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Martin Dannecker: Faszinosum Sexualität

Rezensiert von Dr.phil. Dr.jur. Rüdiger Lautmann, 01.06.2018

Cover Martin Dannecker: Faszinosum Sexualität ISBN 978-3-8379-2740-5

Martin Dannecker: Faszinosum Sexualität. Theoretische, empirische und sexualpolitische Beiträge. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2017. 200 Seiten. ISBN 978-3-8379-2740-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Autor

Martin Dannecker ist Sexualwissenschaftler und war professorales Mitglied der (früheren) Abteilung für Sexualforschung am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Gegenwärtig amtiert er als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Er versteht sich als Vertreter der von Volkmar Sigusch begründeten Kritischen Sexualwissenschaft, die sich der ‚Frankfurter Schule‘ der Sozialwissenschaften zurechnet.

Thema

Das Buch gibt einen Einblick in die wissenschaftliche Arbeit Danneckers seit dem Jahre 2003. Es enthält in chronologischer Reihung 15 Aufsätze, von denen elf in den letzten Jahren an teilweise entlegenen Stellen publiziert worden sind. Immerhin gut ein Viertel des Buchumfangs war bislang unveröffentlicht. Das Themenspektrum ist weit gespannt, zentriert um solche Aspekte des Sexuellen, die gegenwärtig als Problem gehandelt werden, wie beispielsweise: Genderspezifik, Fetischisierung, Geschlechtsidentität, Sexualisierung, Cybersex.

Aufbau, Inhalt und Diskussion

Das Grundsätzliche wird gleich einleitend vorgetragen. Sexualität oder „die Beziehung, die wir zu ihr einnehmen, verändert sich in geradezu bestürzender Regelma?ßigkeit“ (9). Unterschieden wird zwischen dem ‚Primärprozess‘ und dem Deutungsüberbau. Fest ist am sexuellen Begehren, dass nach einem äußeren Objekt verlangt wird; variabel und wandelbar ist das, was jeweils als sexuell empfunden wird.

Sexuelles Erleben wird in dieser Sicht vor allem durch die es grundierenden und begleitenden Interpretationen bestimmt. Daher müssen die üblichen Verhaltensmessungen (welche Praktiken mit welcher Frequenz) als behavioristische Reduktionen gelten, die das eigentlich Ursächliche verfehlen. Dieser Theorieansatz entspricht durchaus dem der interpretativen Soziologie, welche die gesellschaftlichen Bedeutungszuweisungen in den Mittelpunkt des Verstehens rückt. Vertreter der Psychoanalyse und der klassischen Kritischen Theorie müssten hier ihre Grundannahmen vermissen; Dannecker bleibt der Soziologe, als der er in den 1970ern angetreten ist.

Werden die Diskurse und subjektiven Überzeugungen als alleiniger Faktor etabliert und die Körperereignisse als bloß abhängige Variable geführt, dann verschiebt sich andererseits die Analyse auf das rein mentale Geschehen. Die sozialen Regeln und persönlichen Selbstverständnisse machen die Sexualität aus – und wiederum wird diese halbiert. Das Dilemma droht auch deswegen, weil die intimen Begegnungen dem Beobachtungszugriff meist entzogen bleiben, von einer Laborforschung à la Masters und Johnson abgesehen. Wir haben meist nur die Daten aus Interviewerhebungen, wo die vorformulierten Fragen und durch Verlegenheit verzerrten Antworten nur ein ungenaues Bild der tatsächlichen Abläufe ergeben.

Der Bedeutungskomplex ‚Sexualität‘ ist bei Dannecker sehr umfassend gedacht. Die Emotion ‚Liebe‘ besitzt hier keinen großen Einfluss, und ‚Erotik‘ kommt als eigenständige Dimension nicht vor. Nacktheit in der Werbung wird dann mit „pornografischem soft-core“ gleichgesetzt (22), „durch den Gebrauch von Kosmetika und den Besuch von Fitnessstudios“ haben wir es mit der „Herstellung eines sexuellen Körpers“ zu tun (23). Andere Konzepte wie Attraktivität und eben Erotik würden hier eine weniger aufregende Sicht gestatten.

Dannecker besteht zu Recht auf einer engen Verkoppelung der Dimensionen Geschlecht und Begehren, womit er einer starken Strömung queerer Diskurse widerspricht, die behauptet, heutzutage konzentrierten sich die Menschen nicht mehr so sehr auf die Geschlechtszugehörigkeit ihres Triebobjekts (27-30). Vielmehr komme es, entgegen Gunter Schmidt, nicht so sehr auf das Merkmal des Genitalbesitzes, also die Anatomie an, sondern auf den sich in vielen Zeichen verkörpernden Geschlechtscharakter (31f).

Die Travestie schwuler Männer, sei es der sich in Frauenkleidern hüllende Knabe, sei es die Performance einer Drag-Queen, verdanke sich dem Wunsch, über das Verstecken des Penis einen Zugang zum Vater zu finden (36). Hier wie an manch anderer Stelle lugt freudianisches Denken hervor, das wie immer eine beeindruckende Erzählung, aber keine zwingende Plausibilität enthält.

Über Freuds Urtext von 1905, der das Denken über das Sexuelle revolutioniert hat, handeln denn auch weitere Passagen des Buchs (40-50, 51–70, 122-124). Für Dannecker „ist die Psychoanalyse eine Erfahrungswissenschaft“ (39), dieweil sie mit den Erfahrungen von Patienten und Therapeuten arbeitet. Als Drittes möchte er noch „den Einfluss der persönlichen sexuellen Erfahrung“ hinzunehmen (39). Damit steht eine solche Konzeption im Kreis der Kultur- und Naturwissenschaften allerdings recht fremdartig da, wird dort doch der Erfahrungsbegriff intersubjektiv bestimmt und der Beitrag des Forschungssubjekts nur für heuristische Zwecke akzeptiert. Immerhin verstehen wir, warum das Thema Sexualität den akademischen Betrieb in Verlegenheit bringt: Es fehlt manchmal an den Anschlüssen zwischen sexologischen und sonstigen Denkbewegungen.

Dannecker diskutiert die Spielarten von Fetischisierungen, die Offerten des Internet, die Kontakt- und Partnerschaftsbörsen, die Verlockungen des Geschlechtswechsels – sie alle finden hier zu einer anschaulichen Vergegenwärtigung und psychodynamischen Erläuterung. So vergeht einem bald die Versuchung, das zunächst als bizarr Erscheinende als Nebenerscheinung abzutun. Denn: „Möglicherweise liegt die Wahrheit der Sexualität sogar im Abseitigen“, zumindest lässt sie sich von hier aus besser erschließen (40). Das Normale wird für so selbstverständlich genommen, dass es zu selten analysiert und ihm vom Publikum die Aufmerksamkeit verweigert wird. Es ist also keine Sucht nach Exotik, wenn Danneckers Texte gerne gelesen werden; es ist der Drang nach Wissen.

Liebe als Dimension der lustvollen Intimität tritt bei den hier vornehmlich untersuchten Subkulturen weniger in Erscheinung als in der traditionell geordneten Oberwelt, wo das Begehren immer auch mit Bezug auf eine Ehe gedacht wird. Für die Fetischszenen bemerkt Dannecker, zwar sei eine Annäherung an ein lebendes Liebesobjekt möglich, dieses bleibe jedoch in seiner sexuellen Bedeutung blass. Wo die Qualität des Sexualerlebens so im Vordergrund steht, wo Erregung und Befriedigung besser, stärker und intensiver sein sollen, werde die Person eines Gegenüber „nur wie durch einen Schleier wahrgenommen“ (76f).

Die durch die pornografischen Inhalte des Internet gestützte Sexualbefriedigung ist längst zu einem festen Bestandteil der Lustaktivitäten in der Bevölkerung geworden (83), auch bei Frauen, obwohl dort nur etwa ein Viertel so häufig wie bei Männern. Den oft gehörten Begriff ‚Cybersex‘ benutzt Dannecker für die nur am Bildschirm ablaufende Begegnung mit einem Anderen und mit sexuellem Ergebnis. Dabei handele es sich um eine Interaktion und nicht etwa um bloße Masturbation.

Dannecker ist ein einfühlsamer Experte zu Fragen der sogen. Internetsexualität, insbesondere in der Form des Chatting (Austausch von Mitteilungen in Echtzeit) und mit Webkamera. Das ungeheuer breite und vielseitige Angebot sexuell getönter Bilder, Situationen und Kleindramen im Netz, leicht auffindbar und vielfach kostenlos nutzbar, hat zu einer neuartigen Verfügbarkeit solcher Stoffe und Anregungen geführt. Der Autor schildert die Mechanismen hier ablaufender Kommunikationen. Sie entsprechen nicht realen Begegnungen, und die hier erlangten Orgasmen unterscheiden sich von einer Autoerotik im üblichen Sinne (81-91). Die in der Überschrift des Kapitels aufgeworfenen Frage „Verändert das Internet die Sexualität“ wird allerdings nur gestreift (90f) und hinhaltend beantwortet: Da die virtuell erlebte Sexualität „mit Lust assoziierte Erinnerungsspuren hinterlässt“, eröffne sich die Möglichkeit, über die reale Sexualität „zu reflektieren und diese als veränderbar zu begreifen“ (91). So lautete schon immer das Argument, mit dem die klassische Pornographie gegen ihre Verächterinnen verteidigt wurde. Die Chancen lernender Selbsterfahrung stehen gegen Bedrohungsszenarien einer möglichen Entgleisung.

In den jüngeren Passagen des Buchs erhalten die Aktiven einer heteronormativitätskritischen Politik interessante Argumentationshinweise. Die Interessenartikulation schwuler Senioren – dazu wurde ein Bundesverband gegründet – müsse sich mit der „Fetischisierung der Jugend“ auseinandersetzen (133). Allerdings wendet Dannecker hier einen anderen Begriff von ‚Fetisch‘ an als im Aufsatz zur Fetischsexualität (71ff). Was an einem Begehrensobjekt attraktiv gefunden wird, sollte nicht gleich dem voraussetzungsreichen Fetischkonzept unterworfen werden. – Die Durchsetzung der ‚Homo-Ehe‘ könnte „eine undurchschaubare Anpassung an die Heteronormativität“ gewesen sein (138). Die „Kopien traditioneller Zeremonien durch homosexuelle und lesbische Paare“ rühren aus einem Versagen her, Formen zu finden, um zu symbolisieren, dass sie „es auch ohne Ehe ernst miteinander meinen“ (140). Hier lässt Dannecker wohl ein Verständnis für die Bedeutung sozialer Institutionen vermissen. – Die Verteidiger-innen einer ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ sollten die gegen sie erhobenen Vorwürfe ruhig wörtlich nehmen. Dann stimme es, die gegenwärtigen Jugendlichen als eine ‚Generation Porno‘ zu bezeichnen, denn es seien fast alle schon einmal mit pornographischem Material in Kontakt gekommen (143 f.). Und was als ‚Frühsexualisierung‘ angeprangert wird, bilde eine notwendige Phase der soziokulturellen Personwerdung (nach Reimut Reiche, 144f). Dass Jugendliche sich scheuen, mit ihren Eltern über Sexuelles zu sprechen, findet Dannecker verständlich, wollen sie doch „ihre sexuellen Erfahrungen als etwas Eigenes, von den Eltern Unabhängiges begreifen, das sie für sich behalten möchten“ (147). Wem das Mitteilungsbedürfnis sich dann stattdesssen offenbart und dass dies kaum kompetente Instanzen sind, sagt der Autor nicht. – Einem Kongress zu AIDS und Hepatitis gibt Dannecker auf den Weg, die Zwänge staatlicher Gesundheitspolitik daraufhin zu betrachten, dass ein „Verlust des Lebendigen droht“; denn das „Irrationale soll stranguliert und restlos beseitigt werden“ (153).

Bei aller Ausgewogenheit bleiben die gesellschafts- und schwulenpolitischen Grundüberzeugungen sichtbar. So muss sich Hans Giese, der unbestreitbar Ende der 1960er Jahre eine aufklärend-liberale Sexualforschung in Deutschland etabliert hat (rororo-sexologie! Institut für Sexualforschung in Hamburg!) vorhalten lassen, er habe einen Teil der homosexuellen Männer pathologisiert (100-102). Die Psychoanalyse hingegen, mit ihren massiven antihomosexuellen Positionen und Ausschlüssen, wird mit Samthandschuhen angefasst (117-129).

Das Hauptprojekt Danneckers der letzten Jahre betrifft die Kommunikationsszene Internet, welche die von früher gewohnten Orte der Subkultur – von Bar bis Badehaus – weitgehend abgelöst bzw. ergänzt hat. Die Daten einer Befragung von 2011 mit sehr großer Antwortenzahl sowie informelle Gespräche erlauben eine empirisch gesättigte Darstellung und Interpretation des (nicht mehr ganz so) neuartigen Mediums, in dem sich die Mehrzahl der heute aktiven Homosexuellen bewegt. Wie schon bei seiner klassischen Studie von 1974 (mit Reimut Reiche) konzentrieren sich die Aussagen auf die in der Subkultur anzutreffenden Personen, ohne dass man wüsste, wie die zweifellos vorhandenen anderen Homosexuellen sich verhalten. Einerseits kann man gewiss sein, dass zwischen beiden Teilpopulationen gravierende Unterschiede bestehen. Andererseits sind die von Dannecker beschriebenen Homosexuellen diejenigen, welche sich auch öffentlich artikulieren und so das Bild des Publikums bestimmen. Schließlich zeigt sich in der Internetpopulation eine Fokussierung auf das Sexuelle, sowohl in der Selbstdarstellung als auch in den Inhalten der Kommunikation und damit für die so zustande kommenden Realbegegnungen. Genau wie 1974 bekommt das Publikum einen empirisch abgesicherten Einblick in sexuelle Verkehrsformen, die zuvor kaum bekannt waren und bei denen die Schwulen nicht zum ersten Male als Vorreiter einer künftigen Allgemeinform fungieren.

Fazit

Das Bemerkenswerte des Buchs, verglichen mit anderen Publikationen deutscher Sexologen, besteht darin, dass hier die sexuelle Dynamik spezieller Szenen untersucht und verständlich gemacht wird. Wo andere vor allem Probleme und Heilbedarfe erblicken wollen, schildert Dannecker Subkulturen, die zum Kosmos körperlich-lustvoll gestalteter Intimität hinzugehören, ohne dass ein Einzelner sie alle für sich erleben oder nachvollziehen könnte. Auf die aktuellen Kämpfe der queeren Bewegungen blickt Dannecker stets kritisch-begleitend. So entsteht ein farbiges Bild zu den Randkulturen des Sexuellen, die den Normalitätskern – in den meisten Studien unterbelichtet bleibend – zu Veränderungen antreiben.

Rezension von
Dr.phil. Dr.jur. Rüdiger Lautmann
Jg. 1935, arbeitete von 1971 bis 2010 als Professor für Soziologie an der Universität Bremen und lebt jetzt in Berlin. Zahlreiche Publikationen zu Recht und Kriminalität, Geschlecht und Sexualität.
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Zitiervorschlag
Rüdiger Lautmann. Rezension vom 01.06.2018 zu: Martin Dannecker: Faszinosum Sexualität. Theoretische, empirische und sexualpolitische Beiträge. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2017. ISBN 978-3-8379-2740-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23560.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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