Philip Nitschke, Fiona Stewart: Die friedliche Pille. Sanft einschlafen - für immer
Rezensiert von Heribert Wasserberg, 17.12.2018

Philip Nitschke, Fiona Stewart: Die friedliche Pille. Sanft einschlafen - für immer.
PeacefulPill
(Blaine ) 2006.
300 Seiten.
ISBN 978-0-9788788-4-9.
80,00 EUR.
ISBN 978-0-9758339-4-0 (gedruckte Ausgabe).
Thema
Es klingt wie eine Utopie (oder wie ein Albtraum), ist aber geltendes Recht: Jeder Mensch hat das Recht, über Art und Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen. Oder anders ausgedrückt: Selbsttötung ist nicht nur nicht verboten, auch nicht nur erlaubt; ganz einfach und klar formuliert: Selbsttötung ist ein Recht.
Aber was bedeutet das praktisch? Vor allem, wenn der Staat und diverse Funktionsträgergruppen dieses Menschenrecht gar nicht gerne mögen, und daher die Bürger darin behindern möchten, von ihm Gebrauch zu machen, wo es nur geht.
Gegenstand des Buches „Die friedliche Pille“ ist der Wunsch – der durch die Furcht vor der Hinfälligkeit, dem Altersheim oder durch andere Beweggründe motivierte Wunsch vieler Zeitgenossen danach, „Boss des eigenen Sterbens“ zu sein (so der Slogan der niederländischen Sterberechtsorganisation Coöperative Laatste Wil), und zwar der sehr konkrete Wunsch nach Verfahren für die Beendigung des eigenen Lebens.
Autoren
Die beiden Autoren stellen sich wie auf S. 483 der aktuellen Online-Buchausgabe vom 8. Oktober 2018 wie folgt vor:
„Dr. med. Philip Nitschke ist Gründer und Vorsitzender von Exit International. Als erster Arzt, der weltweit eine legale, tödlich, freiwillige Injektion unter Australiens kurzlebigem Gesetz ‚Rights of the Terminally Ill Act‘ verabreichte, ist Philip ein globaler Pionier der modernen Bewegung für Sterbehilfe.
Philip wurde ein Doktorat in angewandter Physik verliehen. Er wurde später Absolvent der Sydney Medical School.
Zusammen mit Fiona Stewart ist Philip Autor des Buches Killing me Softly: Voluntary Euthanasia and the Road to the Peaceful Pill (Penguin 2005, vor kurzem neu aufgelgt). Seine Autobiografie Damned If I Do (zusammen mit Peter Corris) wurde von der Melbourne University Press im Jahr 2013 herausgegeben.
Philip wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt und wurde neun Mal zum Australier des Jahres (‚Australian of the Year‘) nominiert. Er lebt in den Niederlanden.“
„Dr. Fiona Stewart ist eine im Gesundheitswesen tätige Soziologin und Rechtsanwältin. Fiona hat in verschiedenen Feldern gearbeitet, darunter zehn Jahre in akademischer Tätigkeit. Fiona war Consultant für die Weltgesundheitsorganisation WHO, Journalistin, Zeitungskolumnistin, Unternehmensgründerin und Medienstrategin. Fiona lebt in den Niederlanden.“
Weitere biographische Informationen über die Autoren sind auch über Wikipedia und Google verfügbar.
Interessenskonflikt?
Der Rezensent hält es für eine selbstverständliche Pflicht, das Menschenrecht Selbsttötung zu respektieren, vor allem für eine selbstverständliche Staatspflicht. Der Staat ist dazu verpflichtet, den in seinem Gebiet befindlichen Menschen die Ausübung ihrer Rechte zu gewährleisten. Dies gilt auch für das Recht, das eigene Leben zu beenden.
Zugleich ist der Rezensent weder direkt noch indirekt beruflich oder wirtschaftlich mit den Fragen um die Gestaltung des Lebensendes befasst. Es besteht keine persönliche Verbindung und kein Mitgliedschaftsverhältnis zu den Autoren oder ihrem Netzwerk. Von daher ist kein Hinweis auf einen Interessenskonflikt erforderlich.
Entstehungshintergrund: Die Suche nach dem Gral.
„Die friedliche Pille“ ist das wichtigste Langzeitprojekt und -produkt des von Philip Nitschke gegründeten und geleiteten Netzwerkes Exit International, welches von Hause aus in Australien und Neuseeland angesiedelt ist. Exit International, Final Exit (USA), oder Coöperative Laatste Wil (Niederlande) sind Mitgliedervereinigungen mit dem Ziel, dem Individuum die maximal mögliche Steuerfähigkeit über Art und Zeitpunkt des eigenen Todes zu verschaffen, indem sie geeignete Verfahren entwickeln und bereitstellen. Ihre Strategie ist es, das Selbstbestimmungsprinzip mit Technologie und Kampagneführung zu kombinieren. Sie leiten die Legitimität ihres Tun aus der Autonomie des Individuums ab; hierin unterscheiden sie sich von staatlich (Oregon) oder zivilgesellschaftlich (Schweiz, Niederlande) praktizierten Bestrebungen, welche die Legitimität ihres Tuns deutlich stärker auf die Durchführung von Genehmigungsverfahren und Beachtung von Rechtsförmigkeitserfordernissen stützen. Zwar haben auch Exit International in erster Linie Menschen mit stark abgesunkener, irreversibel beeinträchtigter Lebensqualität vor Augen. Das Buch „Die friedliche Pille“ wird nur an ältere Menschen über 50 Jahre und an schwerkranke Menschen abgegeben. Aber letztlich wenden sich Exit International und „Die friedliche Pille“ an das entscheidungsberechtigte, zu einer rationalen Selbsttötungsentscheidung befähigte Individuum.
Ohne den Menschenrechtsgedenken, Liberalismus, Säkularismus, Individualisierung und Rechtsstaatsprinzip wären diese Organisationen und auch der Selbsttötungsratgeber „Die friedliche Pille“ nicht vorstellbar.
Im Jahre 1996 präsentierte Nitschke in einer Phase vorübergehender Liberalisierung des australischen Sterberechtes die laptop-gesteuerte deliverance machine (also Befreiungsmaschine, im Sinne von Selbstbefreiungsmaschine). Dieser Apparat versetzte Selbsttötungswillige dazu in der Lage, weitgehend autonom ihren Wunsch zu verwirklichen; der Vereinnahmung des Selbsttötungsmittels Nembutal mit dem Wirkstoff Natriumpentobarbital ging das vollständige Durchlaufen einer Befehlsroutine durch den Sterbewilligen voraus, an deren Ende er die Introjektion des Lebensbeendigungsmittels auslöste.
Nitschkes Selbsttötungsmaschine der heutigen Zeit steht ganz in der Tradition der deliverance machine. Der Sarco ist ein per 3D-Drucker do-it-yourself herstellbarer futuristisch anmutender Sarkophag, innerhalb dessen der bzw. die Selbsttötungswillige durch Knopfdruck Stickstoff einleiten lässt.
Das Internet, die im Zuge seines Aufstieges sich durchsetzenden Technologien und Kommunikationsstrategien sind der Hintergrund des Buches, welches erstmals im Jahre 2006 und in der Form des Online-E-Handbuches 2008 auf dem Markt gebracht wurde.
Nitschkes deliverance machine eröffnete die Suche nach dem heiligen Gral, nach der perfekten Methode für einen frei verfügbaren „friedlichen“, „würdigen Tod“, dem sich kein Dritter oder Dritte und schon gar nicht eine Behörde oder eine Religionsgemeinschaft in den Weg stellen kann. Heute existiert ein Netzwerk von Gruppen und Einzelaktivisten in Europa, Nord- und Süd-Amerika und Ozeanien, welche informell koordiniert an der Verwirklichung dieses Zieles arbeiten. Jedoch (noch) ist dieser Gral nicht gefunden, und dies ist der Grund, dass die Autoren in ihrem Buch fünfzehn Verfahren vorstellen, diskutieren und miteinander vergleichen.
Aufbau
Das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Druckausgabe kann bei der Deutschen Nationalbibliothek abgerufen werden.
Die aktuelle Online-E-Book-Fassung vom 8. Oktober 2018 hat einen Gesamtumfang von 487 Seiten.
In die Hauptsache geht es in dem Buch um die Vorstellung und kritische Diskussion von fünfzehn Selbsttötungsverfahren mit oder ohne Beteiligung von Ärzten oder anderer Dritter (S. 66-421). Dabei widmen die Autoren dem von ihnen als Goldstandard erachteten Nembutal (Wirkstoff Natriumpentobarbital) sechs Kapitel (S. 254-421).
Dieser Hauptteil hat eine doppelte Rahmung:
- Rahmung 1 umfasst die Vorstellung des „Exit VS-Tests“ (S. 56-65), also eines Scoring-Systems, welchem die im Ratgeber diskutierten Verfahren unterworfen werden, und die tabellarische Zusammenstellung der fünfzehn Selbsttötungsverfahren entsprechend der Scoring-Ergebnisse (S. 482). Wer sich einen schnellen Überblick darüber verschaffen möchte, welches Verfahren dieses Buch als empfehlenswert empfiehlt, und welches weniger, sucht diese Tabelle auf.
- Rahmung 2 besteht aus drei Kapiteln zur Vorbereitung des Hauptteils und zwei Kapitel, in welchen es um Fragen der Umsetzung der Selbsttötungsentscheidung geht (S. 422-481).
Ein Vorwort, das Inhaltsverzeichnis und ein Literaturverzeichnis vervollständigen das Werk.
Druckausgabe und Online-E-Book-Ausgabe, weitere Informationsquellen
Verlegerisch sind beide Buchprodukte in den USA angesiedelt, um einem Verbot zu entgehen. Auch die erstmals 2011 vorgelegten deutschsprachigen Ausgaben erscheinen dort und werden über die Webseite des Buches vertrieben. Im Sortiment des deutschen Buchhandels wird das Buch nicht geführt, bei Amazon.de nur die veraltete erste deutschsprachige Ausgabe. Die Deutsche Nationalbibliothek, deren Ziel es ist, alle deutschsprachigen Buchprodukte zu katalogisieren, nahm erst durch die Vorarbeiten an dieser Rezension Kenntnis von dem Werk.
Die Druckausgabe des Buches erschien zuletzt im Oktober 2017, wohingegen das Online-E-Book mehrfach im Verlaufe eines Jahres aktualisiert und somit ziemlich kontinuierlich auf dem Laufenden gehalten wird. Dieses erwirbt man durch Kauf eines Zwei-Jahre-LogIns, welches anschließend zum halben Preis verlängert werden kann.
Inhaltlich ist das Online-E-Book deutlich stärker, zum einen, weil in ihm ergänzend zum Text Video-Clips eingesetzt werden, um Inhalte zu transportieren. Dabei handelt es sich um Vortragsausschnitte Nitschkes, um Vorbereitungs- und Anwendungsdemonstrationen von Selbsttötungsverfahren, aber auch um Zeitdokumente wie Kampagnenclips von Sterbewilligen. Die englischsprachigen Clips sind in der überwältigenden Mehrzahl deutschsprachig untertitelt, und in der Regel erfolgreich abspielbar.
Zum anderen enthält das Online-E-Book eine Vielzahl von Verlinkungen zu externen Inhalten und Webseiten (welche in der Regel ebenfalls funktionieren). Häufig wird zu Shops verlinkt, bei denen Verfahrenstechnik erworben werden kann.
Der Yudu-Reader, unter dessen Benutzeroberfläche das E-Book präsentiert wird, wirkt in seiner Aufmachung nicht unbedingt taufrisch, bietet aber verschiedene Navigations- und Bookmarking-Werkzeuge. In seiner Offline-Version ist er etwas geschmeidiger. Wer dies bevorzugt, kann ein Portable Document File (PDF) des Buches erstellen, und damit unter der vertrauten Software-Umgebung arbeiten.
Um „Die friedliche Pille“ herum gruppieren sich diverse weitere Informationsquellen unter dem Webauftritt von Exit International und unter der Vimeo-Videoplattform, welche genutzt wird, nachdem Google und Youtube die Inhalte von Exit International verbannt haben. Auch gibt es geschlossene Friedliche-Pille-Online-Foren; der Erwerb des Online-E-Books ist die Voraussetzung für eine Zulassung zu ihnen.
Inhalt des Online-E-Books vom 8. Oktober 2018
Im Vorwort setzen sich die Autoren „der führenden Internetquelle für Möglichkeiten am Lebensende“ u.a. mit dem Vorwurf auseinander, sie stifteten mit ihrem Ratgeber suizidale Menschen zum Selbstmord an. Sie fordern Respekt für die Integrität ihres Buches, dessen Zielgruppe Senioren, ältere und schwerkranke Menschen seien. Diese sollen dazu „in der Lage sein, informierte Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen.“ Ihr Buch sei als ein Weg der Hilfe gedacht, „damit das Sterben eines Menschen so stolz und stark wie sein Leben sein kann“. (S. 15)
Im Einleitungskapitel 1 „Gedanken am Lebensende“ leuchten die Autoren die diversen gesellschaftlichen Umfelder der Selbsttötungsentscheidung aus, diskutieren die Folgen des medizinischen Fortschritts und dessen anthropologische und soziologische Folgewirkungen. Auch eine kleine „Geschichte des Suizids“ wird geboten, in welchem an die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes in der griechischen Antike erinnert wird, als der Richter in der athenischen Demokratie Sterbewilligen den Gifttrank bereithielt. An die Nieren geht die Problematisierung der Grenzen der Palliativmedizin am Beispiel der jungen Angelique Flowers, welche mit 31 Jahren qualvoll verstarb, da sie das Krankenhaus nicht mehr verlassen konnte, um Nembutal zu nehmen.
Kapitel 2 ist der Rechtslage bei Sterbehilfe, Freitodbegleitung und Selbsttötung gewidmet. Das Kapitel ist aktuell gehalten in Bezug auf die deutschsprachigen Länder und berichtet auch über Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 2. März 2017, welches die zuständige Bundesbehörde zur Erlaubnis des Erwerbs eines Sterbemittels an schwerstleidende Sterbewillige verpflichtet, jedoch von der Bundesregierung abgelehnt wird.
Kapitel 3 stellt die Frage „Was ist ‚Die friedliche Pille‘?“ und eröffnet mit der Antwort Nitschkes: „‚Die friedliche Pille‘ ist eine Tablette oder ein Getränk, das einen friedlichen und schmerzfreien Tod zum gewählten Zeitpunkt herbeiführt; ein Mittel, das oral eingenommen wird und den ‚meisten‘ Menschen zur Verfügung steht.“ Anschließend wird erzählt, wie der ehemalige Richter des niederländischen obersten Gerichtes Huibert „Huub“ Drion, sich davon verärgert zeigte, dass seine ärztlichen Freunde genau wüssten, wie sie ihr Leben beenden könnten, hingegen ihm als Juristen dieses Wissen nicht zur Verfügung stand. Drion forderte daraufhin, dass jeder Mensch über 65 Lebensjahre sich in den Besitz einer Lebensbeendigungspille versetzen können solle, um sie bei sich zu Hause einsatzbereit zur Verfügung zu haben. Und weiter wird erzählt, wie eine Mitgliederbefragung bei Exit International im Jahre 2004 ergab, dass die einmalige orale Einnahme eines Lebensbeendigungsmittels mit überwältigender Mehrheit anderen Verfahren vorgezogen wird. Damit war damals konkret gemeint: Nembutal (Grafik S. 51).
Im Kapitel 4 wird das Bewertungs-System erläutert und vorgestellt. welches sich wie folgt darstellt:
Bezeichnung | Einordnung als | Punktzahl | Prozentzahl |
Verlässlichkeit | Primärkriterium | 1-10 | 2-40 |
Sanftheit | Primärkriterium | 1-10 | 4-40 |
Verfügbarkeit | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Vorbereitung und Anwendung | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Nicht-Nachweisbarkeit | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Schnelligkeit der Wirkung | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Sicherheit für Dritte | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Haltbarkeit | Sekundärkriterium | 1-5 | 4-20 |
Max. Gesamt | 50 | 100 |
Es folgt nun der Hauptteil mit den Besprechungen der ausgewählten fünfzehn Selbsttötungsverfahren. In der Regel enden diese mit der Bewertung anhand der Bewertungskriterien und anschließende tabellarische Zusammenstellung des Untersuchungsergebnisses.
Nachdem im Kapitel 21 die Freitodbegleitungs-Angebote der drei schweizerischen Organisationen Dignitas, Lifecircle und Ex International erläutert wurden, sammelt das letzte Kapitel „abschließende Überlegungen“ zu praktischen Fragen, welche sich bei der Planung einer Selbsttötung stellen. Zum Beispiel wird auf die Nutzbarkeit von Briefweiterleitungsdiensten hingewiesen, um die Privatsphäre während und nach einer Selbsttötung zu schützen.
Diskussion
In der globalen Auseinandersetzung zwischen dem Autoritarismus und den Menschenrechten ist der Kampf um die Bestimmungshoheit über das Lebensende nur scheinbar ein Nebenkriegsschauplatz. Die Existenzmöglichkeit totalitärer Staaten und Weltanschauungsorganisationen scheint in Frage gestellt, wenn diese das Individuum nicht mehr dazu zwingen können, weiter zu leben. Sind Gesellschaften noch entwickelbar, haben sie noch Bindekraft und Autorität, wenn sie ebenso hohe Selbsttötungszahlen haben wie Abtreibungszahlen? Konservative, religiöse, rechte, und rechtsextreme Kräfte zeigen sich daher entschlossen, die Normalisierung von Selbsttötungen zu bekämpfen. In den letzten Jahren sind es in verschiedenen Ländern (Italien, Spanien, Deutschland, Großbritannien) gerichtliche Entscheidungen, welche Liberalisierungen restriktiver gesetzlicher Regelungen erzwangen.
Auch Nitschke und Steward haben eine Vielzahl staatlicher Repressionen und Anfeindungen erlebt, welche am Ende dazu beigetragen haben werden, ihren Wohnsitz in Amsterdam zu nehmen. Diese Repressionen dürften auch die folgende Ursache haben: Ihnen (und ihren Mitstreitern) geht es bei ihrem Projekt nicht nur um Selbstbestimmung und rationale Entscheidungshoheit, sondern auch um Frieden und Befreiung. Allenthalben ist bei ihnen vom Exit, vom Ausweg die Rede; es herrscht ein messianischer Unterton, geht es doch ihnen um eine friedliche Art, die Welt zu verlassen. Nitschke und Steward sind messianischen Wegweiser der Befreiung aus dem „Jammertal“ Welt, wohingegen ausgerechnet religiös gebundene Kräfte mit besonderer Inbrunst die leidende menschliche Kreatur in dieser Welt festhalten möchten, solange irgend möglich.
Mit seinem Befreiuungspathos bewegt sich Nitschkes und Stewards Buch nicht nur im Spannungsfeld zwischen Autoritarismus und Menschenrechten, sondern auch im Spannungsfeld zwischen einer protestierenden säkularisierten messianischen Erlösungsphilosophie und dem herrschenden Diesseit-Ismus, welcher sich ans Da-Sein klammert. Nach Auffassung des Rezensenten ist dieses Buch dadurch hochgradig relevant. Insbesondere Theologie- und Philosophietreibende machten daher nichts falsch, wenn sie sich den hierher emigrierten messianischen und eschatologischen Anliegen menschlich und fachlich zuwendeten.
Allen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen stellt dieses Buch in diskreter Form die Frage, ob sie die Welt weiterhin zu einer Kirche machen wollen, in welcher zum Beispiel junge Frauen wegen ihres Darmkrebses Kot erbrechen müssen, weil sie die Welt zuvor nicht verlassen durften.
Nitschkes und Stewards Buch ist Dokument eines work in progress, und das hat Nachteile. Kurz gesagt: Dem Buch wäre nicht nur ein erneutes Update, sondern eine professionell editierte Neuauflage zu wünschen, welcher eine Durchprüfung aller Einzelentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte vorausging. Die starke Konzentration auf den Wirkstoff Natriumpentobarbital ist zwar bewegungsgeschichtlich und vielleicht auch sachlich verständlich, aber dennoch wirkt sie ermüdend, ist doch dieser Wirkstoff für das normale Individuum de facto nicht verfügbar und nicht legal erwerbbar. Ein nicht verfügbares Mittel ist ein untaugliches Mittel; das gilt auch für Lebensbeendigungsmittel.
Das Scoring-System könnte auch in anderen Hinsichten noch einmal geprüft werden, denn es fehlt das Kriterium der Prüfbarkeit. Für Sterbewillige ist es wichtig, dass sich die Sterbeentscheidung darauf stützen kann kann, dass die Helium- oder Stickstoffflasche oder das Salz tatsächlich in Ordnung sind.
Auch ist es nicht jedermanns Sache, Lebensbeendigungsmittel illegal zu erwerben bzw. vorzuhalten; auch dies sollte also bei einem Vergleich der Verfahren berücksichtigt werden.
Die Altersbeschränkung auf die Gruppe 50plus für die Erwerbsberechtigung wirkt zumindest für den europäischen Bereich angesichts der mittlerweile entstandenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte überholt. Das Buch sollte durch jeden volljährigen Menschen erworben werden können, denn in einem freien Land müssen sich volljährige Leute frei über die praktische Ausübung des Menschenrechtes Selbsttötung informieren können.
Ebenfalls fragwürdig ist die Selbstbeschränkung auf orale Selbsttötungsverfahren, welche auf die Mitgliederbefragung 2004 zurückzuführen ist. Hier könnte aber demnächst eine gewisse Selbstkorrektur stattfinden, ist doch für das nächste Update – welchem der Rezensent daher mit Spannung entgegensieht – im Dezember 2018 ein neues Kapitel angekündigt, in welchem es um manuelle Verfahren zur Beendigung der Blutzirkulation gehen soll.
Auf der anderen Seite ist die Gewachsenheit dieses Buches auch seine große Stärke. Insbesondere indem es Geschichten erzählt, Menschen in ihrer Not, ihrer Hoffnung, ihrem Engagement, ihrem Kampf für ein selbstbestimmtes ruhiges Lebensende zeigt, ihr Handeln vergegenwärtigt und ihnen ein Denkmal setzt. Dies macht „Die friedliche Pille“ zu einem sehr menschlichen Buch, welches den Rezensenten daher in einer von ihm so nicht erwarteten Weise beeindruckt hat.
Fazit
Für wohl nahezu jeden Menschen sind Antworten auf die beiden folgenden Fragen wünschenswert und wichtig: Wie möchte ich weiterleben? Und: Wie möchte ich sterben? Professionell mit und über den Menschen Arbeitende sollten hierzu Antworten gefunden haben und ihre gefundenen Antworten wirksam überprüfen können.
Nitschkes und Stewards Selbsttötungsratgeber „Die friedliche Pille“ ist zwar überarbeitungsbedürftig. Dennoch gehört dieses Buch nach Meinung des Rezensenten zu den TOP 10 des bürgerlichen Bildungskanons, weil das Buch die Frage, wie ich sterben möchte, anschaulich, konkret und sachkundig beantwortet.
Literatur
sowie weiterführende Links
- www.peacefulpillhandbook.com/deutsch/
- https://exitinternational.net/
- Philip Nitschke auf Twitter und Facebook:
https://twitter.com/philipnitschke
www.facebook.com/philip.nitschke - Huibert Drion: Het zelfgewilde einde van oudere mensen, in: NRC Handelsblad vom 19.10.1991. www.nrc.nl/nieuws (abgerufen am 30.11.2018)
- Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940) www.uni-erfurt.de/ (abgerufen am 3.12.2018)
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Entscheidung im Fall Haas vs. Schweiz vom 20. Januar 2011 (31322/07) http://hudoc.echr.coe (deutsche Übersetzung, abgerufen am 3.12.2018)
Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
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