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Cora van der Kooij: Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 19.04.2018

Cover Cora van der Kooij: Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell ISBN 978-3-456-85626-1

Cora van der Kooij: Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell. Darstellung und Dokumentation. Hogrefe AG (Bern) 2017. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. 224 Seiten. ISBN 978-3-456-85626-1. D: 28,95 EUR, A: 24,95 EUR, CH: 32,50 sFr.

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Thema

Bei dem Modell oder dem Ansatz der „Mäeutik“ oder der so genannten „erlebnisorientierten Pflege“ handelt es sich um eine Pflege- und Betreuungskonzeption vorwiegend für Demenzkranke im fortgeschrittenem Stadium aus den Niederlanden, die seit ca. 15 Jahren auch in Deutschland bekannt ist (siehe hierzu www.socialnet.de/rezensionen/794.php).

Autorin

Dr. Cora van der Kooij ist eine Krankenschwester und promovierte Historikerin aus den Niederlanden. Die Autorin leitet in den Niederlanden eine „Akademie für Mäeutik“. Darüber hinaus bestehen noch entsprechende Einrichtungen in Deutschland (www.imoz.de) und Österreich (www.imoz.at), die u.a. Basis- und Aufbaukurse des „Mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells“ anbieten. Laut Wikipedia absolvierte die Autorin 1998 die Ausbildung zum „Validation Teacher“ im „Validation Training Institute“.

Aufbau

Die vorliegende Publikation ist in zwei Teile nebst Geleit- und Vorworte, Literaturliste, Glossar und Sachwortverzeichnis gegliedert:

  1. Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell: Kapitel 1 – 7 (Seite 19 -112)
  2. Methodik und Dokumentation: Kapitel 8 – 16 (Seite 113 – 193)

Die Deutschen Nationalbibliothek zeigt das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Zu Teil 1

Die ersten drei Kapitel beinhalten die Darstellung des mäeutischen Pflege- und Betreuungskonzeptes. In Anlehnung an den Begriff „Hebammenkunst“ der antiken Philosophie (Mäeutik) wird dieser Ansatz als der Versuch verstanden, dem intuitiven Verhalten der Pflegenden eine Begrifflichkeit und somit einen theoretischen Rahmen zu geben, wobei nach Auffassung der Autorin sich das Modell „Mäeutik“ in den letzten Jahren zu einer „neuen Pflegetheorie“ entwickelt habe (Seite 21). Dieses Modell basiert auf der Vorstellung einer Dopplung der Pflege in die beiden Bereiche pflegerische Fachkenntnisse bzw. pflegerisches Können und parallel hierzu die gefühlsmäßige oder emotionale Seite des Pflegens seitens der Handelnden. Und Mäeutik soll hierbei die Integration dieser beiden Ebenen des Pflegens leisten.

Im Folgenden setzt sich die Autorin u.a. mit dem Vorwurf auseinander, dass ihr „mäeutisches Pflege- und Betreuungskonzept“ stark dem psychodynamischen Pflegemodell von Hildegard Peplau (1952) ähnle. Ihr war die eingestandene Ähnlichkeit des Konzeptes nicht „bewusst gewesen“ (Seite 43). Im Vorwort zur hier vorliegenden 2. Auflage ihres Buches gesteht die Autorin diese inhaltlichen Übereinstimmungen ein (Seite 11), wobei sie ihr Vorgehen bei der Entwicklung ihres „mäeutischen Modells“ wie folgt begründet: „Es hat sich aus ähnlichen Erfahrungen und Denkweisen neu entwickelt und präsent gemacht.“ (Seite 12). Nochmals weist Cora van der Kooij im zweiten Teil des Buches auf Seite 118 auf diesen Sachverhalt hin, wenn sie ausführt: „Diese vier Phasen ähneln den vier Phasen nach Peplau (Orientierungs-, Identifikations-, Nutzungs- und Ablösungsphase) heißen aber anders.“

Nach weiteren Ausführungen über Aspekte der Pflege (u.a. „Care“ und „Cure“, Empathie und Sympathie) wird zusammenfassend angeführt, dass ihr Modell der „Mäeutik“ anfangs geplant als bloßes Modell einer „emotionalen und umgangsfähigen Ergänzung“ zur „funktionsorientierten Pflege“ sich mittlerweile zu einem „holistischen Pflegemodell“ entwickelt hätte (Seite 51).

Im vierten Kapitel beschreibt die Autorin einige ihren eigenen Erfahrungen im Umgang mit Demenzkranken, die sie selbst als Praxisanleiterin in einem Pflegeheim in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts sammelte und die sie als „integrierte erlebnisorientierte Pflege“ bezeichnet. Hierbei handelt es sich überwiegend um gängige Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien des Mitgehens bzw. Lenkens, die bei der Pflege und Betreuung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium in den Heimen in den Niederlanden, Deutschland und auch anderen Ländern tagtäglich praktiziert werden.

Das fünfte Kapitel befasst sich mit der „Erlebenswelt“ der Demenzkranken. Die Autorin geht hierbei von einem eigenen mehrschichtigen Konzept der Erfahrung aus: „körperliches, sinnliches, verstandesmäßiges, gefühlsmäßiges, soziales und spirituelles Erfahren“. Dieser Orientierungsrahmen wird ohne jedwede neurowissenschaftliche Fundierung nur kurz skizziert. Belege aus der Praxis der konkreten Demenzpflege u.a. in Gestalt von Falldarstellungen werden auch nicht angeführt.

Im sechsten Kapitel expliziert die Autorin ihr Modell der Demenzentwicklung, das aus den Stadien oder „Verhaltensbildern“ des „bedrohten“, des „verirrten“, des „verborgenen“ und des „versunkenen Ichs“ besteht. Cora van der Kooij gesteht zwar ein, dass es sich letztlich hierbei um das Modell der „Validation“ von Naomi Feil handelt, doch sie verweist zugleich darauf: „Die Beobachtungskategorien wurden von mir anders formuliert und geordnet.“ (Seite 91). (siehe hierzu www.socialnet.de/rezensionen/260.php)

Im siebten Kapitel, „der mäeutische Pflege- und Betreuungsprozess“, werden die wesentlichen Elemente und Faktoren dieses Ansatzes beschrieben. Besonders hervorgehoben wird hierbei die Bedeutung der Dokumentation im Pflegeprozess: „die Kulturfunktion von Dokumentation.“ (Seite 97). Kritisch wird u.a. bemängelt, dass in vielen Heimen mit einem so genannten „personenzentrierten Ansatz“ immer noch die Pflegeplanung und Evaluation nach Modellen des AEDL bzw. AEBDL praktiziert werden, die die Pflegenden in eine „defizitäre Falle“ bei der Einschätzung der Bewohner locken würden (Seite 98 und 99). Kurz wird auch auf den Dokumentationsdruck und die Schritte zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation in Deutschland eingegangen. Hierbei betrachtet die Autorin das „mäeutische Modell“ mitsamt den entsprechenden Dokumentationsbögen als Ergänzung zum gegenwärtig praktizierten Strukturmodell mit einer systematischen Informationssammlung (SIS) gemäß ihrer Einschätzung: „Pflegeprofessionalität beruht im Großen und Ganzen auf zwei ‚Säulen‘: Erlebnisorientierte und pflegemedizinische Fachlichkeit.“ (Seite 111).

Zu Teil 2

In Kapitel acht wird einführend auf das Strukturgefüge der „mäeutischen Methodik“ eingegangen, die im Wesentlichen aus den vier Phasen des Pflegeprozesses „Empfang und Einzug“, „Eingewöhnung“, „Wohnen und Leben“ und „Abrundung oder Verabschiedung“ besteht.

Die folgenden Kapitel neun bis sechzehn beinhalten die Darstellung und Erläuterung des „erlebnisorientierten Beobachtungsbogens“, eines „Gesprächsleitfadens Lebensgeschichte“ und „Pflege- und Betreuungsübersichten“. Diese Erfassungs- und Verlaufsdokumentationen ähneln stark den in Deutschland verwendeten Instrumenten.

Diskussion und Fazit

Die vorliegende Publikation enthält nach den Vorstellungen der Autorin eine „neue Pflegetheorie“ bzw. ein „holistisches Pflegemodell“. Dieser Einschätzung vermag der Rezensent nicht zu folgen, sieht er doch mehr eine bloße Zusammenfügung fremder Geistesleistungen ohne inhaltlichen Zusammenhang, aber kein genuin neues Pflegekonzept. Wenn Cora van der Kooij dann auch noch auf ihre „Urheberrechte“ (Seite 124) verweist, stellt sich die Frage nach einer inhaltlich-fachlichen Begründung dieses Anspruches.

Sieht man von diesen eher ethischen und juristischen Dimensionen des Modells „Mäeutik“ einmal ab und wendet sich den funktionalen und alltagsbezogenen Aspekten der Pflege und Betreuung zu, dann bedarf es der Klärung, warum in der Phase einer tendenziellen Entbürokratisierung der Pflegedokumentation im stationären Bereich der Altenpflege die zusätzliche Einführung neuer Erhebungs- und Verlaufsbögen nach dem Modell der Autorin erforderlich sein sollte. Denn die in Deutschland verwendeten Dokumentationssysteme enthalten alle von der Autorin angeführten Parameter.

Betrachtet man das wesentliche Kerninhalt des Modells „Mäeutik“, das Vier-Stadien-Konzept der Demenz nach Naomi Feil, dann bleibt zu konstatieren, dass dieses Modell ebenso wie die anderen so genannten „personenzentrierten“ Ansätze aufgrund ihrer Eigenweltlichkeit in der Erfassung der Demenz keinen Realbezug zum Pflegealltag und zu wissenschaftlichen Erklärungszusammenhängen besitzt. Neue Impulse und Anregungen für die Pflege und Betreuung Demenzkranker dürfen dann auch nicht erwartet werden.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 19.04.2018 zu: Cora van der Kooij: Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell. Darstellung und Dokumentation. Hogrefe AG (Bern) 2017. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. ISBN 978-3-456-85626-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23592.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.


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