiter erörtert. (Fragestellungen in Bezug auf Transgender oder Intergeschlechtlichkeit werden im Buch nicht thematisiert.)

Für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Betrachtung überdies bedeutsam sind die Darstellungen zum Ort bzw. dem Medium, über die Menschen aufgeklärt wurden. So zeigt sich bei den heute 18- bis 24-jährigen im Vergleich mit den heute über 55-jährigen Befragten, dass „nur“ noch 15 % der befragten Jüngeren angeben, niemals aufgeklärt worden zu sein – während das bei den Personen über 55 Jahre noch bei 35 % der Befragten der Fall war. Heute sind die Schule (49 %), Medien und Filme (28 %) und das Internet (25 %) bei den Jüngeren die wichtigsten Orte der Aufklärung, das Elternhaus und Freunde folgen erst dahinter (S. 51, n = 2.062 Befragte). Diese Ergebnisse decken sich auch mit denen, die in den sexualwissenschaftlichen Studien aus Hamburg und Merseburg festgestellt wurden. Sie betonen in einer sich individualisierenden Gesellschaft die Bedeutung der Schule auch im Hinblick auf Sexuelle Bildung.

Auch in Bezug auf die Einstellung zu Homosexualität zeigen die YouGov-Studienergebnisse, dass traditionelle Hardliner nicht soviel Anklang unter den Befragten bekommen: Wenn sich die_der beste Freund_in als lesbisch oder schwul zu erkennen geben würde, würden 88 % der Befragten befreundet bleiben; bei einem Coming out des eigenen Kindes würden 85 % damit – in Abstufungen – ganz gut klar kommen; lediglich 1 % würde sich darüber explizit freuen, 2 % antworten auf diese Frage „Das wäre für mich völlig inakzeptabel.“ und 2 % „Ich würde versuchen, es mit einer Therapie wieder auf den ‚richtigen Weg‘ zu bringen.“ (S. 188, n = 2.036). 59 % der gleichen Kohorte sind für das Adoptionsrecht für Homosexuelle, 60 % finden es problematisch, wenn ein_e homosexuelle_r Politiker_in zwangsweise geoutet wird (S. 186, 189).

Abschließend sei noch auf Angaben verwiesen, die Auskunft über Probierfreude, Fantasien und die Einstellung zur Positionierung „Ja heißt Ja“ geben. So erweisen sich die Befragten in Bezug auf Oralverkehr (82 %), Analverkehr (40 %), Rollenspiele (17 %), „SM und Fesselspiele“ (14 %) etc. durchaus aufgeschlossen (S. 142, n = 1.756); sie geben Offenheit in Bezug auf sexuelle Fantasien an, für die sich schon 20 % (befragte Frauen) bzw. 25 % (befragte Männer) einmal „geschämt“ haben (S. 161, n = 827). 42 % sind der Auffassung, dass eine „eindeutige verbale Zustimmung von beiden Partnern nicht immer nötig“ ist – 46 % sind hier der Auffassung, dass eine solche Zustimmung stets von beiden Partner_innen vor einer sexuellen Handlung vorliegen müsste (S. 75, n = 2.062).

Diskussion und Fazit

Der Band stellt eine gute und leicht gängige Übersicht dar, die auch populär mit allerlei Vorannahmen über das Beziehungsverständnis und die sexuellen Bedürfnisse und Erfahrungen von in Deutschland lebenden Personen aufräumt. Er bringt einige interessante Perspektiven ein – zum Beispiel ist die Frage relevant, was es für Beratungs- und pädagogische Angebote bedeutet, wenn sich „lediglich“ 52 % der Befragten als „ausschließlich heterosexuell“ und 5 % als „ausschließlich homosexuell“ einordnen. Angebote, die einfach auf die Ausbildung einer klaren heterosexuellen oder homosexuellen Identität abzielen, könnten hier zu kurz greifen und ggf. Möglichkeitsräume oder gar das Selbstbestimmungsrecht von Personen einschränken.

Wünschenswert wäre es gewesen, wenn im Buch bei den einzelnen Erhebungen jeweils auch – gern im Kleingedruckten oder in einem Anhang – erläutert worden wäre, was es bedeutet, wenn sich für eine Erhebung die Einzelergebnisse nicht auf insgesamt 100 % addieren, sondern ein nicht eingeordneter Rest verbleibt. Ebenfalls wäre es angemessen gewesen, die Ergebnisse in einem kurzen Nachwort mit weiteren Erhebungen in der Bundesrepublik Deutschland und den YouGov-Untersuchungen zum Beispiel zu Großbritannien und den USA zu kontextualisieren. Beim internationalen Vergleich wäre deutlich geworden, dass zahlreiche der Ergebnisse nicht „spezifisch deutsch“ sind, sondern dass sich z.B. in Großbritannien und in den USA ähnliche Entwicklungen vollziehen.

Dennoch: Der Band ist gut gearbeitet und bringt wichtige sexualwissenschaftliche Erkenntnisse in eine breite öffentliche Diskussion. Zudem sind die YouGov-Studien zur Bundesrepublik Deutschland und zu anderen Ländern insgesamt ertragreich, sodass dem Buch eine breite Leser_innenschaft zu wünschen ist.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245