Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld und seine Zeit
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 29.01.2018

Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld und seine Zeit. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2017. 456 Seiten. ISBN 978-3-11-054769-6. D: 59,95 EUR, A: 59,95 EUR.
Thema
Magnus Hirschfeld (1868 – 1935) war ein zentraler Akteur der emanzipatorischen Homosexuellenbewegung. Als Mitbegründer des WHK gehörte er um die vorletzte Jahrhundertwende zu den zentralen Protagonisten, die sich im Deutschen Reich für die Abschaffung des Paragrafen 175 einsetzten, der („beischlafähnliche“) mann-männliche sexuelle Kontakte unter Strafe stellte. Zentral war er für die Definition geschlechtlicher und sexueller Kategorien, wie sie bis heute zumindest in groben Zügen Gültigkeit haben. 2018 jährt sich der Geburtstag von Magnus Hirschfeld zum 150. Mal – aus diesem Anlass ist der vorliegende Band erschienen.
Herausgeber_innen und Entstehungshintergrund
Manfred Herzer, Jg. 1949, ist wohl einer der besten Kenner von Magnus Hirschfeld und seiner Zeit. Als ausgebildeter Bibliothekar hat er Standardwerke zur schwulen Geschichte und Kultur geschrieben, zu anderen beigetragen – und legt nun mit einem weiteren nach. Der Relevanz des vorliegenden Buches wird gerecht, dass es im renommierten Wissenschaftsverlag De Gruyter veröffentlicht wurde.
Die Publikation wurde von der Magnus-Hirschfeld-Stiftung finanziert, die dem Band ein Geleitwort zum Hirschfeld-Jubiläum voranstellt.
Aufbau und Inhalt
„Magnus Hirschfeld und seine Zeit“ ist eine weitgehend chronologisch aufgebaute Monografie, die die einzelnen Etappen von Magnus Hirschfelds Leben und Werk durchschreitet. Das Buch ist entlang der Lebensdaten Hirschfelds in fünf Hauptkapitel untergliedert, wobei das Inhaltsverzeichnis sehr detailliert und kleinteilig Auskunft über die jeweils behandelten Einzelaspekte gibt. Die fünf Hauptkapitel sind:
- 1868 – 1895
- 1896 – 1913
- 1914 – 1918
- 1919 – 1930
- 1931 – 1935
Es schließen sich ein Bilderteil, ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis, eine Danksagung und ein Register an. Das Register ist sehr hilfreich, da es auch raschen Zugang zur Beschäftigung mit einzelnen Personen und einigen sachbezogenen Stichworten eröffnet.
Inhalt
Manfred Herzer leistet mit dem vorliegenden Band eine Gesamtschau zum Leben und Werk von Magnus Hirschfeld. Dabei schließt er an das von ihm publizierte Buch „Magnus Hirschfeld: Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen“ an, das 1992 im Campus-Verlag erschienen ist, 2001 in der „Bibliothek rosa Winkel“ neu aufgelegt wurde und heute weiterhin als preisgünstige Taschenbuchausgabe beim Männerschwarm-Verlag erhältlich ist.
Seit 1992 sind einige neue Erkenntnisse hinzugekommen, und auch die Chronologie ist in dem nun vorliegenden neuen Band bei De Gruyter eine andere: Nicht die inhaltlichen Festlegungen „jüdisch“, „schwul“ und „sozialistisch“ bestimmen den Fortlauf, sondern sie kommen eingebunden in die Lebensdaten vor. Damit ergibt sich ein umfassenderes Bild von Magnus Hirschfeld – und geht er nicht unter Schlagworten unter. Gleichzeitig wird Hirschfeld zeitgenössisch eingeordnet – man lernt Mitstreitende und Gegner – und deren Programmatik – kennen, ebenso wie zentrale Schritte in der Emanzipation der Homosexuellen.
Manfred Herzer beginnt seinen Band mit dem Kolberger Elternhaus und der Jugend von Magnus Hirschfeld, wendet sich dabei sowohl der städtischen Umgebung als auch dem familiären Kontext zu. Jugend- und Studierendenzeit (Medizin) und die wenigen zugänglichen Quellen über die „Jugendliebe“ werden thematisiert. Gleichzeitig wird Hirschfeld als jüdisch und nicht-religiös eingeordnet.
Das zweite und mit Abstand längste Kapitel, das auf die Zeit von 1896 bis 1913 fokussiert, ist vielleicht als Hauptteil des Buches zu verstehen. Hier werden dem_der Lesenden die bekanntesten Theorien von Hirschfeld und seine wichtigsten Publikationen vorgestellt. Die Darstellung hält sich dabei auch hier an die chronologische Abfolge, sodass die einzelnen Publikationen ausreichend Raum bekommen. Vorgestellt werden unter anderem unterschiedliche Varianten der Zwischenstufentheorie Hirschfelds; seine Ausführungen werden mit Kritiken des Biologismus und Rassismus konfrontiert; auch die Debatte um punktuell eugenische Argumentationen Hirschfelds spielt eine Rolle.
Die sich anschließenden Kapitel drei, vier und fünf sind deutlich kürzer. Sie wenden sich den Positionierungen Hirschfelds zum Ersten Weltkrieg zu, zu dem Hirschfeld eine befürwortende, deutsch-nationale Haltung einnahm (Kapitel 3), und gehen weiter über das Institut für Sexualwissenschaft (Kapitel 4) und seine Zerschlagung durch die Nazis (Kapitel 5), wobei Kapitel 5 in besonderer Weise die Auslandsreisen Hirschfelds thematisiert – und seinen Tod im Exil in Nizza.
Diskussion und Fazit
Wer etwas über Magnus Hirschfeld wissen möchte, wird an dem Buch „Magnus Hirschfeld und seine Zeit“ von Manfred Herzer nicht vorbeikommen. Es handelt sich um eine „gewohnt“ gründliche Darstellung von einem der zentralen Experten zu Magnus Hirschfeld. Zudem ist das Buch leichtgängig geschrieben und eröffnet – quasi nebenbei – eine Gesamtschau auf die Zeit und die wichtigsten Akteur_innen in Bezug auf das emanzipatorische Streiten der Homosexuellen, aber auch hinsichtlich der damals vertretenen geschlechtlich-sexuellen Theorien. Auseinandersetzungen Hirschfelds mit Zeitgenossen werden ebenso deutlich wie Wandlungen in den Theorien und Überzeugungen bei Magnus Hirschfeld selbst. Allein die Zwischenstufentheorie hat unterschiedliche Ausformungen, die im Band zur Geltung kommen.
Allerdings wäre ein ausführlicherer Anschluss zu heutigen Diskussionen wünschenswert gewesen. So geht Herzer etwa auf die „europäische Urningskolonie Konstantinopel“ (S. 237) ein, zitiert aber lediglich eine umfassende Passage Hirschfelds, ohne sie einzuordnen. Gemeinsam mit Zülfukar Çetin habe ich vorgeschlagen, wesentlich deutlicher in den Blick zu nehmen, wie Hirschfeld die „Homosexuellen“ und ihren Sex gegen „den gleichgeschlechtlichen Sex der Anderen“ abgrenzte. Da sich unser Band „Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: Kritische Perspektiven“ (Gießen 2016) mit der Veröffentlichung des vorliegenden Bandes von Manfred Herzer überschnitt, wäre seine Einschätzung zur Frage an anderer Stelle erhellend. Im Kapitel zum Ersten Weltkrieg (Kapitel 3) skandalisiert Herzer die rassistischen Zuschreibungen Hirschfelds an „die Anderen“ (S. 253) – die Ansicht Hirschfelds wird nicht an seinen Geschlechtstheorien vorbeigegangen sein.
Ein weiterer Aspekt sind die klaren und eindeutigen Identifizierungen von geschlechtlichen und sexuellen Ausprägungen körperlicher Merkmale und Verhaltensweisen, die in zentralen Grundlagen auf Hirschfeld zurückgehen. Michel Foucault – der nicht einmal in Register und Literaturverzeichnis auftaucht – hatte zu Hirschfeld kritisch angemerkt, dass er die „Zwischenstufen“ „wie Insekten aufreihen und auf seltsame Namen taufen“ würde [1]. Sein „Schauen, Anschauen, Ordnen und Typisieren“ [2] habe wesentlich einerseits zur emanzipatorischen homosexuellen Identitätsbildung beigetragen, andererseits auch die Grundlage für eine Verfolgungspraxis gelegt, die – von Magnus Hirschfeld nicht beabsichtigt – daran anschließen konnte. Kathrin Peters hatte 2009 festgehalten (wie zuvor schon Guy Hocquenghem), dass sich bei Hirschfeld ein „einmalig dastehende[r] Einsatz fotografischer Bilder“ zeige und Hirschfeld „einem Sichtbarkeitspostulat zu[arbeite], das sich im Gebrauch von Fotografien niederschlägt, wie es zugleich von diesen gestützt und aufrechterhalten wird“ [3]. Hier in der Reflexion weiterzugehen könnte ertragreich sein.
Das Buch ist ein unbedingtes Muss für alle diejenigen, die sich mit schwuler Geschichte im Allgemeinen und mit Magnus Hirschfeld und seinen Zeitgenoss_innen im Besonderen beschäftigen. Es stellt einen sehr guten Auftakt für die weitere Debatte dar.
[1] Foucault, Michel (1983 [1976]). Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. S. 59.
[2] Çetin, Zülfukar; Voß, Heinz-Jürgen (2016): Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: kritische Perspektiven. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 67.
[3] Peters, Kathrin (2009). Rätselbilder des Geschlechts – Körperwissen und Medialität um 1900. Zürich u.a.: Diaphenes Verlag. S. 164.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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