Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Ludger Tebartz van Elst: Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 30.11.2017

Cover Ludger Tebartz van Elst: Vom Anfang und Ende der Schizophrenie ISBN 978-3-17-031258-6

Ludger Tebartz van Elst: Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2017. 254 Seiten. ISBN 978-3-17-031258-6. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema und Zielgruppe

Ludger Tebartz van Elst möchte mit diesem Buch sowohl Patienten und ihre Angehörigen als auch Ärzte, Wissenschaftler, Therapeuten und die interessierte Laienöffentlichkeit ansprechen. Dies stellt bei der Thematik der aktuellen Entwicklungen zum Schizophrenie Konzept allerdings einen ziemlichen Spagat dar. Der Autor hinterfragt kritisch, ob das Konzept einer einheitlichen Störung Schizophrenie noch zeitgemäß ist, und stellt überzeugend dar, dass sich dahinter ganz unterschiedliche Erkrankungen verbergen können.

Autor

Ludger Tebartz van Elst ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg.

Aufbau

Das Buch beginnt mit Geleitworten von Professor Dr. Heinz Haefner und Professor Dr. Stephan Heckers. Nach Glossar, Vorwort und Einleitung folgen fünf Kapitel, die sich mit

  • Symptomen und Verläufen
  • der Geschichte des Schizophrenie Konzepts
  • den Fragen: Was ist normal?
  • Was ist eine Krankheit? und
  • Was ist eine psychische Störung?

beschäftigen. Drei dieser Kapitel wurden in weiten Teilen aus einem anderen 2016 erschienenen Buch des Autors übernommen.

Im siebten Kapitel: „Die Ursachen der schizophrenieformen Syndrome“ vertieft der Autor medizinische Details. Weite Teile dieses Kapitels wurden allerdings auch in überarbeiteter Form von einem früheren Buch des Autors (Epilepsie und Psyche) übernommen.

Das achte Kapitel vertieft dann weiter neuere neuropsychiatrische Entwicklungen, sodass in Kapitel 9 „Vom Ende der Schizophrenie“ dann überzeugend dargelegt wird, dass das derzeitige Schizophrenie Konzept die Forschung behindert. In diesem Kapitel wird auch detailliert der diagnostische Prozess am Universitätsklinikum Freiburg dargestellt.

Abschließend setzt sich Ludger Tebartz van Elst mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen seinen Sichtweisen und antipsychiatrischen AutorInnen auseinander.

Inhalt

Der Autor kritisiert die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme und legt überzeugend dar, dass die Begriffe Schizophrenie oder Depression in Wirklichkeit 20 oder 30 unterschiedliche Ätiologien (Erstursachen) und Pathogenesen umfassen. Die in den großen Klassifikationssystemen ICD und DSM definierten psychischen Störungen seien weitgehend deskriptiv unter Aufgabe des kausalen Denkens, sodass daraus unscharfe Störungskategorien resultierten, die die Forschung behindern. Ludger Tebartz van Elst setzt sich mit unterschiedlichen Normalitätskonzepten auseinander:

  • Normalität als statistische Größe,
  • als technische Größe (Funktionsstörung),
  • als soziale Größe (definiert vor dem Hintergrund kultureller Traditionen und gegenwärtiger Interessen von Mehrheiten, Machthabern oder Meinungsführern) und
  • Normalität in multikategorialer Hinsicht, welche immer nur in Bezug auf bedeutsame Rahmenbedingungen wie z.B. das Geschlecht definiert werden kann.

Aus diesen Normalitätsüberlegungen heraus reflektiert er kurz den Störungsbegriff und Gesundheits- und Krankheitskonzepte; hierbei fordert er, dass bei einer Krankheit spezifische Ursachen benannt werden können, welche das klinische Syndrom und meist auch den Verlauf und die Prognose der Erkrankung erklären. Vor diesem Hintergrund können psychiatrische Störungsbilder wie Schizophrenie, Depression, Autismus oder ADHS jedoch nicht als Krankheit bezeichnet werden. Die großen internationalen Klassifikationssysteme würden jedoch zunehmend von eher klinikfernen, politisch orientierten Personen formuliert, die in Form von Kompromissen konfliktrelevante Themen ausklammern und sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen.

In den medizinisch vertiefenden Kapiteln 7 bis 9 geht der Autor zunächst auf das neuroanatomische Konzept der frontobasalen Schleifensysteme ein, um dann die dopaminerge und die glutamaterge Hypothese der Schizophrenie zu vertiefen. Bei der Genetik schizophrenieformer Syndrome betont der Autor dass in den allermeisten Fällen wahrscheinlich über 100 Gene eine jeweils kleine, aber erkennbar relevante Rolle spielen. Es gibt jedoch einige (seltene) Syndrome, bei der die schizophrenen Symptome Teilaspekt und Ausdruck einer anderweitigen genetischen Krankheit sind, z.B.:

  • Morbus Niemann-Pick Typ C – eine autosomal rezessiv vererbte Fettstoffwechselerkrankung
  • spät manifestierende Varianten einer Homocysteinämie
  • akut intermittierende Porphyrie – eine dominant vererbte Stoffwechselstörung des roten Blutfarbstoffes
  • Morbus Wilson – mit krankhaften Kupferablagerungen im Körper und
  • 22q11Syndrom, auch velokardiofaziales Syndrom oder Shprintzen-Syndrom genannt: Hier liegt eine gar nicht so seltene (1: 2000-4000 Geburten) Veränderung am Chromosom 22 vor, die in 25 % der Fälle mit Symptomen einhergeht, die in der Regel mit einer Schizophrenie verwechselt werden.

Neben seltenen genetischen Krankheiten können schizophrene Störungen auch Ausdruck eines ungewöhnlichen epileptischen Störungsbildes sein, welches dann mit antiepileptischen Medikamenten therapierbar ist. Weiterhin können entzündliche Prozesse im Gehirn die Ursache eines schizophrenen Syndroms sein: Hier kommen unterschiedliche Formen der Enzephalitis (Gehirnentzündung) in Frage: besonders ausführlich wird die Hashimoto Enzephalopathie erörtert. Diese Entzündungsform ist mit Schilddrüsenantikörpern assoziiert und kann im Einzelfall gut mit Corticoiden behandelt werden.

Die vielen, einzeln zwar seltenen Störungsbilder, die oft mit einer Schizophrenie verwechselt werden, führen in Freiburg zu einer sehr differenzierten Diagnostik, die im neunten Kapitel des Buches nachvollziehbar dargestellt wird.

Der Autor betont zudem, dass psychotische Symptome wie das Halluzinieren von Stimmen oder auch Wahnvorstellungen bei ca. 6-7 % der Bevölkerung wenigstens einmal im Leben auftreten, während die Häufigkeit der Schizophrenie – im Sinne der gültigen Definitionen – mit ca. 0,7 % deutlich darunter liegt. Psychotische Symptome können also auch bei psychobiologisch als gesund einzustufenden Menschen auftreten.

Diskussion

Der Spagat zwischen einem allgemein verständlichen Buch für Betroffene und Angehörige und einem medizinischen Fachbuch scheint in der vorliegenden Form nicht ganz gelungen, zumal einzelne Kapitel weitgehend aus anderen Büchern des Autors übernommen wurden. Zugleich sind die medizinischen Details und die kritische Reflexion gängiger Klassifikationssysteme für Ärzte und Psychiater eine große Bereicherung. Ich würde mir wünschen, dass die dargestellten Inhalte eine große Verbreitung finden würden. Möglicherweise könnte man noch, insbesondere im Zusammenhang mit der Thematisierung von ADHS, die Auswirkungen fetaler Alkohol Spektrum Störungen genauer beleuchten.

Das Buch enthält, wie viele Publikationen heutzutage, eine Reihe von Tippfehlern, z.B. S. 81, S. 117, S. 154, S. 182, S. 188, S. 198, S. 215, S. 231 und S. 232, die bei einer 2. Auflage korrigiert werden könnten. Meiner Meinung nach wäre es schön, wenn man die Inhalte bei einer Neuauflage auf zwei Bücher aufteilen würde: ein weniger stark in medizinische Details gehendes, allgemein verständliches Buch und ein medizinisches Fachbuch. So könnten auch noch einige Redundanzen beseitigt werden.

Fazit

Es handelt sich um ein außerordentlich interessantes, aktuelles Fachbuch zu schizophreniformen Syndromen mit kritischen Reflexionen der gängigen Klassifikationssysteme und detaillierten neuropsychiatrischen Erkenntnissen, das in dem Fazit gipfelt, dass perspektivisch das kausale Denken im neurobiologischen wie psychodynamischen Sinne in der Psychiatrie wieder zurückerobert werden muss. Ich würde mir wünschen, dass diese Erkenntnisse von möglichst vielen Psychiatern wahrgenommen würden. Zugleich erhebt das Buch den Anspruch, auch für medizinische Laien verständlich zu sein. Dies trifft weitgehend auf die ersten sechs Kapitel zu.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
Website
Mailformular

Es gibt 145 Rezensionen von Annemarie Jost.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 30.11.2017 zu: Ludger Tebartz van Elst: Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2017. ISBN 978-3-17-031258-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23558.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht