Dieter Hermann, Andreas Pöge et al. (Hrsg.): Kriminalsoziologie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 07.09.2018
Dieter Hermann, Andreas Pöge, Heike Drees (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 494 Seiten. ISBN 978-3-8487-2806-0. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.
Thema
Die Kriminalsoziologie integriert Beiträge unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen. Sie behandelt das Thema Kriminalität im Kontext von Gesellschaft und Individuum aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden. Aktuelle Forschungen aus den Kerndisziplinen der Kriminologie und Soziologie werden mit Fragestellungen aus der Psychologie, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaft, Theologie und Philosophie verknüpft. Diese Themenbreite, die bislang kaum umfassend dargestellt wurde, soll das Handbuch für ausgewählte Themengebiete leisten. Dazu stellen ExpertInnen eines Fachgebiets ihre aktuellen Forschungsthemen systematisch und umfassend vor. Neben der Aufarbeitung des aktuellen Diskussions- und Forschungsstands liegt ein zusätzlicher Schwerpunkt auf der Präsentation eigener Studien, dabei wurde großer Wert auf eine sehr gute Verständlichkeit gelegt.
Herausgeber und AutorInnen
Dieter Hermann, Prof. Dr. ist Professor am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Kriminologie und Kultursoziologie, Studien zur kommunalen Kriminalprävention, zu sexuellem Missbrauch, Korruption sowie zur Sozialisation von Werten und Normen.
Andreas Pöge, PD Dr., ist Akademischer Oberrat im Arbeitsbereich Methoden der empirischen Sozialforschung der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte sind quantitative Methoden, die Kriminologie und Werteforschung.
Die Einzelbeiträge wurden von etablierten VertreterInnen aus den Bereichen Soziologie, Kriminologie, Psychologie vorwiegend aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verfasst.
Aufbau
Das gewichtige Handbuch bietet 25 Kapitel, die in fünf Abschnitte mit den Schwerpunkten
- Kriminalitätstheorien, Methoden und Praxis
- Ätiologie, Ursachen von Kriminalität
- Struktur und Entwicklung von Kriminalität
- Soziale Probleme und gesellschaftliche Reaktionen
- Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht
gegliedert sind. Neben einem AutorInnenverzeichnis findet sich ein Abschnitt, in dem alle Einzelbeiträge als Abstracts zusammengefasst sind.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Kriminalitätstheorien
Das Grundlagenkapitel erschließt in fünf Beiträgen etablierte und neuere Ansätze zur Erklärung von Kriminalität. Der Bezug liegt hier in den theoretischen Grundlagen der analytischen Soziologie, entsprechend werden als handlungstheoretische Fundamente ökonomische und soziologische Rational-Choice Ansätze referiert und die Erträge der kriminologischen Lerntheorie erfasst. Diese Basistheorien werden dann mit jüngeren Ansätzen zur Erklärung kriminellen Handelns wie der Situational Action Theory oder der Spieltheorie verknüpft. Zwei Beiträge gehen auf den Zusammenhang von Werteorientierungen und Selbstkontrolle, Wertetradierung und Kriminalitätsrate ein. Die Autoren gehen insbesondere auf die Erträge der voluntaristischen Kriminalitätstheorie, handlungs- und systemtheoretische Ansätze und die Situational Action Theory ein. Mit der Anomietheorie Durckheims wird in einem eigenen Beitrag ein klassischer Erklärungsansatz diskutiert und dessen Grundlagen mit neueren Theorien (Institutional-Anomie Theory, General Strain Theory) verknüpft, die v.a. einen stärker gesellschaftstheoretischen Bezug herstellen.
Ätiologie
Aufbauend auf den zuvor dargestellten theoretischen Grundlagen werden im nächsten Abschnitt in acht Beiträgen spezifische ätiologische Aspekte auf ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Entstehung von Kriminalität beschrieben. Die einzelnen Beiträge beleuchten den Zusammenhang von Werteorientierung und abweichendem Verhalten (z.B. Anomietheorie, Subkulturtheorie etc.), den fraglichen Zusammenhang von Migration und Kriminalität, die Frage der Werteorientierung bei Jugendlichen und dessen Bedeutung für Problemverhalten, die familiären Sozialisationsbedingungen und deren Bedeutung für Delinquenz, den Zusammenhang von Geschlecht und Kriminalität, die Variable Medien im Kontext von Gewaltphänomenen (mit einigen Erträgen der Medienwirkungsforschung), benennt Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialer Verhaltensmuster in Kindheit und Jugend und die Erträge des Resilienzansatzes, hier insbesondere die Bedeutung von Schutzfaktoren (die hier vor allem als Interaktionsvariablen mit einem moderierenden Einfluss auf Risikovariablen verstanden werden) für delinquentes Verhalten. Unter den hier genannten Aspekten und Perspektiven sind in diesem Abschnitt vorwiegend ätiologische kriminalsoziologische Ansätze versammelt die stärker nach den gesellschaftlichen Ursachen delinquenten Verhaltens fragen. Die Einzelbeiträge geben einen breiten -dabei überschaubaren- Abriss der gängigen und einiger neuerer Theorien und deren empirische Grundlagen und gehen in den meisten Fällen auf eigene empirische Arbeiten der AutorInnen ein, welche durch ein zumeist beeindruckendes Literaturverzeichnis ergänzt werden.
Struktur und Entwicklung von Kriminalität
In drei ganz unterschiedlichen Themenschwerpunkten werden in diesem Abschnitt Veränderungen der Gewaltproblematik an Schulen, regionale Unterschiede in der gerichtlichen Sanktionspraxis und der Zusammenhang von Stadtstruktur und Kriminalität beschrieben, dies auf begrenzte geografisch lokale, auch sozialräumliche Strukturen bezogen (Gewalt an Schulen in Sachsen, hot-spots in Großstädten), oder auf Effekte im gesamten Bundesgebiet, wobei in allen drei Beiträgen auch neuere empirische Befunde referiert werden.
Soziale Probleme
Wirtschaftskriminalität, Korruption, Migration und abweichendes Verhalten, rechtsextreme Gewalt und der Strafvollzug selbst werden als Phänomene der Kriminalität und im Kontext gesellschaftlicher Reaktionen darauf analysiert. So unterschiedlich die hier vorgestellten Themenbereiche auch erscheinen, sie verbindet, dass die damit zusammenhängenden Kriminalitätsphänomene als systembedingte Merkmale (oder auch Symptome) aufgefasst werden können (oder müssen). Die Einzelbeiträge liefern einen knappen (dabei meist umfassenden, hinsichtlich des Phänomens rechtsextremer Gewalt eher schlaglichtartigen) Überblick über das jeweilige Gebiet und zeigen auch aktuelle Forschungsbefunde auf, die jeweils in einem Fazit oder Ausblick münden. Im Beitrag zum Strafvollzug werden neben sozialen Merkmalen, Alters- und Geschlechtsverteilung, Haftdauer und Fragen einer „best practice“ auch internationale Vergleiche zu Hafthäufigkeit und -dauer und damit eine internationale Perspektive integriert.
Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht
Der letzte Abschnitt geht in zwei Beiträgen auf die Erträge der Opferforschung und Befunde zur Kriminalitätsfurcht ein. Die Kapitel geben einen Überblick zu grundlegenden Fragestellungen der Opferforschung, zur sozialen Konstruktion des Opfer-Seins (und des Opferbegriffs), Ansätze der Forschung zur Kriminalitätsfurcht und hier insbesondere die Notwendigkeit das Phänomen (Sicherheitsgefühl vs. Furcht) im Kontext gesamtgesellschaftlicher Prozesse wahrzunehmen.
Zielgruppe
Als Handbuch für Wissenschaft und Praxis wendet sich der vorliegende Band an alle theoretisch und praktisch mit dem Phänomen Kriminalität befasste Berufsgruppen.
Diskussion
Die Anforderungen an ein thematisch begrenztes Handbuch, das gleichermaßen die Erfordernisse in wissenschaftlicher Forschung und kriminalsoziologischer Praxis berücksichtigen soll sind naturgemäß hoch. Einerseits erwartet die Leserin einen möglichst vollständigen Überblick kriminalsoziologischer Theorien und Methoden, andererseits Hinweise auf praktische Erwägungen. Beides ist in dem Handbuch Kriminalsoziologie weitgehend geglückt: in den Einzelbeiträgen finden sich die -historisch- relevanten theoretischen Bezüge, neuere Erklärungsansätze und die für die Gültigkeit der aufgestellten Theorien wichtigen empirischen Belege. Dabei gelingt es den AutorInnen, immerhin 36 Personen, durchgehend, die – zum Teil doch recht komplexen – Zusammenhänge in einer verständlichen Sprache zu präsentieren, was dem Buch vor allem in seiner auf die praktisch tätige Leserschaft gerichteten Zielrichtung gut tut.
Durch die Auswahl der beteiligten AutorInnen werden „nebenbei“ aktuelle Forschungsprojekte und -erkenntnisse zusammengefasst und präsentiert, sodass hier auch der Theorie-Praxis-Transfer gelingen dürfte. Zur raschen Orientierung findet sich am Ende jedes Kapitels ein Abschnitt der -als Fazit formuliert- zentrale Aspekte des jeweiligen Aufsatzes zusammenfasst und hinsichtlich seines Ertrags bewertet und den daraus ableitbaren Forschungsbedarf skizziert. Eine knappe Inhaltsangabe zu allen Beiträgen findet sich zudem im Anhang als Abstract.
Diese komprimierte Darstellung bietet zusammen mit den (z.T. sehr umfangreichen) Literaturangaben eine sehr gute Grundlage für die Vertiefung einzelner Themenbereiche, je nach praktischer Erfordernis oder Interesse. Was kommt zu kurz? Dass neben der Darstellung der Sanktionsform Strafvollzug auf die ambulanten Interventionsformen, z.B. im Jugendstrafvollzug weitgehend verzichtet wurde erscheint irritierend. Ebenso der Verzicht auf die – wenigstens Aufzählung – sanktionsbegleitender Angebote wie ambulante Behandlungsmaßnahmen oder länderpolizeiliche Überwachungsansätze für spezielle Tätergruppen und deren Wirkeffekte. Im Ätiologieabschnitt, der hinsichtlich der gebotenen Begrenzung der Perspektiven erfreulich differenziert erscheint, wäre ein Hinweis zur aktuellen Diskussion um Trauma und Täterschaft wünschenswert gewesen. Auch wenn es in einem Handbuch zur Kriminalsoziologie hier nicht um kriminalpsychologische Aspekte gehen kann, erscheint die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit erlebten Traumata und Traumafolgen – hier dann im Sinn der Kriminalprävention – als überfällig.
Fazit
Das Handbuch greift das Thema Kriminalität an der Schnittstelle von Gesellschaft und Individuum auf und präsentiert die verschiedenen Perspektiven und Methoden der verschiedenen beteiligten Wissenschaftsdisziplinen. In fünf Abschnitten werden die Bereiche Kriminalitätstheorien, Ätiologie von Kriminalität, deren Struktur und Entwicklung, der Zusammenhang von sozialen Problemen und gesellschaftlicher Reaktionen, sowie der Bereich Viktimisierung und Kriminalitätsfurcht aufgegriffen und in den traditionellen relevanten theoretischen Bezügen, zusätzlich durch die Präsentation aktueller Diskussions- und Forschungsstandards vorgestellt. Durch die systematische Darstellung und übersichtliche Gliederung des Bandes, vor allem aber durch die herausgeberisch kluge Auswahl der Beiträge und AutorInnen wird ein differenzierter und vor allem auch aktueller Blick in die Gebiete der Kriminalsoziologie ermöglicht. Ein Grundlagenwerk für alle im Bereich der Kriminalsoziologie und darüber hinaus auch im Bereich der Straffälligenhilfe Tätigen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 07.09.2018 zu:
Dieter Hermann, Andreas Pöge, Heike Drees (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2017.
ISBN 978-3-8487-2806-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23583.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
Urheberrecht
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