Bettina Stangneth: Böses Denken
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.11.2017

Bettina Stangneth: Böses Denken. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2016. 250 Seiten. ISBN 978-3-498-06158-6. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 19,90 sFr.
Thema
Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf – oder könnte er sein Kompagnon sein?
Der griechische Philosoph Platon hat menschliches Denken als Gespräch der Seele mit sich selbst bezeichnet, und Aristoteles setzt das Denken mit den intellektuellen Geistes- und Verstandestätigkeiten gleich. Jeder Entschluss, jedes Vorhaben und jede Entscheidung, die der Mensch trifft, setzt Denken voraus. Der Mensch ist in all seinem Denken und Tun ein zôon politikon, ein sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, das in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Allgemeinurteile bilden zu können und Verantwortung für sich und die Menschheitsfamilie zu tragen. Damit ist Denken im ganzheitlichen, humanen Sinn auch soziale Kompetenz. Der denkende Mensch ist aufgefordert zu erkennen, dass er als Individuum und Gemeinschaftswesen tagtäglich die Verantwortung für ein gutes, gelingendes Leben für die gesamte Menschheit mit sich trägt. Diese bereits aus den antiken Philosophien herleitbare Ethik ist auch heute Grundlage des Humanum. Nicht wenige Zeitgenossen weisen darauf hin, dass in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt, in der die Egoismen, Ethnozentrismen, Nationalismen, Fundamentalismen und Populismen wachsen, und in der Fake News Denkprozesse bestimmen, ein existentielles Denken gefordert ist. Hinweise und Anregungen dazu gibt es genug. Da ist der kategorische Imperativ, der sich in dem Sprichwort ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu!“; und da ist der Anker, der Orientierung und Halt bietet, nämlich zu erkennen, dass „die im individuellen und in einer zweitpersonalen Moral verankerten Denk- und Verhaltensweisen von Menschen auf kulturellen und sozialen Normvorstellungen und -diktionen beruhen“ (Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21987.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Wie kommt das Böse in die Welt und in das Denken und Handeln der Menschen? Die psychologische und psychoanalytische Nachschau zeigt, dass im menschlichen Dasein das Gute neben dem Bösen wohnt und es einer enormen, intellektuellen und moralischen Anstrengung bedarf, „immer wieder unsere Werkzeuge des Begreifens zu überprüfen und zu schärfen, und das nicht nur, um besser zu erkennen, wie wir wurden, was wir sind, sondern weil nur so ein gemeinsames Sprechen möglich ist“. Die Werkzeuge sind identifiziert und liegen bereit: Mit Immanuel Kants „radikal Bösen“ und mit Hannah Arendts „Banalität des Bösen“. Die in Hamburg lebende Philosophin Bettina Stangneth will der notwendigen und unverzichtbaren historischen Nachfrage, wie das nationalsozialistische Böse, die Lüge, Indoktrination und ideologische Verführung zum Verbrechen des Holocaust möglich und wirksam werden konnte, mit dem philosophischen Nachdenken über Moral, Wahrhaftigkeit und Wahrheit ergänzen. Es ist keine Anklageschrift, auch keine Nachschau darüber, ob der Schoß f(r)uchtbar noch ist, sondern vielleicht sogar eine optimistische und hoffnungsvolle Analyse, dass „Moral ( ) der Ausdruck der Hoffnung (ist), dass unsere Welt besser werden kann als sie ist, und der Wille herauszufinden, wie man die Welt ändert, ohne alles noch schlimmer zu machen“. Es ist der Versuch, die pädagogisch und moralisch immer wieder gestellte Frage, wie es gelingen kann, die Menschen darüber aufzuklären, dass sie aufgeklärt sein wollen!
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert ihr Essay neben der Einleitung in folgende Kapitel.
Im ersten Kapitel „Ja! Aber… Oder das radikal Böse (Immanuel Kant)“ diskutiert sie die philosophischen Erkenntnisse, dass der Mensch nicht böse geboren ist, das Böse nicht in seinen Genen gelagert ist, sondern sich selbst böse macht und gemacht wird. Sie setzt sich auseinander mit dem Streben und den Wünschen der Menschen nach Glück, nach einem guten, gelingenden Leben und findet bei Kant eine Reihe von Antworten, wie es gelingen könne, Selbsterkenntnis, Menschenliebe und Empathie kultivieren. Die entscheidende Antwort: Ohne Vernunftkompetenz geht es nicht! Es braucht die kritische Distanz zu vorgegebenen, überlieferten und aktuell angepriesenen „Leitkulturen“, und es ist notwendig, präsentierte und gezüchtete Euphorien zu durchschauen und einen „skeptischen Optimismus“ entgegen zu setzen (der Schweizer Umwelt- und Friedensaktivist Hans A. Pestalozzi hat diese Einstellung in seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979) „positive Subversion“ bezeichnet.
Im zweiten Kapitel setzt sie sich mit den altbekannten Positionen auseinander, wie sie sich als „Wenn ich das gewusst hätte…“ darstellen und von Hannah Arendt mit der Theorie der „Banalität des Bösen“ thematisiert wurden. Das von Menschen ausgeübte und begangene Böse, wie z.B. Völkermorde und Menschenvernichtung, markiert ja die hilflose, unverständliche Reaktion, wie Menschen zu Unmenschen werden können: „Die nationalsozialistischen Täter hatten die Menschheit verraten, ihre eigene und die ihrer Opfer“. Es ist die Verranntheit und Verdammtheit in Ideologie und Hörigkeit, Hierarchisierung und unbedachter Gefolgschaft, die Menschheitsverbrechen möglich machen. Hannah Arendt erkennt bei ihren Auseinandersetzungen mit den NS-Verbrechen, dass „Denken immer Distanzieren ist“ und überhaupt erst ermöglicht, „dass ein Mensch, wenn er denkt, vorgegebene Verhaltensregeln, überlieferte Regelsysteme, … Werte und Normen, ja auch schlichte Gewohnheiten und Moden kritisch betrachten kann“; ein Rat, der nicht nur für die Reflexion und Erkenntnisfindung über böse Taten der Menschen in der Vergangenheit dient, sondern auch bei der Bewertung von Bösem in der Gegenwart und für eine gute Zukunft hilfreich ist: „Aus der Theorie der Banalität des Bösen folgt darum auch eine Mahnung, sich der Tragfähigkeit und Reichweite des Wissens über das Faktische, also die Tatsachen der Welt, jederzeit bewusst zu sein und einen bewussten Umgang mit der eigenen Fähigkeit zu pflegen, sich also einzugestehen, wenn einem Wissen fehlt, und es sich gegebenenfalls zu beschaffen“. Es braucht erst einmal die Kompetenz der Schuldfähigkeit und des Wissens, dass das Böse ist, aber nicht sein darf.
Im dritten Kapitel thematisiert die Autorin das„akademische Böse“: „Das wird man doch wohl noch denken dürfen“. Sie zeigt auf, dass die intellektuelle Auffassung vom Denken als Weg(weiser) zum Licht und die philosophische Erkenntnis, dass Denken Ich-und Weltorientierung ermöglicht, es dadurch also weder ein böses Denken, noch eine böse Philosophie geben könne, allzu kurz gegriffen ist; denn Gedankenlosigkeiten in (so genannten) wissenschaftlich fundierten Theorien und Praxisbezügen gehen den bösen Taten vielfach voraus. In der Geschichte der Menschheit finden sich zahlreiche Belege für die Janusköpfigkeit im Pendelschlag von Gut und Böse.
Als Einschub steuert der Rezensent ein Beispiel zur Rassismus-Entwicklung bei: Der in der Wissenschaft, in der Gesellschaft und durchaus als Utilitarist eingeschätzter Missionar, Afrika-und Sprachforscher Diedrich Westermann (1875 – 1956) propagiert die rassistische Einstellung und Überzeugung: „Das Geschick des Afrikaners ist für alle absehbare Zeit mit dem des Europäers aufs engste verbunden, ja es ist von ihm abhängig. Er ist der Schüler und Arbeitnehmer, wir die Lehrer und Arbeitgeber, aber auch: wir sind die Herren und er der Untergebene“ („Wie die Deutschen zu den Fremden kamen“, Aspekte der Freire-Pädagogik, Nr. 18, Paulo Freire-Verlag, Oldenburg 2002, 42 S.). Es ist der Eurozentrismus, der das humane Vernunftdenken konterkariert hat und bis heute globale Barrieren errichtet, um das Humanum als allgemeingültige Grundlage zu etablieren. Das zeigt sich u.a. in der Kontroverse darüber, wie eine „globale Ethik“ aussehen müsse, um als allgemeingültige, nicht relativierbare Wertvorstellung gelten zu können, wie sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorgibt und von deren Gegnern als „westlich bestimmt“ diffamiert wird. Die Differenzierung in Eigensinn und Andersinn, wie sie sich in der Denk- und Erkenntnisunterscheidung von „Eros und Thanatos“ zeigt (Hans-Peter Waldhoff, Eros und Thanatos. Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23350.php) wird deutlich, dass Wissenschaft jederzeit global ist, oder keine Bedeutung hat. Es geht darum herauszufinden, „wo genau die Linien zwischen Meinen und Wissen, Subjektivem und Objektivem, Persönlichkeit und Wissenschaftlichkeit verlaufen“. Weil jede Empfindung sich in einer eigenen Sprache und Aktivität ausdrückt, kommt es darauf an zu verstehen, wie Meinungen zustande kommen, festwachsen oder sich verändern, zum Ausdruck und zur guten oder bösen Wirkung kommen (vgl. dazu auch: Tali Sharot, Die Meinung der anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php). Dabei gilt es sich bewusst zu sein, dass „Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit (…) Werkzeuge zu vielen denkbaren Zwecken sind. Es gibt folglich auch ein Ausmaß des Bösen, das erst dann beginnt, wenn wir uns in den anderen hineingefühlt haben“. Eine Portion Pragmatismus könnte die lokal- und globalsichtbare und spürbare Entwicklung reduzieren, „in der Form eines permanenten Tabubuchs … (und einer) permanenten Provokation“ zu denken.
Fazit
In der Analyse über „böses Denken“ wird immer wieder die Moral in den unterschiedlichen Idealen und Ausprägungen zu Rate gezogen. Dabei wird deutlich, „dass weder das Denken noch die Philosophie ohne eine Ethik auskommt“. Der Aufriss macht deutlich, dass es im alltäglichen wie im akademischen, historischen und aktuellen Denken sowohl eindeutig erkenn- und identifizierbares gutes, als auch verdecktes, verstecktes und manipuliertes böses Denken gibt: „Nur wenn wir verstanden haben, an welchem Punkt das arglose Denken aufhört und das akademische Böse beginnt und in welchen Formen es sich jeweils äußert, werden wir ihm etwas entgegenzusetzen haben und auch den Maßstab für eine kritische Öffentlichkeit zurückgewinnen, die ansonsten zum bloßen Geschrei verkommt“. Es gilt, „das gefährliche Denken sichtbar zu machen, offen darüber zu sprechen, was diese Denkwege attraktiv macht“. Diese Kompetenz ist allein, im stillen Kämmerlein oder im persönlichen, schallabgedichteten Medienraum nicht zu erwerben, sondern nur im gleichberechtigen, permanenten Dialog. So kommt die Philosophin zu der einfachen, erstaunlichen Feststellung, dass wenn wir uns diesem Zustand nähern, wir jeden Gedanken denken dürfen und können, bis hin zur Selbstverständlichkeit, dass wir eine Moral erkennen, die sich von selbst versteht.
Anstelle von Verweisen auf Anmerkungen und Fußnoten, die nach Auffassung der Autorin den Lesefluss beeinträchtigen könnten, verweist sie auf die vierseitige „persönliche Empfehlung zum Weiterlesen“, in der sie auch die Quellenangaben der Zitate nennt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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