Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.12.2017
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 480 Seiten. ISBN 978-3-518-58706-5. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.
Thema
Die (soziale) Logik des Allgemeinen verliert ihre Vorherrschaft an die (soziale) Logik des Besonderen. Singularität wird im Fremdwörterlexikon (Wahrig) ausgelegt als „eine unserer normalen Anschauung widersprechende Erscheinungsform der Materie, die mit herkömmlichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr beschreibbar ist“. Es ist das Besondere, Einzigartige, das abhebt und unterscheidet vom Allgemeinen, Gewohnten, Alltäglichen, Vernünftigen und Logischen. In der „globalen Ethik“, der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ kommt zum Ausdruck, dass das Allgemeine, als „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Das Allgemeine stellt also in einzigartiger, unumstößlicher und allgemein gültigen Weise das Besondere dar – und nicht umgekehrt das Spezielle das Allgemeine. Hier schon setzt das Dilemma der Wertung ein: Das Individuum ist bestrebt, in seiner Identität das Einzigartige hervorzuheben: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre“.
Mit dieser aktuellen Bestandsaufnahme meldet sich der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lehrende Kultursoziologe Andreas Reckwitz mit seiner Studie über die „Gesellschaft der Singularitäten“ zu Wort. Er spricht von einer „Explosion des Besonderen“, wenn er aufzeigt, auf welchen Gebieten und bei welchen Situationen die Menschen von heute die traditionellen, im anthropologischen, philosophischen Denken überlieferten Auffassungen und Gewissheiten, die zur Identitätsbildung herangezogen wurden, austauschen gegen Einstellungen und Haltungen, die vom „spätmodernen Subjekt“ goutiert werden: „An alles in der Lebensführung legt man den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet“. Der Kultursoziologe nimmt nun diese Entwicklung nicht zum Anlass, bedauernd dem Verloren gegangenen nachzujammern, noch in den Chor der Fortschrittsoptimisten einzustimmen; vielmehr will er einen soziologischen Diskurs der Moderne führen, in dem er in einer differenzierten Betrachtung deutlich macht, dass „Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und Affektintensivierung ( ) die Moderne … von Anfang an geprägt (haben)“. Er unternimmt eine kritische Analyse und eine Sensibilisierung „für die Konfigurationen des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit zu entwickeln dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen, die den Teilnehmern möglicherweise nur schemenhaft bewusst sind“. Reckwitz unternimmt mit seinem Buch nicht mehr und nicht weniger als einen Perspektivenwechsel: „Wir leben nicht mehr im industriellen, sondern im kulturellen Kapitalismus“. Er knüpft damit an die Vision an, dass die Kreativität einen Wert des Menschseins darstellt, dem es gilt, im individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Dasein der Menschen eine stärkere Bedeutung zuzumessen (Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14393.php).
Aufbau und Inhalt
Die Studie über die „Gesellschaft der Singularitäten“ wird, neben der Einleitung mit der provozierenden Einschätzung von der „Explosion des Besonderen“ und dem Schlusswort, indem der Autor nach der „Krise im Allgemeinen?“ stellt, in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten reflektiert Reckwitz „Die Moderne zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen“, im zweiten geht es um „Die postindustrialisierte Ökonomie der Singularitäten“, im dritten setzt sich der Autor mit der „Singularisierung der Arbeitswelt“auseinander, im fünften geht es um „Die singularisierte Lebensführung: Lebensstile, Klassen, Subjektformen“, und im sechsten und letzten Kapitel analysiert er „Differenzierter Liberalismus und Kulturessenzialismus: Der Wandel des Politischen“.
Die lebensweltliche Konkurrenz zwischen einer sozialen Logik des Allgemeinen und einer sozialen Logik des Besonderen fordert Analysten heraus. Mit dem „doing generality der Moderne“ wird deutlich, dass die Denkwürdigkeiten und Tätigkeiten des modernen Menschen um „Objekte und Dinge, menschliche Subjekte, Kollektive, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten“ kreisen und sich existentiell und kulturell manifestieren und polarisieren.
Bei der Frage, wie sich der Strukturwandel in den Industriegesellschaften „von einer Ökonomie der standardisierten Massengüter zu einer Ökonomie der Singularitäten“, und zu einer „Kulturalisierung der Ökonomie“ vollzogen hat, werden Phänomene erkennbar, die bisher im analytischen, soziologischen Blick deshalb nicht deutlich werden konnten, weil die den funktionalen Gütern und Werten zugeschriebenen Zeitstrukturen und die damit einhergehende Festlegung des „Gebrauchswerts“ selbstverständlich war. Die temporale Struktur der kulturell singulären Güter jedoch wird bestimmt von der Doppelstruktur „eine (r) extrem kurzfristige(n) Orientierung am Erleben im Moment und eine (r) extrem langfristige(n) Orientierung an einem bleibenden kulturellen Wert“. Das „Singularitätskapitel“ erhält somit nicht nur einen individuellen und gesellschaftlich verwertbaren Nutzen, sondern auch einen identitätsstiftenden Mehrwert.
Es verwundert nicht, dass diese gravierenden Umwälzungen auch Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Tätigkeitsprozesse im Arbeitsleben haben. Begriffe wie „materielle“ und „immaterielle“ Arbeit bestimmen den theoretischen und praktischen Diskurs. Bei der „Singularisierung des Arbeitens“ kommt das Moment der Kreativität in besonderer Weise zur Geltung. „Die Ökonomie der Singularitäten verlangt massiv die Einzigartigkeit der Arbeitspersönlichkeiten“.
Die Technisierung (und Öffentlichmachung) des Sozialen dürfte als einer der bedeutsamsten und wirksamsten Erscheinungsformen der Moderne sein. Die „digitale Kulturmaschine“ durchdringt das gesamte Dasein der Menschen, und zwar nicht mehr unterscheidbar und differenziert nach Unterschieden, wie sie sich sonst beim Kulturmenschen zeigen, also weder generationell noch zeitlich oder geschlechterspezifisch. Sie ist „Produktion, Zirkulation und Rezeption von narrativen, ästhetischen, gestalerischen, ludischen… Formaten der Kultur“. Es sind „kulturelle (und affektive) Singularisierungsprozesse, die sich aus der Interaktion zwischen Subjekten und Maschinen ergeben… (und) maschinelle Singularisierungsprozesse, die rein auf der Ebene der Maschinen-Maschinen-Interaktion stattfinden“. Es sind Findungs-,Eroberungs- und Bedrohungsszenarien, wie sie z.B. als „Big Data“ wirksam sind.
Das spätmoderne Selbst ist eingebunden, eingefangen und eingewandert in die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten, und zwar selbst- wie Macht gemacht: „Die Singularisierung und Valorisierung der Alltagswelt ist ein Projekt der Authentifizierung des Lebens“, und zwar nicht mehr selbstgesteuert, sondern kuratiert. Ein singularisierter Lebensstil zeigt sich in der Art der Nahrungsaufnahme, in den Orten des Wohnens, des Reisens, der Körperwahrnehmung und Bewegung, der Bildung und Erziehung. Selbstentfaltung wird zum Event, zur Klassenzugehörigkeit und Abgrenzung der Mittelklassenzuschreibung zur Unterklasse.
Die zahlreichen positiven und negativen Phänomene und Entwicklungen bei der Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen sind in ihren individuellen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen und Wirkungen ohne Zweifel als politisch einzuordnen: „Die Politik der Spätmoderne unterscheidet sich grundsätzlich von jener der organisierten Moderne“, was bedeutet, eine „Politik des Allgemeinen (wird) mehr und mehr von einer Politik des Besonderen abgelöst“. Kulturessenzialistische und kulturkommunitaristische Formen steuern die (gewünschte) Identität; die „ethnische Gemeinschaft“ dient als Bollwerk gegen andere, begründet sowohl das Bewusstsein von „diversity“ und „Vielfalt in der Einheit“, als auch Abgrenzung und Ausweisung des Fremden. Die Treibriemen für diese Entwicklungen sind kulturnationalistische und rassistische, als auch religiös, weltanschaulich und ideologisch determinierte Fundamentalismen, Fanatismen und Populismen.
Fazit
„Die soziale Logik der Singularitäten erlangt eine strukturbildende Kraft in der Ökonomie, in den Technologien und in der Arbeitswelt, in den Lebensstilen und den Alltagskulturen sowie in der Politik, während der in der klassischen Moderne dominanten sozialen Logik des Allgemeinen nurmehr die Rolle einer ermöglichenden Infrastruktur zukommt“. Andreas Reckwitz begibt sich mit seiner Analyse über den Bruch von der industriellen Moderne zur Gesellschaft der Singularitäten nicht auf eine tabula rasa. Sein Paradigmenwechsel ist darauf ausgerichtet, soziologisch das „Projekt der Moderne“ zu skizzieren. Er benennt dazu drei sichtbare und erkennbare Entwicklungen: Zum einen hat die Gesellschaft der Singularitäten die „großen Erzählungen“ vom gesellschaftlichen und politischen Fortschritt durch die „kleinen Erzählungen“ des individuellen Erfolgs und der Selbstverwirklichung abgelöst; zum zweiten steht in der spätmodernen Gesellschaft eine gegenwartsbezogene, gute und gelingende Lebenserwartung im Vordergrund, während Zukunftsperspektiven und Zukunftsbearbeitung einen geringeren Stellenwert einnehmen; und drittens zeigen sich Unsicherheiten darin, wie der gesellschaftliche Fortschritt überhaupt benannt und vergewissert werden kann. So identifiziert der Autor schließlich drei Krisenelemente der Spätmoderne, die individuell und gesellschaftlich, soziologisch und politisch zu einer besonderen Aufmerksamkeit herausfordern: „Krise der Anerkennung“ – „Krise der Selbstverwirklichung“ – „Krise des Politischen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.12.2017 zu:
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
ISBN 978-3-518-58706-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23620.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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