Harald Rein: Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen...!
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 07.05.2018

Harald Rein: Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen...! Bemerkungen über den Zusammenhang von Alltag und Protest. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2017. 181 Seiten. ISBN 978-3-945959-25-1. D: 14,80 EUR, A: 14,80 EUR, CH: 16,00 sFr.
Entstehungshintergrund und Thema
Armut in der Bundesrepublik ist seit längerem wieder ein Thema innerhalb der Sozialwissenschaft. Von der empirischen Tatsache kann nicht mehr abgesehen werden, dass einerseits die Zahl derer, die als „arm“ bezeichnet werden können, absolut gesehen steigt und dass andererseits damit einhergehend sich die soziale Schere in Deutschland überdurchschnittlich stark geöffnet hat. Die Faktizität dieser Entwicklungen wird wohl von niemand seriös bestritten. Allerdings werden die Ursachen, Wirkungen und Folgen dieser Tendenz in den Fachwissenschaften mit unterschiedlichen Deutungen und Positionen interpretiert.
Das hier zur Rezension vorliegende Buch von Harald Rein befasst sich mit einer sehr speziellen Frage möglicher Armutsfolgen, nämlich der Möglichkeit von Armenprotesten (S. 33) und sogar noch weitergehend mit Armutswiderstand und Armutsaufständen. Diese Fokussierung vollzieht der Autor aus der Perspektive eines Aktivisten im Erwerbslosenbereich (S. 37). Ausgegangen wird hierbei von der These, dass innerhalb des Kapitalismus eine „große Angst vor unkontrollierbaren Aufständen durch Personengruppen, die außerhalb (oder nur teilweise in) der Lohnarbeit stehen.“ (S. 8) Welche Bewältigungsstrategien dabei durch Erwerbslosigkeit in der soziologischen Gruppe arme Menschen entstehen, untersucht die Monographie auch im Rückgriff auf die Forschungsgeschichte.
Aus dem Blickwinkel von Armenprotesten bis hin zum Revolutionspotenzial bietet die Monographie, die in Teilen auf der bereits vor längerem erschienenen Dissertation des Autors aufbaut, umfangreiche historische Analysen, sozialpolitische Einordnungen und einen kritischen Blick auf die bisherige Forschung. Dabei geht der Autor von der These aus, dass das Randphänomen der Armenproteste, der auch als „Widerstand von armen Leuten“ (S. 49) gewertet werden kann, in der wissenschaftlichen Forschung als ein solcher bislang nur wenig gewürdigt wurde.
Aufbau und Inhalt
Dem das Thema einleitenden Kapitel folgt in Kapitel 2 eine vergleichsweise kurze definitorische Beschreibung des Phänomens Armut und in Kapitel 3 beleuchtet er kurz den Zusammenhang zwischen ökonomischen Krisen und dem Phänomen der Armut. Dabei geht der Autor von zwei Aspekten aus, die das Thema Armut jenseits ökonomischer Zuschreibungen bestimmen:
Zum einen führt er aus, dass Armut immer als Folge von „Nicht-Arbeit“ gewertet wird und somit Armenpolitik immer zugleich aus der Sicht des Kapitalismus eine Arbeitsmarktpolitik darstellt. (S. 14) Damit wird das Thema der Beseitigung der Armut auf einen Arbeitsethos fokussiert und aus dieser Perspektive ist nach Ansicht des Autors die Betrachtung von Armut oftmals durch subjektive Ressentiments geprägt. Dieser Blick durchzieht dann auch die wissenschaftliche Forschung, die ähnlich wie in der Öffentlichkeit Definitionen von diskriminierender Zuschreibung wie z.B. ‚sozial schwach‘ etc. benutzt. Stattdessen plädiert der Autor eindeutig für den neutralen Begriff des Prekariates. (S. 21)
In Kapitel 3 geht der Autor von der Beobachtung aus, dass die krisenhaften Entwicklungen von Kapitalismus und Ökonomie keine nennenswerten sozialen Erhebungen hervorbrachten und konstatiert eine in gewisser Weise „geringe Protestbereitschaft“, (26) wobei in Europa in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich reagiert wird. Sehr kritisch bezeichnet der Verfasser in diesem Kontext Hartz IV als „Gehorsams- und Disziplinierungsagentur“. (S. 28) Der Ausbau des Niedriglohnsektors sowie die Zunahme atypischer Beschäftigung wirkt s.E. „demobilisierend auf mögliche Krisenproteste.“ (S. 30)
Eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Forschung über Erwerbslose und deren Proteste folgt in Kapitel 4. Hier diagnostiziert der Autor durch die Bank eine negative Beurteilung der Literatur zum Thema des Erwerbslosenprotestes und nennt als Beleg das von Bourdieu stammende Wort „unmögliche Bewegung“. (S. 33) In der Reihe der Negativbeispiele wird Klaus Dörner angeführt, der die Gruppe in einem Artikel „pauschal diskriminiert“. (S. 34) Auch Claus Offe und Ali Wacker betrachten die „Möglichkeit des Widerstandes gegen Massenerwerbslosigkeit durch […] Erwerbsloseninitiativen“ aus der Sicht des Autors eher pessimistisch. (S. 39) Insgesamt geht es dem Autor in seiner Betrachtung um die historische Rekonstruktion eines Bildes negativer Konfliktbereitschaft. Sie basiert auf der durch Offe in die Diskussion gekommenen Fehlannahme einer fehlenden Konfliktfähigkeit der Gruppe der Erwerbslosen. Offe vertrat nach Rein das Urteil, wonach sich Arbeitslose für eine soziale Bewegung kaum mobilisieren lassen. Schlüssig leitet der Autor diese negative Beurteilung von der kritiklosen Übernahme der Ergebnisse der Marienthaler Studie aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ab, die die Forschung zum Thema Erwerbslosigkeit und politischer Protest geprägt hat. Durch diese negative Beurteilung sind aus Sicht des Autors die Versuche von „Selbstorganisation der Erwerbslosen“ (S. 46) zu wenig betrachtet worden.
Es wird definitiv der Annahme widersprochen, dass es keine selbstständig agierende „Erwerbslosenbewegung“ gegeben habe. Diese weit verbreitete Annahme zu widerlegen, ist das Ziel der innerhalb des Buches nun folgenden sehr detaillierten historischen Analyse, die zu einer geschichtlichen Neubewertung führen soll. (S. 47) Es soll ein Einblick in die „Widerstandsgeschichte von armen Leuten“ (S. 50) gegeben werden und das „Widerstandsrepertoire“ (S. 55) aufgezeigt werden.
Die historische Analyse erfolgt dann in Kapitel 6 mit sehr detailreichen Dokumentenanalysen und Textbelegen, wobei der Verfasser dann strikt genealogisch vorgeht und mit der Zeit der Industrialisierung beginnt. Hier gewährt der Autor durchaus interessante Einblicke bis in fest verwurzelte Sprachsentenzen etwa vom „Lumpenproletariat“ oder des sog. „Agent provocateur“, die er in der Bewegung erwerbsloser Bauarbeiter ansiedelt. (S. 63) Sehr differenziert beschreibt der Verfasser dann die Zeit der Weimarer Republik, in der sich die Erwerbslosen unter dem politischen Dach der sog. Linksparteien von SPD und KPD formierten und mit den sog. Erwerbslosenräten politische Schlagkraft erhielten. Zusammenfassend kommt der Autor zu dem Ergebnis: „Zwischen 1918 und 1923 gerieten Erwerbslose und Obdachlose in Bewegung“. (S. 73) Hier spricht er dezidiert dann von einer „Unorganisiertenbewegung“. (S. 73) Vor allem die KPD war es dann, die die Erwerbslosenarbeit politisch deutlicher in den Mittelpunkt stellte, während letztlich die SPD hier die Chance verpasste. Mit der Gründung der Internationalen Arbeiterhilfe entstand dann eine vereinsartige Strukturierung der Bewegung. Für die Zeit der Weimarer Republik stellt der Verfasser aber zusammenfassend fest: Es fehlt an einer „umfassenden Gesamtdarstellung der Erwerbslosenaktivitäten“. (S. 83)
Durch die Zeit hindurch konstatiert der Verfasser eine Zunahme im Selbstbewusstsein der Betroffenen, wodurch er „autonome Widerstandsformen der Erwerbslosen“ gefördert sieht. (S. 93) Es entstehen spontane Aktionszusammenschlüsse wie etwa die der „Wilden Cliquen“ und der sog. Vagabundismus. Hier finden sich die typischen Merkmale für Protestbewegungen, nämlich Selbstorganisation, kollektives Auftreten und z.B. gemeinsame Kleidung (S. 100) sowie ein starkes Solidaritätsprinzip. Mit dem Nationalsozialismus geriet diese Gruppe ins Visier polizeilicher Maßnahmen. Zusammenfassend stellt der Verfasser fest, dass gerade die wilden Cliquen den „ursprünglich negativ definierten Zustand der Erwerbslosigkeit in eine für sie positive, selbstbewusste Lebensperspektive umwandelten.“ (S. 109) Dabei bildeten sie ein politisches Selbstverständnis des selbstorganisierten Handelns.
Mit der Gründung der Bundesrepublik konstatiert der Autor im historischen Rekurs eher eine gewisse Depolitisierung dieser Gruppe. Unter Bezugnahme auf Studien zur Erwerbslosigkeit Jugendlicher wird erkennbar, dass die Integration Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt trotz Wirtschaftswunder ambivalent bleibt. Als interessantes soziologisches Phänomen wird die sog. Halbstarkenbewegung angeführt, die sich gegen die Zwänge gesellschaftlicher Konformität zur Wehr setzte. (S. 121) Eine besondere Phase in der Entwicklung der sog. Erwerbslosenproteste sieht der Autor dann in den 70er Jahren gekommen, was vor allem an einer konstatierbaren Umwertung des Begriffes der Arbeitslosigkeit und vor allem dem Faktor politischer Lohnforderung erkennbar ist. In dieser Zeit kann nach Hein von einer „‚Bewegung‘ zur Erwerbslosigkeit“ gesprochen werden. (S. 124) Es kommt zu selbstorganisierten Zusammenschlüssen von Erwerbslosen, die von Anfang an politische Ziele vor Augen hatten. Als Bewegung verbanden sie sich deutlich mit der Richtung der Selbsthilfegruppen und formierten sich als unabhängige Erwerbslosengruppen. Leider bleibt die Darstellung des Autors über diese wichtige Phase hinter der Detailliertheit, wie er sie für die Zeit der Weimarer Republik aufzeigt, etwas zurück. Hier würde sich der Lesende noch mehr Detailwissen wünschen, zumal die Zeit der 70er- bis 80er Jahre die Schlüsselphase zur Transformation des Sozialstaates, wie sie dann in den 90er Jahren vorangetrieben wird, darstellt.
Das abschließende Kapitel 7 behandelt die Entwicklung der Erwerbslosenbewegung bis heute. Dabei geht der Verfasser davon aus, dass Erwerbslosigkeit mit den 80er Jahren politisch deutlicher ein Teil arbeitsmarktpolitischer Strategien geworden ist. (S. 133) Vor allem verursacht durch arbeitsmarktpolitische Reformansätze bilden sich als Reaktion sog. „Jobbergruppen“ (S. 136), was aber nicht zu einer Homogenisierung des Wiederstandes führte. Deren Ziel lag in einem „gemeinsamen Handeln von Erwerbslosen“ (S. 137). Zentral wurde die Forderung nach einem ausreichenden Existenzgeld. In der „neu entstandenen Erwerbslosenbewegung“ (S. 137), die auch von Gewerkschaften begleitet wurde, formierte sich ein erkennbares Protestpotenzial, das vor allem auch mit einer Kritik am herrschenden Arbeitsbegriff einher ging. Ziel des Autors ist es, eine Chronologie dieser Bewegung zu zeichnen, die anhand von Arbeitslosenkongressen und Kampagnen mit der Tendenz zur Internationalisierung und einem deutlich erkennbar werdenden Netzwerkcharakter aufgezeigt wird. Ein vorläufiger Endpunkt der Entwicklung bildet die Gründung einer Bundesarbeitsgemeinschaft, die die Initiativen zu einem Netzwerk zusammenfasst. 1990 wurde dann der Arbeitslosenverband Deutschland gegründet. Vor allem seit 1998 werden Aktionstage organisiert, auf denen es nach Auffassung des Verfassers zum ersten Mal gelang, „in nennenswertem Umfang Arbeitslose zu mobilisieren.“ (S. 146) Dennoch läßt sich wohl festhalten, dass die sich verfestigenden Organisationsstrukturen nicht in der Lage waren, „Unmut und individuellen Protest in eine kontinuierliche Bewegung zu transformieren“. (S. 148) Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass gerade aus Kreisen der Erwerbslosengruppen etwa um die Jahrtausendwende die Forderung nach einem egalitären Existenzgeld aufkam, woraus sich dann das „Netzwerk Grundeinkommen“ 2004 formierte. Die Durchsetzung der diversen sozialpolitischen Reformen nach 1998 führte dann zu einer Welle von Demonstrationen und Kundgebungen, die sich vor allem um das Thema von „Hartz IV“ ranken. Der Autor kommt hier zu der nüchternen Einschätzung, den Schwung von Demonstrationen in dauerhaften Druck umzuwandeln. (S. 155)
Letztlich kommt der Autor dann zu der theoretischen Erkenntnis, dass Gesetzgebung und Arbeitsmarktpolitik die „Unterwerfung unter ein Arbeitsmarktregime“ fördern (S. 162). Hier sieht er sogar eine Parallele zwischen der Gruppe der Erwerbslosen und der Geflüchteten. Für viele Menschen bleibt letztlich die „Lebensperspektive (wenn überhaupt) unter prekären Bedingungen.“ (S. 162)
Fazit
Die vorliegende Publikation bietet eine interessante Perspektive auf die soziologisch bislang zu wenig in der Forschung berücksichtigte Gruppe der Erwerbslosen und untermauert die These des Protestpotenzials mit detaillierten historischen Analysen und Quellenmaterial. Am Schluss konstatiert der Verfasser deutlich: „Eine Widerstandsgeschichte von Erwerbslosen oder armen Menschen ist bisher noch nicht umfänglich geschrieben worden.“ (S. 180) Mit der Benennung dieses Forschungs-Desiderates liegt der Autor richtig und die Lektüre des Buches macht an verschiedenen Stellen deutlich, wo es sich lohnt historisch genauer hinzuschauen. Dies betrifft aus meiner Perspektive vor allem die Phasen seit 1974, die durch das Ende der sog. Vollbeschäftigung das Thema Arbeitslosigkeit zum politischen Dauerbrenner gemacht hat. Hier gilt es noch deutlicher die Verwicklungen zwischen Politik und Erwerbslosenprotesten namhaft zu machen. Gleichzeitig ist die Phase des Protestes über die sog. Hartz IV Gesetze noch zu wenig aufgearbeitet. Hier leistet das Buch eine erste Orientierung über die Vielfalt des Protestpotenzials.
Einen wichtigen Beitrag erkenne ich in dem Buch durch den Versuch, das Thema Arbeitslosigkeit/ Erwerbslosigkeit aus dem Negativ-Sumpf zwischen „Arbeitsunlustverdacht oder Faulheitsetikett“ herauszuholen. Gerade der Abschnitt über die Dekonstruktion von Forschungsansätzen zeigt, dass Forschung selbst immer wieder unter Ideologieverdacht steht.
Die Detailperspektive der historischen Analyse macht es dem Lesenden des oft spannenden Buches aber nicht immer leicht, in die Niederungen historischer Zusammenhänge hinabzusteigen. Aber die Mühe des Lesens macht sich dann am Ende doch bezahlt, weil der Lesende viele Einblicke aus der historischen Perspektive gewinnt. Es wird deutlich, dass die Sozialgeschichte in Bezug auf die Protestpotenziale soziologischer Spezialgruppen noch Nachholbedarf hat.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Hochschule Hannover, Lehrgebiet Sozialwirtschaft und Theorie des Sozialstaats
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