Zygmunt Bauman, Peter Haffner: Das Vertraute unvertraut machen
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 25.01.2018

Zygmunt Bauman, Peter Haffner: Das Vertraute unvertraut machen. Ein Gespräch mit Peter Haffner. Hoffmann und Campe (Hamburg) 2017. 186 Seiten. ISBN 978-3-455-00153-2. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Autor
Zygmunt Bauman, geb. 1925 in Posen, gest. 2017, floh 1939 mit seiner Familie in die Sowjetunion und diente von 1944-1953 bei der Roten Armee und wurde später Geheimdienstoffizier im Nachkriegspolen. 1956 promovierte und1960 habilitierte er als Soziologe an der Universität Warschau. Bauman trat 1967 aus Protest aus der kommunistischen Partei aus, verlor wenig später seine Professur und emigrierte nach Israel. 1971 erhielt er den Ruf der Universität Leeds auf einen Lehrstuhl für Soziologie, den er bis 1990 (Emeritierung) innehatte. Zahlreiche Veröffentlichungen über die Postmoderne, die Globalisierung und ihre Verlierer. – Peter Haffner, geb. 1953 in Zürich, Reporter, Essayist und Buchautor, Publikationen über politische, historische und philosophische Themen.
Thema
Interviews mit Bauman kurz vor seinem Tod über Themen wie Leben und Liebe, Schicksal und Geschichte, Soziologie und die Moderne und über sein Bestreben, ein Mensch zu bleiben, der sich selbst in die Augen sehen kann.
Entstehungshintergrund
Mehrtägige intensive Diskussionen über die Themen, das Persönliche und Politische in der Lebenserfahrung des Soziologen Bauman in einem nachdenklichen Rückblick festzuhalten.
Aufbau
Themen sind Liebe und Geschlecht, Erfahrung und Erinnerung, Judentum und Ambivalenz, Intellekt und Engagement, Macht und Identität, Gesellschaft und Verantwortung, Religion und Fundamentalismus, Utopie und Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Glück und Moral.
Inhalt
Vorwort (4 Seiten). Haffner berichtet über seine Begegnungen mit Bauman und dessen „epische Weltsicht“. Die vier Interviews wurden in seinem Haus in Leeds geführt. Haffner versteht die Gespräche als Einladung an die Leserinnen und Leser, sie fortzusetzen „wo und mit wem auch immer“.
Liebe und Leben (10 Seiten). Was hat sich geändert in der Liebe? Haben wir verlernt zu lieben? Ist die Freiheit, auseinander zu gehen, nicht besser als der Zwang, unglücklich zusammenzubleiben? Liebe verlangt das sich selbst Zurückstellen. Bauman selbst hat in den ersten Jahren seine Ehe mit Janina Lewinson als Hausmann gearbeitet; er versorgte auch die Zwillinge, als Janina an Kindbettfieber erkrankt war.
Erfahrung und Erinnerung (22 Seiten). Bauman trat 1946 in die kommunistische Partei Polens ein und 1968 aus. In dem Buch ‚Wir Lebenskünstler‘ erörterte er die Beziehung zwischen Schicksal (über das man keine Kontrolle hat) und realistischen Optionen (Wahlmöglichkeiten). Er schildert den Prozess der Ernüchterung in Bezug auf die Partei nach dem Ungarnaufstand 1956. Mit dem Marxismus habe er sich nicht wegen der Philosophie oder politischen Ökonomie beschäftigt, sondern aufgrund eines Mythos von einer besseren Welt der Gleichheit und Brüderlichkeit. Auch heute noch interessiere ihn am Marxismus die Begründung der Soziologie als Wissenschaft: Menschen machen ihre eigene Geschichte, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgegebenen Umständen. Man müsse von den Ideen zum Körper der Gesellschaft vorstoßen, der Verbindung mit menschlichen Lebensbedingungen. Auch seine früheren militärischen und zivilen Erfahrungen hätten Einfluss auf sein späteres Leben gehabt.
Es folgt ein Exkurs über die universitären Bedingungen im Nachkriegspolen, seine Doktorarbeit über Windelband und Rickert und seine Jugendbücher.
Judentum und Ambivalenz (18 Seiten). Der autodidaktische, sehr belesene Vater starb 1960 im Kibbuz Givat Brener in Israel, die Mutter hatte eine höhere Schulbildung, und die Schwester Teofila war bereits 1938 nach Israel emigriert. Bauman ist in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen. Zu der Schwester in Israel bestand wenig Kontakt. Seine Frau Janina kam als 14j. Mädchen in das Ghetto von Warschau; nach 1945 war Polen ihre Heimat. Im Buch ‚Die Moderne und der Holocaust‘ vertrat Bauman die These, dass die industrielle Vernichtung von Menschen ein Produkt des modernen Perfektionswahns sei und kein Rückfall in eine frühere Barbarei.
Ambivalent war Baumans „Romanze mit dem Polentum“ (Kultur, Sprache, Literatur); dennoch gilt er als polnischer Soziologe, als ‚Jude‘ wurde er erst bezeichnet nach dem Verlassen von Polen.
Es gab eine hohe Präsenz von Juden in der kommunistischen und sozialistischen Bewegung aufgrund der anfänglichen Akzeptanz. Das änderte sich mit einem nationalen Bolschewismus. Bauman hat sich selbst nie als Zionist verstanden. Die Besetzung nach dem Sechstagekrieg habe die Israelis moralisch degradiert und militarisiert. In ‚Moderne und Ambivalenz‘ setzt sich Bauman u.a kritisch mit dem Zionismus auseinander.
Intellekt und Engagement, weshalb die Soziologie Erfahrung und Erlebnis nicht trennen darf (16 Seiten). Intellektuell heißt für Bauman per definitionem universell denken, Werte bewahren, die nicht vom politischen Wandel abhängig sind. Er gibt einen Einblick in seine Gewohnheiten des Lesens und Schreibens, seine Motivation (Sinn für Geschichte und politisches Engagement) und in bewunderte Schriftstelle (George Orwell). „Meine Obsession ist, wie man Worte zu Taten schmieden kann,“ und die Generation zu verstehen, der ich nicht angehöre, die einen Überfluss an Informationen hat und sich deshalb ständig unterinformiert fühlt.
Macht und Identität. Moderne: Vom Zwang, niemand zu sein oder ein anderer zu werden (20 Seiten). Bauman schätzt Kafka und Freud, weil beide „absolut revolutionär“ gewesen seien. „Ideen starten ihr Leben als Häresie, führen es fort bis zur Orthodoxie und enden es als Aberglauben.“ Kafka war revolutionär in der Analyse von Macht und Schuld: Schuldig ist, wer angeklagt wird; es gilt keine Unschuldsvermutung. Im ‚Schloss‘ glaubt K., dass die anderen sich rational verhalten, was nicht zutrifft. Nach Carl Schmitt ist der Souverän eine säkulare Version Gottes (er erklärt und rechtfertigt nichts). Freud ist Allgemeingut geworden. Nach Mead entsteht Identität in der Interaktion. Den Boden für das Zusammenspiel von »Ich«, »Über-Ich« oder »I« und »Me« hat Freud vorbereitet.
Konsum ist ein Merkmal Einzelner, Konsumismus ein Attribut der Gesellschaft. Kommerziell geschaffene Bedürfnisse können zur Sucht werden. Ein zufriedener Kunde ist eine Bedrohung für die Konsumgesellschaft. Sich selbst in eine Ware zu verwandeln, erhöht die Chancen auf Beachtung, Ruhm, Reichtum. Frei sein bedeutet aber, seine eigenen Wünsche und Ziele zu verfolgen. Freud würde heute sagen, dass wir zu viel von unserer (inneren?) Sicherheit aufgegeben haben zugunsten eines ungeschützten Reichs der Freiheit, indem wir z.B. individuelle Lösungen für gesellschaftliche Probleme finden müssen. Diese Freiheit ist mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. „Als ich jung war, war der Albtraum, ein Nonkonformist zu sein. Heute ist der Albtraum, der Grandiosität der Aufgabe nicht gewachsen zu sein,“ – was die Sehnsucht nach einem starken Führer befördere. – Es folgt ein Exkurs über Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Gramsci, Lévy-Strauss, Talcott Parsons, Michael Burawoy, Anthony Giddens. „Wir müssen sämtliche Probleme selber lösen, mit eigenen Ressourcen, mit unserer eigenen Erfindungsgabe, auch wenn wir die Probleme nicht selbst geschaffen haben.“
Gesellschaft und Verantwortung. Solidarität: Weswegen jeder zum Feind des Anderen wird (25 Seiten). Klassen seien heute eher ein Problem der Statistik als des Lebens; frühere soziale Funktionen seien individuelle geworden. Man werde heute nicht mehr als ‚Klasse‘ politisch aktiv (Machtverlust der Gewerkschaften). Der Einzelne müsse eine Lösung seiner Probleme suchen. Die Arbeitsverhältnisse seien nicht mehr auf Dauer angelegt, jeder Mitarbeiter werde zum Konkurrenten, die Ungleichheit wachse. Konflikte ließen sich nicht mehr in Klassenbegriffen fassen.
Heute sei der Nationalstaat nicht mehr die oberste Institution, sondern transnationale Unternehmen und Konsummärkte. Die Politik sei machtlos, auf globaler Ebene zu entscheiden. Der Vertrag zwischen Arbeit und Kapital sei gekündigt. Am Ende der Nachkriegsepisode sei die Arbeitslosigkeit gestiegen und die Ungleichheit habe zugenommen. Der Kollaps des Kreditsystems 2007/8 habe zur Folge, dass wir weder dem Staat noch dem Markt vertrauen. Der unkontrollierte Markt sei gefährlich.
Bauman schlägt ein Weltparlament der Bürgermeister der großen Städte vor, um die Probleme empirisch konkret anzugehen. Die moralische Reife habe mit der technischen Entwicklung nicht Schritt gehalten: Wir haben noch kein kosmopolitisches Bewusstsein entwickelt. Bislang schuf jede Passage eine neue Gemeinschaft und Zugehörigkeit, aber ‚die Menschheit‘ hat keine Grenzen. Zwar verstehen wir allmählich, dass wir in einem Boot sitzen, verhalten uns aber nicht entsprechend. Wie schafft man eine neue, andere Welt? Eine neue Generation von Soziologen werde gebraucht. Die Idee der Gemeinschaft sei ersetzt worden durch die Idee des Netzwerkes: Jeder könne beliebig ein- und aussteigen; das Netzwerk schaffe keine integrative Gemeinschaft.
Religion und Fundamentalismus. Weltuntergang: Wieso es wichtig ist, an Gott zu glauben, den es nicht gibt (16 Seiten). Die Ängste sind heute nicht grösser als früher, aber sie sind willkürlicher, diffuser, nebulöser; man kann sich deshalb nicht schützen. Die Risiken sind grösser geworden. Die panische Angst vor Versagen löst Depressionen aus. Glaube und Transzendenz sind wichtig; die Menschen verlassen vielleicht die religiösen Institutionen, aber nicht die Ideen. Eine Menschheit ohne die Idee Gottes ist unvorstellbar, da sie in Selbstvergötterung endet. Es finde ein Revival nicht institutionalisierter Religionen statt, aber auch ein Revival des Sektierertums, um das eigene Ungenügen zu überwinden. An Gott glauben heißt, sich das eigene Ungenügen einzugestehen.
Utopie und Geschichte. Zeitreise: Wo das Jenseits heute ist (10 Seiten). Sozialismus und Demokratie sind Utopien, Ideale, die nirgendwo erreicht wurden. Wir leben in einer Welt der Ungewissheit, die langfristige Planungen sinnlos macht. Aktuelle anarchische Utopien sind die phantastische Heilungsfähigkeit des freien Marktes, die unendliche technische Reparierfähigkeit und der Glaube an eine Welt mit Rechten und ohne Pflichten. Der Traum von einer perfekten Gesellschaft sei ausgeträumt. Früher wurden Utopien in der Zukunft angesiedelt, die ist heute unkontrollierbar und voller Risiken, Gefahren und Herausforderungen; stattdessen werden jetzt Utopien der Vergangenheit geschrieben. Das historische Gedächtnis wird selektiv für partikulare Interessen genutzt. „Am meisten beschäftigt mich, wie Worte zu Taten werden,“ und wie man der wachsenden Ungleichheit begegnen könnte.
Gegenwart und Zukunft. Menschenmüll: Wer die Hexen der modernen Gesellschaft sind (20 Seiten). Die Konsumentengesellschaft ist spezialisiert auf die Produktion von Abfall. Auch Arbeitslose sind Abfall; man hat für sie keine Verwendung mehr. Es gibt immer mehr Flüchtlinge, Migranten, Ausgegrenzte, sie sind das Produkt der neuen Machtelite wie Finanzwirtschaft und Großunternehmen. Dem Sozialstaat gehe es um Einschließung, dem Sicherheitsstaat um Ausschließung: Der Immigrant sei Blitzableiter für Ängste und Wut. Empörte Menschen seien eine gute Abrisstruppe, aber nicht fähig, was Neues aufzubauen. Das Internet helfe bei der Suche nach Gleichgesinnten, aber es spalte auch. Wir seien inzwischen Sklaven der totalitären Veränderung durch die Technik.
Obgleich keiner den Zusammenbruch des Kommunismus vorausgesagt habe, lebten wir zukunftsorientiert; als Anstrengung sei das auch wichtig ist (‚selbsterfüllende Prophezeiung‘ nach Robert Merton). Als Marxist beurteile er eine Gesellschaft immer noch danach, ob sie ihren schwächsten Mitgliedern ermögliche, ein anständiges Leben zu führen. Er sei weder Pessimist noch Optimist, aber Hoffnung zähle für ihn; Pessimismus sei Passivität und Nichtstun. Wir lebten nicht in der besten aller Welten.
Glück und Moral. Ein gutes Leben: Was heißt, enge Schuhe anzuziehen (13 Seiten). Alles, was wir tun, wirkt sich auf das Leben anderer Menschen aus. Deshalb sind wir existentiell moralische Wesen. Traditionell genügte es, den Gesetzen zu gehorchen, modern ist, die Verantwortung für sein Handeln selbst zu übernehmen. In moralischen Dingen gibt es kein »Muss«, sondern nur eine freie Entscheidung des Einzelnen, für den anderen da zu sein in einer Situation immerwährender Unsicherheit. Schränken wir durch unser Verhalten die Freiheit der kommenden Generationen ein?
Glück ist nicht die Alternative zu den Schwierigkeiten des Lebens, die Alternative ist Langeweile (keine Probleme und keine Herausforderungen). Glück ist ein Moment des Augenblicks, der Stolz auf eine gut gemachte Arbeit, die Bewältigung einer Aufgabe, das Dasein für andere. Inzwischen haben bewährte Lebensweisheiten ihre Gültigkeit verloren. Wir sind jetzt in einer sich ständig verändernden Welt. Eine gute Gesellschaft sei eine, die sich sagt: Wir sind nicht gut genug.
Editorische Notiz (1 Seite). Die Gespräche fanden am 10.02.2014 und am 21., 22., 23. April 2016 im Haus von Bauman in Leeds/GB statt. Bauman übergab Haffner zusätzlich einige Notizen, mit der Bitte, entsprechende Passagen bei den Antworten einzufügen. Das gleiche gilt für zwei Fragen, die ihm Efrain Kristal und Arne De Boever 2014 gestellt hatten. Die auf schriftlichem Material beruhenden Abschnitte machen ca. ein Dutzend Seiten dieses Bandes aus.
Es folgt eine Bibliographie ausgewählter Werke von Zygmunt Bauman (2 Seiten) und Janina Bauman (1 Seite).
Diskussion und Fazit
Der reiche Inhalt an reflektierter Lebensweisheit kann in dieser Zusammenfassung nur ansatzweise wiedergegeben werden, aber doch anregen, sich mit den Interviews ausführlicher zu befassen. Das Buch ist trotz aller auch schonungslosen kritischen Betrachtung der Postmoderne ein Buch der Hoffnung und Lebenszugewandtheit, die sich Bauman, auch wenn er immer wieder unter Verhältnissen zu leiden hatte, die er nicht geschaffen hat und nur bedingt beeinflussen konnte, bewahrt hat. Ein Buch, das das Kunstwerk beschreibt, im rechten Moment trotz aller Ungewissheit, die richtigen Entscheidungen (Heirat mit Janina, Eintritt und Austritt aus der kommunistischen Partei z.B.) getroffen zu haben und falsche Entscheidungen auch ohne allzu großes Bedauern revidiert zu haben (Aufenthalt in Israel). Ich denke, das Buch ist nicht nur für ältere Leute geeignet, über die Welt von gestern und heute nachzudenken, sondern auch für jüngere, denen keine Heilsversprechungen (?) mehr gemacht werden, aber andererseits auch klare Wegweiser fehlen, die Hoffnung und den Einsatz auf ein gelingendes Leben – mit allen Risiken – nicht aufzugeben.
Fazit: Ein reiches, anregendes, persönlich und zeitgeschichtlich sehr lesenswertes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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