Peter Bründl, Susanne Hauser et al. (Hrsg.): Abklärung – Diagnose – Fallbeschreibung
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 09.04.2018
Peter Bründl, Susanne Hauser, Fernanda Pedrina (Hrsg.): Abklärung – Diagnose – Fallbeschreibung. Forschung und Behandlungsplan. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2017. 219 Seiten. ISBN 978-3-95558-210-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Der sechste Band des Jahrbuchs der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse ist dem Themenbereich der diagnostischen Abklärung gewidmet und befasst sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Abklärungsprozessen, die vor oder am Beginn einer psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen stehen.
Herausgeber und Herausgeberin
Peter Bründl ist Lehranalytiker in der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und praktiziert als Kinderanalytiker in München.
Fernanda Pedrina ist Kinderanalytikerin in Zürich und lehrt an der Universität Kassel. Sie war langjährige Vorsitzende der GAIMH.
Aufbau und Inhalt
Der Band behandelt das Thema Diagnostik in elf Beiträgen, die fünf verschiedenen Schwerpunkten zugeordnet wurden:
- Forschung,
- Abklärung und Indikation,
- Diagnostische Instrumente,
- Autismus sowie die
- Anwendung in atypischen Settings.
Der erste Abschnitt „Einblicke in die Forschung“ wird mit einem Beitrag von Fernanda Pedrina eingeleitet. Sie stellt das Klassifikationssystem „DC:0-5“ vor, das 2016 in englischer Sprache publiziert wurde und das „DC:0-3/R“ als diagnostisches System zur Klassifikation psychischer Störungen in der frühen Kindheit ablöst. Das von einer Arbeitsgruppe um Charles Zeanah entwickelte Modell weitet die Altersspanne von den ersten drei auf fünf Lebensjahre aus, und obwohl es sich am DSM-5 orientiert, ist es als eigenständiges Manual konzipiert, das alle psychischen Krankheitsbilder der frühen Kindheit inkludiert. Wesentliche Änderungen sind die Einführung der Achse I „Beziehungsstörung“ und der Achse II „Beziehungskontext“.
Éva Hédervári-Heller gibt einen Überblick über Diagnostik im Kontext der Bindungsforschung. Sie geht zunächst auf die Abgrenzung von organisierter und desorganisierter unsicherer Bindung als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung einerseits und dem Konzept der Bindungsstörung als Psychopathologie andererseits ein. Anschließend stellt sie die Klassifikation von Bindungsstörungen nach dem DSM-5 der alternativen Klassifikation von Zeanah und Boris gegenüber, bevor sie aktuelle Trends skizziert und abschließend davor warnt, die Diagnose „Bindungsstörung“ leichtfertig zu vergeben.
Daniel Schechter befasst sich in „Überlegungen zur traumatisch verzerrten Intersubjektivität“ mit der Entstehung von Intersubjektivität in den ersten Lebensjahren. Ausgehend von den Arbeiten Daniel Sterns forscht Schechter, wie es zwischen Müttern, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, und ihren Kindern durch Verzerrung und Dysregulation zu Beeinträchtigungen der Entwicklung von Intersubjektivität kommt. Er veranschaulicht seine Annahmen anhand von drei klinischen Beispielen.
Der nächste Abschnitt des Buches ist mit „Abklärung und Indikation“ überschrieben. Zunächst stellt Dieter Bürgin Kriterien für die Indikation psychoanalytischer Psychotherapie bei Jugendlichen dar und beschreibt, worauf bei der Gestaltung von Erstgesprächen zu achten ist, damit eine Indikationsstellung möglich wird. Anhand eines ausführlichen Fallbeispiels einer 17jährigen Patientin wird aufgezeigt, wie es zur Indikationsstellung und zu einem Therapieplan kommt.
Im Beitrag „Was erwartet der Patient vom Therapeuten und was braucht er von ihm?“ entfaltet Yecheskiel Cohen den Gedanken, dass es am Beginn einer Kinderpsychotherapie zentral ist, als wen oder was der Therapeut/die Therapeutin vom Kind erlebt wird und wer er oder sie für das Kind im therapeutischen Prozess sein soll – vor allem bei Kindern, bei denen es starke Defizite in der Selbstentwicklung gibt. Er führt seine Überlegungen anhand von drei Stundenprotokollen von ersten Sitzungen aus.
Rudolf Laschinger-Peter und Catharina Salamander stellen die Sprechstunde in der Kinder- und Jugendlichenambulanz der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse vor und beschreiben, wie Erstgespräche mit Heranwachsenden und ihren Angehörigen dort gestaltet werden.
Im dritten Abschnitt „Diagnostische Instrumente“ werden zwei diagnostische Verfahren präsentiert: Inge-Martine Pretorius führt am Beispiel eines dreijährigen Jungen aus, wie am Anna Freud Center in London diagnostische Abklärungen vorgenommen werden. Theoretischer Bezugsrahmen dabei ist das „Überarbeitete Provisorische Diagnostische Profil“, das eine Weiterentwicklung von Anna Freuds diagnostischem Profil darstellt.
In „Wie sehen kleine Kinder sich und ihre Beziehungswelt?“ befasst sich Maria Mögel mit der „MacArthur Story Stem Battery“, bei der Kinder aufgefordert werden, Geschichten, in denen bindungsrelevante Themen dargestellt werden, unter Verwendung von Spielfiguren zu vervollständigen. Sie zeigt auf, wie das in der Bindungsforschung entwickelte Instrument klinisch – etwa im Rahmen von Gutachten oder psychotherapeutischen Behandlungen – eingesetzt werden kann.
Im Abschnitt „Autismus und Differentialdiagnose“ widmen sich zwei Beiträge Autismus-Spektrum-Störungen aus psychodynamischer Sicht. Martin Sobanski gibt in „‚Lumping or Splitting?‘ Zur deskriptiv-behavioralen und psychodynamischen Verortung im Autismus-Spektrum“ einen umfassenden Überblick über die Entwicklung und aktuelle Kategorisierung der diagnostischen Kriterien von autistischen Störungsbildern. Neben der Konzeption von Autismus-Spektrum-Störungen im DSM-5 und der Darstellung aktueller diagnostischer Verfahren werden auch psychoanalytische Erklärungsansätze berücksichtigt.
Adriana Grotta und Paola Morra beschreiben in „Diagnose und psychodynamische Abklärung in der Therapie eines autistischen Patienten: Die Geschichte von Leo“ anhand einer psychoanalytisch orientierten Behandlung, die mehr als zwölf Jahre umspannte, dass die Diagnose „Autismus“ in unterschiedlichen Entwicklungsphasen unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann, da der autistischen Funktionsweise eines Kindes immer auch sein „Entwicklungsdrang“ gegenübersteht.
Der letzte, mit „Anwendungen in atypischen Settings“ überschriebene Teil des Buches umfasst nur einen Beitrag: Barbara Saegesser gewährt Einblicke, wie sie mit einer psychoanalytischen Herangehensweise mit jungen Patientinnen in ostafrikanischen Krankenhäusern psychotherapeutisch arbeitet. Diese oft sehr kurzen Interventionen sind von der Differenz der Kulturen und dem Fehlen schützender Rahmenbedingungen – oft finden sie in Anwesenheit von Angehörigen, anderen Patientinnen oder dem Krankenhauspersonal statt – geprägt.
Diskussion
Das Buch behandelt einen Themenkomplex, der relevant für alle ist, die mit von Entwicklungsbeeinträchtigungen und psychischen Störungen betroffenen Heranwachsenden arbeiten und dies mit einem psychodynamischen Verständnis verbinden. Im Feld der Abklärung und der Diagnostik ist das Spannungsfeld zwischen psychoanalytischen Herangehensweisen, mit denen individuelle Dynamiken und unbewusste Anteile erfasst werden können, und Methoden, die auf vergleichbare, klassifizierende Diagnosen abzielen, von zentraler Bedeutung.
Die Beiträge des Bandes sind äußerst vielfältig, und der Titel „Abklärung – Diagnose – Fallbeschreibung“ lässt sich als Versuch verstehen, den vielen unterschiedlichen Zugängen einen gemeinsamen Nenner zuzuordnen. Die Autoren und Autorinnen arbeiten in unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sie behandeln unterschiedliche Altersgruppen von der frühen Kindheit (z.B. Pedrina, Schechter oder Pretorius) bis zur Adoleszenz (z.B. Bürgin oder Saegesser), sie fokussieren entweder mehr auf die Klassifikation von Psychopathologien (z.B. Pedrina oder Sobanski) oder auf den besonderen, ganz individuellen Beginn eines psychoanalytischen Prozesses (z.B. Bürgin oder Cohen). Sie nehmen institutionelle Rahmenbedingungen diagnostischer Prozesse in den Blick (z.B. Laschinger-Peter und Salamander oder Saegesser) oder sehr spezifische diagnostische Verfahren (z.B. Mögel). Das mag zunächst verwirrend und wenig kohärent wirken, doch die Zusammenstellung der Arbeiten zeigt auf, wie vielfältig das Handlungsfeld „Diagnostik von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen“ ist und wie viele verschiedene Aspekte dabei zu berücksichtigen sind. Die in der Praxis dominierenden klassifikatorischen Systeme DSM-5 und ICD-10 werden hier zurecht lediglich als ein Aspekt diagnostischer Abklärung verstanden, die durch differenziertere Konzepte zu ergänzen sind.
In jedem Beitrag wird die Kompetenz der Autorinnen und Autoren auf ihrem Gebiet deutlich. Die Beiträge sind theoretisch fundiert (wenngleich die theoretischen Bezugsrahmen sehr unterschiedlich ausfallen) und erlauben dennoch fast durchgängig durch das Einbinden von Fallmaterial einen Bezug zur praktischen Arbeit.
Querverbindungen zwischen den verschiedenen Arbeiten herzustellen, das Verbindende – möglicherweise aber auch das Trennende – zwischen den einzelnen Beiträgen herauszuarbeiten, überlässt das Herausgeber-Team allerdings den LeserInnen selbst.
Fazit
Elf Beiträge unterschiedlicher Autoren und Autorinnen zeigen auf, wie vielfältig die Zugänge zu Diagnostik und Abklärung von Entwicklungsproblemen von Kindern und Jugendlichen aus psychoanalytischer Perspektive sein können. Die Beiträge behandeln aktuelle Themen wie die transgenerationale Weitergabe traumatischer Belastungen in Mutter-Kind-Beziehungen, Bindungsstörungen oder Störungen aus dem Autismus-Spektrum. Manche Beiträge sind stärker klinisch orientiert und befassen sich mit dem Beginn kinderanalytischer Behandlungen und dem Versuch, im Rahmen eines analytischen Prozesses zu einem diagnostischen Verständnis zu kommen, andere Beiträge verbinden eine psychodynamische Sichtweise mit empirisch-klassifikatorischen diagnostischen Zugängen. Wer mit entwicklungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen arbeitet, wird in diesem Band vielfältige Anregungen finden.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.
Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 09.04.2018 zu:
Peter Bründl, Susanne Hauser, Fernanda Pedrina (Hrsg.): Abklärung – Diagnose – Fallbeschreibung. Forschung und Behandlungsplan. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2017.
ISBN 978-3-95558-210-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23602.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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