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Joseph-Achille Mbembe: Politik der Feindschaft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.12.2017

Cover Joseph-Achille Mbembe: Politik der Feindschaft ISBN 978-3-518-58708-9

Joseph-Achille Mbembe: Politik der Feindschaft. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 234 Seiten. ISBN 978-3-518-58708-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Ethnozentrisch denken heißt begrenzt denken

Menschen, die ihr kraft eurer anthropologischen Vernunftbegabung, der Fähigkeit zu denken, der Kompetenz, Gutes vom Bösem unterscheiden und Allgemeinurteile fällen zu können – steht auf und wehrt euch gegen Menschenfeindlichkeit, gegen egoistische, ethnozentrierte und demokratiefeindliche Positionen. Leistet Widerstand gegen Ego-und Ethno-First-Einstellungen, gegen nationalistische, rassistische, fundamentalistische und populistische Positionen und Verführungen. Die humane Auffassung, dass die Menschheit nur existieren und sich weiterentwickeln kann, wenn nicht Zwietracht und Feindschaft zwischen den Menschen herrscht, sondern in der Vielfalt Einheit besteht, gilt es in den Zeiten der Kakophonien, Unsicherheiten und Bedrohungen zu erinnern. Aufgerufen dazu ist jedes Individuum in dem Bewusstsein, dass jeder Einzelne die Verantwortung mit sich trägt, jedem Menschen ein gutes, gelingendes, friedliches Leben zu ermöglichen (Hans Lenk, Human-soziale Verantwortung. Zur Sozialphilosophie der Verantwortlichkeiten, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/23473.php). Es geht um die Verpflichtung zur Entwicklung von moralischen und ethischen Einstellungen (Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21987.php). Wir sprechen von der „globalen Ethik“, wie sie allen Menschen ohne Wenn und Aber in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgegeben ist. Und es ist wichtig, das „böse Denken“ aufzudecken, lokal und global (Bettina Stangneth, Böses Denken, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/23593.php).

Entstehungshintergrund und Autor

„Das Böse ist überall!“ – diese Einschätzung aus den Zombi-Machwerken ist ja eine Tatsache, die sich in der Geschichte der Menschheit historisch nachweisen lässt. Die Feindschaft zwischen Individuen und Völkern hat zu unendlichem Leid, Verzweiflung und Zerstörung geführt. Immer wieder sind Menschen aufgetreten, ob mit religiösem, weltanschaulichem, politischem, psychologischem oder pädagogischem Impetus, um nach den Gründen und Ursachen zu forschen, wie Unverträglichkeiten entstehen. Jean-Paul Sartre hat in seinem Vorwort zu Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) darauf aufmerksam gemacht: „Wir leben in der Zeit der Explosionen“. Er wollte darauf hinweisen, dass Fanon mit seinem Buch über die Macht und Gewalt des Kolonialismus und seinem Aufruf zur Befreiung der Kolonisierten von der Kolonialherrschaft einen Paradigmenwechsel von einer getrennten hin zu einer gleichberechtigten (Einen?) Welt forderte. Für die Befreiungs- und Freiheitsbewegungen in Lateinamerika und Afrika, die schließlich zur Unabhängigkeit der Kolonialländer führten, war Frantz Fanons engagierter und fordernder Aufruf eine starke Motivation.

Die von vielen Menschen heute empfundenen Ungerechtigkeiten und Machtverhältnisse im lokalen und globalen Gegeneinander und die dabei wirksam werdenden Unsicherheiten und Ängste werden benutzt, um scheinbar einfache Antworten auf komplizierte gesellschaftliche Prozesse zu formulieren. Dagegen wenden sich Politiker, Psychologen und Philosophen. Und zwar sowohl im kulturellen, als auch im interkulturellen Kontext, in nationaler und internationaler Betrachtung. Der Kameruner Politikwissenschaftler und Postkolonialismus-Theoretiker Achille Mbembe hat mit dem 2014 in deutscher Sprache erschienenem Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ insistiert, dass in den Zeiten der zunehmenden rassistischen, ethnozentrierten und nationalistischen Tendenzen der Appell „Philosophen aller Länder vereinigt euch!“ angesagt und die Fähigkeit gefragt ist, „das eigene Gesicht in dem des Fremden wiederzuerkennen, die Spuren des Fernen in der nächsten Umgebung zu würdigen, sich Unvertrautes zu eigen zu machen und mit dem zu arbeiten, was gemeinhin als Gegensatz erscheint“ („Afropolitanismus“, in: Franziska Dübgen / Stefan Skupien, Hrsg., Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20696.php).

Mbembe, der an der University oft he Witwatersrand in Johannesburg tätig ist, nimmt sich mit seinem Essay den Begriff „Feindschaft“ vor und stellt ihn auf den Prüfstand der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt. Es ist eine Abrechnung mit den gewaltsamen, zerstörerischen Kräften, wie sie sich vor allem im Faschismus, Kolonialismus und Imperialismus europäischer Prägung gezeigt haben, und wie sie heute wirksam sind, „in den Windungen der erneuerten Judenfeindlichkeit, wie ihres Gegenstücks, der Islamfeindlichkeit…, in Gestalt des Wunsches nach Apartheid und Endogamie, der unsere Zeit quält und uns in einen halluzinierenden Traum stürzt, in den einer ‚Gemeinschaft ohne Fremde‘“. Wie kann man diesem Phänomen des Zerstörerischen, der Isolation und Verbohrtheit beikommen? Der Philosoph Mbembe wählt dafür die „bildhafte Sprache, die zwischen Schwindel, Auflösung und Zerstreuung schwankt“. Es ist die Auseinandersetzung mit dem Paradoxon, dass einerseits in den Zeiten der Globalisierung die Welt schrumpft, andererseits durch Bevölkerungszunahme vor allen im Süden der Erde zunimmt.

Aufbau und Inhalt

Achille Mbembe gliedert sein Buch in vier Kapitel und schließt es mit einem Fazit ab.

  1. Im ersten Kapitel setzt er sich mit Fragen zum „Ende der Demokratie“ auseinander.
  2. Im zweiten thematisiert er die „Gesellschaft der Feindschaft“.
  3. Im dritten sucht er in „Fanons Apotheke“ nach wirksamen Arzneimitteln; und
  4. im vierten Kapitel nimmt er sich die Sorgen und Argumente der „Westler“ vor, wie „dieser nervtötende Süden“ eigentlich tickt.

Beginnen wir mit der Feststellung, die Mbembe im Schlusswort seines Buches formuliert: „Ein Mensch in der Welt zu werden, ist keine Frage der Geburt und keine Frage der Herkunft oder der Rasse“. Und er beantwortet sie mit und die er beantwortet mit einer (eigentlichen) Selbstverständlichkeit: „Es ist eine Sache des Weges, der Zirkulation und der Verwandlung“. Als Zeuge ruft er Frantz Fanon zu Hilfe: „O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!“. In der Kapitalismus- und Systemkritik wird immer wieder darauf verwiesen, dass die dort bis heute wirkenden, menschenwürdeverhindernden und gemeinschaftsschädigenden Strukturen nicht vom Himmel gefallen, auch nicht den Menschen in die Gene gelegt worden, sondern menschengemacht sind (vgl. dazu auch: 12. 6. 2016: www.sozial.de/globalisierung-war-immer!.html) und sich in ungerechter ökonomischer Entwicklung, in Ausbeutung, Unterdrückung, Naturzerstörungen, Klimaveränderungen, Hungersnöten und Migrationsbewegungen zeigen. In zahlreichen historischen und aktuellen Beispielen verweist er auf die „Schattenseiten der Demokratie“, die sich vor allem in der Ungleichheit der Bürger darstellt und als „demokratischer Sklavenstaat“ bezeichnet werden kann. Denn solange unter den Mächtigen der Erde ein „Geist der Gier und des Egozentrismus“ herrscht, bleibt die Herausforderung relevant: „Ist eine andere Weltpolitik möglich, die nicht notwendig auf Unterschied oder Andersheit basiert, sondern auf einer sicheren Idee des Mitmenschlichen und Gemeinsamen?“.

Die Frage nach einer „allgemeinen Menschheitsdemokratie“ bleibt bestehen, solange der Geist der Feindschaft in der Welt ist (siehe dazu auch: Roland Bernecker / Ronald Grätz, Hrsg., Global Citizenship – Perspektiven einer Weltgemeinschaft, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23073.php). Es ist der „Trennungswahn“, der Mächte, Ideologien, Regierungen und Gesellschaften nach zerstörerischen und menschenfeindlichen Lösungen und Sehnsüchten nach „Einheit“ greifen ließ, wie etwa dem Apartheidregime in Südafrika, dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden und anderen Verbrechen an der Menschlichkeit. „Dieser Wahn findet sich überall dort, wo gesellschaftliche Kräfte das Politische vornehmlich als tödlichen (existentiellen) Kampf gegen unbeugsame Feinde verstehen“. Die Mittel dazu liefern die menschenfeindlichen Instrumentarien und Methoden, wie Egoismus und Hass.

Bei der Frage, wie Feindschaft in liberalen Demokratien wirkt und gewissermaßen als Kitt für Homogenes eingesetzt wird, zieht Mbembe Frantz Fanon zu Rat. Er setzt sich auseinander mit den Spannungsverhältnissen zwischen dem „Zerstörungsprinzip“ auf der einen, und dem „Lebensprinzip“ auf der anderen Seite. Es sind Fanons Eindrücke, die er im europäischen Ersten Weltkrieg sammelte und in einer beinahe resignativen Auffassung münden: „Die primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden, das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich“. Es sind rassistische Gedanken, Einstellungen und Parolen, die Verständigung und Empathie verhindern: „Wenn Kommunikation, die Herstellung von Gemeinschaft und das Knüpfen von Verbindungen zu seinen Mitmenschen Mittel sind, den Kontakt zur Welt zu behalten und an der Welt teilzuhaben, so sind Erinnern und in die Zukunft Vorauszudenken gleichfalls unerlässlich für eine Rückkehr ins Leben“. Fanons therapeutische Praxis kann als Methoden- und Medikamentenkasten dienen.

Die inter- und transkulturelle Suche nach der Menschlichkeit wird in den verschiedenen Kulturen, Denk- und Handlungstraditionen unterschiedlich vorgenommen. Während in den westlichen, industrialisierten Gesellschaften der Humanismus als objektbezogene Zielsetzung eines Humanums verstanden wird, verweist Mbembe auf eine philosophische und zukunftsorientierte Denkrichtung, die seit Anfang der 1990er Jahre als „Afrofuturismus“ eine vergangenheitsbewusste, gegenwartsbezogene und zukunftsgerichtete, universale Alternative aufzeigt. Und zwar notwendigerweise in der Spannweite von Konfrontation und Integration. Beim Widerstand gegen Kapitalismus und Neoliberalismus ist nicht so sehr angesagt (und wohl auch nicht möglich), diese Herrschaftsformen abzuschaffen. Vielmehr geht es darum, sie gemeinnützig zu verändern und das Prinzip des Teilens und der Almende einzufügen.

Fazit

Die in der Chaostheorie entstandene Erkenntnis, dass beim Streben nach Immer-mehr-immer-höher-immer-schneller letztendlich alle auf der Strecke bleiben, muss Menschen beunruhigen. Wäre es deshalb nicht vernünftig und klug zugleich, aus der ungerechten, geteilten Welt eine „All-Welt“ zu bauen, die von anderen auch als EINE WELT bezeichnet und angestrebt wird? Denn gelänge es, die Lebenszeit der Menschen en passant, das Individuum als Passanten und den Lebensort als Passage zu begreifen, wären nicht Sesshaftigkeit, Besitztum und Gier angesagt, sondern der Perspektivenwechsel, der im Blick und als Ziel eine globale Ethik hat, wie sie bereits in den antiken Philosophien und heute in der allgemeingültigen und nicht relativierbaren Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt: „Im Zeitalter der Erde (die wir heute als Anthropozän einordnen), werden wir eine Stimme brauchen, die unablässig bohrt, durchbohrt und gräbt, die es versteht, zum Geschoss zu werden, gleichsam eine absolute Fülle, ein Wille, der die Realität unermüdlich anbohrt“.

Achille Mbembe steuert mit seinem Essay einen Baustein zum individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Bauvorhaben bei der Projektion und Mitgestaltung einer „All-Welt“ bei!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1707 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245