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Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani et al. (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung

Rezensiert von Dr. Tino Plümecke, 11.06.2018

Cover Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani et al. (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung ISBN 978-3-658-10975-2

Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Gökçen Yüksel (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 833 Seiten. ISBN 978-3-658-10975-2. D: 89,99 EUR, A: 92,51 EUR, CH: 92,50 sFr.

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Thema

Das von Prof. Dr. Albert Scherr, Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani und Dr. Gökçen Yüksel herausgegebene Handbuch versammelt zentrale theoretische, empirische und handlungsorientierte Beiträge der Diskriminierungsforschung. Der umfangreiche Band hat das Ziel, den aktuellen Stand des Konzepts „Diskriminierung“ in unterschiedlichen Wissens-, Politik- und Handlungsfeldern abzubilden und damit zur Weiterentwicklung der interdisziplinären Diskriminierungsforschung und -theorie beizutragen.

Aufbau

Der 833 Seiten starke Band versammelt 44 Texte von 54 Autor*innen aus verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Praxis Sozialer Arbeit, des Bildungsbereichs und der Antidiskriminierungsarbeit. Die Beiträge sind fünf Bereichen zugeordnet.

  • Teil I enthält grundlegende Texte zu den Ursachen, Formen und Folgen von Diskriminierung sowie den disziplinär z.T. sehr unterschiedlichen Ansätzen der Diskriminierungsforschung.
  • Teil II und III behandeln die gesetzlichen Bestimmungen des Anti-Diskriminierungsrechts und Diskriminierungsfelder in verschiedenen gesellschaftlichen Felder, wie dem Recht, der Bildung oder den Medien.
  • Die Beiträge in Teil IV widmen sich spezifischen Diskriminierungsformen, die (zugeschriebene) Angehörige bestimmter Gruppen erfahren.
  • Im Teil V stehen Konzepte und Institutionen der Anti-Diskriminierungsarbeit im Fokus.

Der einleitende Text der Herausgeber*innen erläutert die Systematik, begründet die Notwendigkeit poly- und interdisziplinärer Zugänge und bestimmt Diskriminierung als „Verschränkung sozial folgenreicher Unterscheidungen mit benachteiligenden Strukturen und Praktiken“ (S. IX), die sich in jeweils charakteristischen Formen (wie Rassismus, Sexismus etc.) ausdrückt.

Inhalt

Das Handbuch als Sammlung „zentraler theoretischer und empirischer Wissensbestände der Diskriminierungsforschung“ (S. V) will erstens einen Überblick über die jeweiligen Fachdebatten geben und zweitens die diversen spezifischen Felder für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verknüpfen. Inhalt und Bedeutung des Bandes werden im Folgenden anhand einiger Schlaglichter vorgestellt.

Einen programmatischen Aufschlag für eine „soziologische Diskriminierungsforschung“ leistet der Beitrag des Mitherausgebers Albert Scherr, der Diskriminierung als „genuin soziales Phänomen“ (S. 40) fasst. Individuelle Einstellungen und Handlungen seien – anders als in der Vorurteils- und Einstellungsforschung – nicht als Ausgangspunkt und Ursache, sondern als „Bestandteil und ein Ergebnis sozialer Strukturen und Prozesse“ (S. 40) zu fassen. Aufgabe der soziologischen Diskriminierungsforschung sei es deshalb, sowohl die „Verfestigung und Reproduktion diskriminierender Strukturen und Praktiken in den Blick zu nehmen“, als auch „zu einer Infragestellung und Transformation von Formen der Diskriminierung“ beizutragen (S. 42). Einen weiteren programmatischen Rahmen setzt der Beitrag von Linda Supik über „Statistik und Diskriminierung“, der Potenziale, aber auch Dilemmata, Risiken und Grenzen der Erfassung von Diskriminierung erörtert und für eine problemsensible Erfassung von Diversität und Ungleichheit votiert. Argumentiert wird, dass weder die bisher übliche Nichterfassung von ethnizitätsbezogener Daten noch das relativ etablierte Konzept des „Migrationshintergrunds“ adäquate Mittel zur umfassenden Bekämpfung von Diskriminierung seien. Außerdem enthält dieser Teil des Bandes Beiträge zu „Begründungen des Diskriminierungsverbots“, die historisch in der europäischen Aufklärung, den Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert und der Proklamierung von Menschenrechten verortet werden. Weitere Ausführungen behandeln die Diskrepanzen zwischen „tatsächlichen, messbaren und subjektiv wahrgenommenen Diskriminierungen“, die Konzepte „direkter, indirekter, institutioneller und struktureller“ sowie „intersektionaler“ Diskriminierung. Darüber hinaus behandeln einzelne Beiträge jeweils die „historische“, „sozialpsychologische“, „sprachwissenschaftliche“, „rechtswissenschaftliche“ und „erziehungswissenschaftliche“ Diskriminierungsforschung.

Drei Beiträge behandeln die rechtlichen Rahmenbedingen, einer führt die „EU-rechtlichen Bestimmungen zum Diskriminierungsverbot“ und ein weiterer die Regelungen zum „Diskriminierungsverbot im deutschen Recht“ aus, und ein Text von Kurt Pärli gibt aus einer rechtsdogmatische und rechtsmethodische Perspektive einen Überblick sowohl über die für Deutschland geltenden völkerrechtlichen, unionsrechtlichen, verfassungsrechtlichen und bundesgesetzlichen Diskriminierungsverbote als auch über die Reichweite der Antidiskriminierungsregelungen und die von ihnen erfassten Diskriminierungsformen.

Insgesamt neun Einzelstudien untersuchen Formen der Diskriminierung in unterschiedlichen „gesellschaftlichen Teilsystemen“. Dazu zählen „legale Diskriminierungen“, Diskriminierungen im „Strafrecht“, durch „Polizeibehörden“, im „Zuwanderungs- und Flüchtlingsrecht“, im „Erziehungssystem“, in der „beruflichen Bildung“, in den „Medien“, auf dem „Wohnungsmarkt“ und in Hinblick auf das „Images von Wohngebieten“. Kennzeichnend ist dabei, dass mehrere der erörterten Bereiche von einer starken Ambivalenz geprägt sind, durch die sie – wie etwa im Bildungssystem, dem Recht oder den Medien – einerseits Wirkungsort von Diskriminierungshandlungen sind, andererseits in ihnen auch Kämpfe um inklusiver Teilhabe und Teilnahme stattfinden bzw. dort Antidiskriminierungsmaßnahmen umgesetzt werden.

Spezifische Diskriminierungserfahrungen von Gruppen und Personen sind im Teil IV versammelt. Neben einem eher entwurfsartigen Text zum mit Bezugnahmen auf das Konzept „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ behandeln weitere Beiträge Diskriminierungen von „Flüchtlingen und Geduldeten“, von „Menschen mit Migrationshintergrund“, von „Armen und sozial Ausgegrenzten“, aufgrund des „Geschlechts und der sexuellen Orientierung“, von „Roma und Sinti“, von „seelisch Beeinträchtigten“, von „körperlich und geistig Beeinträchtigten“, sowie „Antiislamische Diskriminierung“ und „Antisemitische Diskriminierung“. Hervorzuheben sind hier vor allem Aladin El-Mafaalanis Überblickstext zur Brauchbarkeit und Begrenztheit des Begriffs „Migrationshintergrund“, ein grundlegender historisierender und theoretisierender Text von Wolfgang Benz zu „Islamfeindschaft“ und „Islamophobie“ sowie der Beitrag von Barbara Schäuble, der „antijüdische Diskriminierungen“ erörtert und analysiert, weshalb in der Antisemitismusforschung bis heute die Beschäftigung mit „Feindschaft, Hass und Weltanschauung […] der Diskrimininatoren“ dominiert, anstelle einer Untersuchung der Benachteiligung von Jüd*innen (S. 548).

Schließlich stellt der Band eine Reihe von mehrheitlich anwendungsnahen Konzepten und Institutionen der Anti-Diskriminierung vor. Dies umfasst die Themen „Zivilgesellschaft“, „Interkulturalität in Kommunen“, „Diversity Management“, „Inklusion“, „Affirmative Action“, „Beratungsarbeit gegen Diskriminierung“, „Antidiskriminierungs-Pädagogik“, „Sprache und politische Correctness“ und „Sexualpädagogik“. Einzelne Beiträge behandeln die Arbeit der „Antidiskriminierungsstelle des Bundes“ sowie des „Deutschen Instituts für Menschenrechte“.

Diskussion

Die Diskriminierungsforschung und -theorie hat im deutschsprachigen Raum einen vergleichsweise schweren Stand. Zwar hat sich seit Inkrafttreten der Rassismusstrafnorm in der Schweiz 1995 bzw. des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in Deutschland 2006 die Debatte intensiviert und ausdifferenziert, doch gemessen an der immensen Bedeutung von Diskriminierung als einem wesentlichen Problem moderner Gesellschaften findet das Themenfeld bisher viel zu wenig Beachtung. Kennzeichnend dafür ist beispielsweise die völlig unzureichende Institutionalisierung der Diskriminierungsforschung in Deutschland: Keine Professur, keine Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie oder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft führt Diskriminierung in ihrem Namen, kein Sonderforschungsbereich, kein Graduiertenkolleg – diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Umso wichtiger ist daher die Sammlung zentraler Konzepte und Ansätze im vorliegenden Handbuch. Mit dieser werden vorwiegend fachintern geführte Debatten (z.B. im Recht, in der Sozialen Arbeit oder im Bildungsbereich) für eine breitere Rezeption geöffnet und Synergien zwischen den jeweiligen Diskursen möglich.

Der umfassende Anspruch des Handbuchs, den Stand der Theorieentwicklung sowie die Ergebnisse und verbleibenden Desiderate der empirischen Forschung darzustellen, Diskriminierung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und in Bezug auf unterschiedliche Personenkategorien zu beschreiben und Praktiken zur Überwindung von Diskriminierung zu erörtern, ist weitgehend eingelöst worden. Dabei bleiben Leerstellen selbstverständlich nicht aus, es wäre jedoch unangebracht, diese einem so ambitionierten Projekt übermäßig anzulasten. Als Rezensent hatte ich dennoch Erwartungen, die nicht alle erfüllt wurden. So nimmt leider keiner der Beiträge eine dezidiert historische Perspektive auf die Entstehung und Entwicklung des Konzepts Diskriminierung im Kontext der Bürgerrechtsbewegungen ein. Auch Problematisierungen des Diskriminierungskonzepts fehlen in dem Band. Zu klären wäre beispielsweise, wie „Diskriminierung“ mittlerweile zu einem buzzword avancierte, mit dem Effekt, dass damit alles Mögliche (immer weniger spezifisch) bezeichnet wird, sowie warum mit Antidiskriminierungsmaßnahmen zwar eine weitgehende Gleichstellung von Frauen und Männern, die Legalisierung homosexueller Lebenspartnerschaften oder eine Erweiterung der Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen erreicht werden konnten, während jedoch im gleichen Zeitraum die Differenzen zwischen Einkommensgruppen und soziale Schließungsprozesse auf vielen Ebenen zunehmen. Notwendig wäre hier zum einen eine stärkere gesellschaftstheoretische Einbettung der Diskriminierungsforschung und zum anderen eine umfassendere Klärung der normativen Grundlagen von Antidiskriminierungspolitiken, die über den Menschenrechtsdiskurs und ein enges Verständnis von Gleichheit als Chancengleichheit hinausreichen.

Gerade im Abschnitt zu Ansätzen der Antidiskriminierungsarbeit wäre zudem ein stärkeres redaktionelles Vorgehen der Herausgeber*innen hilfreich gewesen. So gehen etwa die Ausführungen zu „Antidiskriminierung als zivilgesellschaftliches Projekt“ nicht ausreichend darauf ein, dass gerade auch durch zivilgesellschaftliche Akteure soziale Ausschlüsse erzeugt werden, etwa indem diese eher Mitglieder aus dem bürgerlichen Spektrum aufnehmen. Zu diskutieren wäre diesbezüglich auch, ob nicht Pegida, die AfD und andere rechte Gruppierungen zumindest in Teilen als Ausdruck zivilgesellschaftlicher Betätigung verstanden werden müssen. Auch der Artikel zum „Diversity Management“ spart überraschenderweise fast vollständig die zahlreichen Kritiken an dem Konzept aus. Schade ist es auch, dass keine Beiträge von politischen Akteur*innen und Aktivist*innen, wie etwa der Initiative Schwarzer Deutscher, der Krüppelbewegung (die allerdings dem Diskriminierungsbegriff lange Zeit skeptisch bis ablehnend gegenüberstand), dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma oder der Geflüchtetenbewegung enthalten sind.

Fazit

In der Summe vereint der Band vielfältige und in mehrerlei Hinsicht wichtige Beiträge aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Konzept „Diskriminierung“. Das Handbuch bietet damit einen sehr guten Überblick über eine Bandbreite an produktiven Analysen mithilfe des Konzept „Diskriminierung“ und zeigt zugleich Bereiche der noch zu leistenden Weiterentwicklung der interdisziplinären Diskriminierungsforschung auf.

Rezension von
Dr. Tino Plümecke
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Zitiervorschlag
Tino Plümecke. Rezension vom 11.06.2018 zu: Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Gökçen Yüksel (Hrsg.): Handbuch Diskriminierung. Springer VS (Wiesbaden) 2017. ISBN 978-3-658-10975-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23554.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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