Edzard Reuter: Stunde der Heuchler
Rezensiert von Arnold Schmieder, 20.12.2017

Edzard Reuter: Stunde der Heuchler. Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten. Nomen (Frankfurt) 2017. 5. Auflage. 208 Seiten. ISBN 978-3-939816-48-5. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Thema
„Gewiss, dieses Buch ist eine Polemik“ (S. 23), wobei hier nur der ältere Gebrauch des Wortes gemeint sein kann, nämlich im Sinne eines gelehrten Streits. Von der „Seuche der Heuchelei“ handelt Edzard Reuter und von der Gier, wobei zunehmend drohe, dass „unter dem Deckmantel ausgeklügelter Heuchelei am Ende ungehemmte Gier alle anderen menschlichen Eigenschaften überwältigt.“ (S. 1) Der Autor argumentiert, dass sich die ehedem und historisch nur kurz „tatsächlich gelebten bürgerlichen Ideale im Laufe der Jahrzehnte in hohl gewordene Konventionen verwandelt haben“; gegen sich pandemisch verbreitende Heuchelei und Habgier, gegen Lug und Betrug, gegen den Primat persönlicher Vorteilsnahmen, den absoluten Vorrang des Materiellen, des Geldes und insbesondere des ‚schnellen‘, müssten „sich Verstand und nüchterne Vernunft mit Anstand und Moral paaren.“ (S. 204) Und weil wir im „Grunde unseres Herzens“ wüssten, dass der allseits herrschende, „hemmungslose und ungebremste Drang, Anstand, Vernunft und Mitgefühl zu Lasten der vermeintlich eigenen Interessen hintanzustellen, nur in einer unheilvollen Sackgasse enden kann“ (S. 21), bleibt Reuter trotz aller wie auch immer verbrämten Botschaften, „Eigensucht und Rücksichtlosigkeit“ lieferten „allemal die besseren Rezepte für eine gesegnete Zukunft“ (S. 15), als „(g)eborener Optimist (…) davon überzeugt, dass dies nicht so ist – oder zumindest nicht so sein muss. Es liegt allein in unserer Hand“, ob die „Stunde der Heuchler unwiderruflich über uns hereingebrochen“ ist. (S. 150) Der Autor ist zuversichtlich, dass es niemandem gelingen wird, „auf die Dauer unser Gewissen zu beschwichtigen oder sogar ganz zu unterdrücken. Unbestechlich zeige es uns an, wenn wir gegen ewige Werte verstoßen, die allen Menschen auf dieser Erde gemeinsam sind.“ Das gelte also weltweit. Auf die „Leuchtkraft dieser ethischen Kriterien“ setzt er (S. 10 f.), menschheitsgeschichtlich ein Halteseil selbst am Rande des Abgrunds.
Aufbau und Inhalt
In acht Kapiteln polemisiert Reuter nicht nur gegen die Formen und auch Inhalte wirtschaftlichen Handelns, sondern er zeigt zugleich auf, wie dessen ‚Logik‘ sich zum einen entwickelt hat und zum anderen in gang und gäbe Denkinhalte und Verhaltensweisen, in Bewusstseinsformen verallgemeinert hat, ohne expressis verbis auf ‚Ideologie‘ oder den neueren Begriff der ‚neoliberalen Subjektivierungsform‘ einzugehen, der er allerdings gleich eingangs in den ersten Kapiteln den Spiegel vorhält. „Verstand und Weisheit“ würden verdrängt durch „flatterhaftes Umherirren im Tagesgeschehen, durch blinden Verlass auf vorgebliche Allheilmittel, durch das Bestreben, koste es was es wolle zu den Siegern im täglichen Wettbewerb zu zählen“, eine „Seuche“, die Empathie für „fremdes Leiden“ mehr und mehr verkümmern ließe. (S. 11) Heuchelei sei dabei jenes schleichende Gift, das auf die Dauer „den Tod jeglicher Kultur nach sich ziehen muss.“ (S. 15) Überall, nicht nur in der Wirtschaft, gehörten „Verzicht auf Ehrlichkeit und Vortäuschung falscher Tatsachen zum täglichen Umgang“ (S. 17), insoweit befänden wir uns mit der im Zeichen der Globalisierung historisch bisher nicht gekannten Wirtschafts- und Finanzkrise auch in einer „breiten Kulturkrise“, in deren Folge „unter dem Deckmantel ausgeklügelter Heuchelei am Ende ungehemmte Gier alle anderen menschlichen Eigenschaften überwältigt.“ (S. 19) Und immer erneut, nach Abflauen einer ökonomischen Krise, setze der Prozess ein, „die Menschheit im Interesse des eigenen Profits erneut zu verdummen.“ (S. 22)
Nach dieser Zeitdiagnose geht der Autor in medias res, wirft einen kenntnisreichen und genauen Blick auf Unternehmen und Banken und kreist kritisch seine Kapitelüberschrift ein: „‚Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm‘“ – der Schritt in den Teufelskreis der „Gier nach jenem schnellen Geld“, die „offenbar zu einer Geißel geworden“ ist, „der sich niemand mehr entziehen kann.“ (S. 52) Und soweit sich Politiker vorwagen, solch wildgewordenem (vor allem) Finanzgebaren Einhalt zu gebieten, laufen sie ins Leere; denn „längst erfrechen sich schon wieder manche der dreistforschen Chefs an der New Yorker Wall Street, die verantwortlichen Politiker öffentlich als Feinde der wirtschaftlichen Freiheit zu beschimpfen“. (S. 62) Ebenso desaströs sei das Dogma vom „Shareholder-Value“ im Rang einer „unumstößliche(n) Wahrheit“, „dass die Leitungsgremien allein und ausschließlich im Interesse der Aktionäre als der angeblich alleinigen Eigentümer zu handeln hätte.“ (S. 75) Hier wie an anderen Stellen kommt Reuter auf Friedman und Hayek und die fatalen Folgen der Lehren insoweit zu sprechen, als das „Patentrezept“, „radikaler Abbau aller Eingriffe des Staates in das wirtschaftliche Geschehen“, einer „Mogelpackung“ auch unter dem verheißungsvollen Etikett „Neo-Liberalismus“ und als „Allheilmittel“ unter dem Stichwort „freie Marktwirtschaft“ angedient. (S. 81 f.) Dass die zukünftige Generation, welche die weitere wirtschaftliche Entwicklung in die Hand nehmen wird, eben nicht so ausgebildet wird, dass „Gewissen und Anstand“ ihnen als Eckpfeiler ihres Handelns zuwachsen, sondern sie auf „Eigennutz“ und entsprechende „Glaubenssätze“ geeicht wird, die als allein „seligmachend“ ausgegeben werden, und kaum noch andere Interessen „außer eben für Geld“ entwickelt werden (S. 93 ff.), beklagt der Autor zudem in diesem Zusammenhang.
Gewiss müssten in einer „freiheitlich verfassten Finanz- und Wirtschaftsordnung wie einer Marktwirtschaft“ die Eigentümer von Kapital über seine Verwendung bestimmen dürfen; doch befände sich dieses Eigentum im Besitz unzähliger Aktionäre, bräuchte es der „sorgfältigen Abwägung in qualifizierten und verantwortungsbewussten Gremien (…), die dafür in sinnvoller Weise haften.“ (S. 108) Doch dazu bedürfe es – nicht nur in den Chefetagen – eines menschlichen Miteinanders, in dem „Aufrichtigkeit, Mäßigung und Demut“ anleitend sind. (S. 110) Hier nun nimmt Reuter (Real-)Politik und schulische wie universitäre Ausbildung ins Gebet, wobei er letzterer testiert, sie gliche wegen überbordender Reglementierung seit dem Herbst 2009 „nur noch einem Scherbenhaufen.“ Auch hätten die „Spardogmatiker“ durch den „verstärkten Druck der Ökonomisierung“ dafür gesorgt, dass die so wichtige „gegenseitige Befruchtung von naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Denken“ völlig außen vor bleibe. Verdienstvoller wäre es, „anstelle von heuchlerisch angepriesenen Zukunftschancen ein wenig mehr von dem anzubieten, was früher einmal als Allgemeinbildung bezeichnet wurde.“ (S. 132 ff.) „Kultur“ degeneriere „zunehmend zu einer Ware“ (S. 139), was der Autor auch den Medien anlastet, die ihren „Bildungsauftrag“ kaum noch zur Kenntnis nähmen und – unter dem Druck auch von Werbeeinnahmen – zu einer „Eventindustrie“ verkommen seien. (S. 142) Mit gleichem Zungenschlag schurigelt er auch den Kunstbetrieb und wirft gar Damien Hirst vor, er sei ein „Rosstäuscher“, der es wie andere seines Gewerbes meisterhalft verstehe, „den gierigen Anlegern schlankweg das Geld aus der Tasche zu ziehen.“ (S. 148)
„Ich bin nicht bürgerlich“, bekennt der Autor, eher „ein ‚Citoyen‘ im guten alten Sinne des Wortes“ (S. 157 f.); „Bürgerlichkeit“ sei ein „Tarnwort“ geworden und man müsse nachfragen, „ob sich dahinter womöglich schiere Eigeninteressen verbergen.“ (S. 152) Reuter zeichnet die Geschichte der Bourgeoisie zur Zeit der Französischen Revolution und in der Folge nach, ihrer Wandlung zu Citoyens, kommt auf Kleinbürger und Proletarier zu sprechen, geht auf die industrielle Revolution und die Gründerzeit ein, stellt das Aufkommen großer Aktiengesellschaften in den Zusammenhang mit technischem Fortschritt und lokalisiert darin ein „gänzlich neues Betätigungsfeld (…), das sich wunderbar dazu eignete, es hinter der Biedermannsmiene des ‚ehrbaren Bürgers‘ zu verstecken: Geld raffen – zocken – schnell reich werden.“ (S. 166) Der Autor blickt zurück in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, geht dabei auf ökonomische, politische und soziale Umstände ein, die Schelsky von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ sprechen ließen, und kommt zu dem Fazit, die heutige Rede von der „sogenannten Mitte“, gleichgesetzt mit „Bürgerlichkeit“, wäre ein „Taschenspielertrick“, auch weil die „Zeichen der Zeit (…) schon bald nicht mehr auf Gleichheit, sondern auf Abgrenzung“ gedeutet hätten. (S. 178 f.) „Utopien, die einer Gleichheit aller Menschen nachhängen“, seien, anstatt sie versuchsweise zu realisieren, ad acta gelegt worden und mit ihnen wohlanständige Wertorientierungen; in Wahrheit gehe es „nämlich um nichts als den bedingungslosen Vorrang der privaten Interessen vor jeglicher Verpflichtung auf das gemeine Wohl, um nichts anderes also als um den Gebrauch der Ellenbogen zur Durchsetzung des eigenen Vorteils“, worin sich das „ungebremste weitere Vordringen schierer Bereicherungsgier als zentraler Antriebskraft für die menschliche Gesellschaft“ dokumentiere. (S. 183 f.) Dies sei im Weltmaßstab zu beobachten; die Beantwortung seiner in der Kapitelüberschrift gestellten Frage um „Kampf der Kulturen – oder ihre gemeinsame Krise?“ (S. 187) schlägt zur Seite einer rasanten krisenhaften Entwicklung aus.
Mit dem Soziologen Engler sieht der Autor die „Aufrichtigkeit im Kapitalismus“ zu einer „Lüge als Prinzip“ (Engler) verkommen. Bürgerliche Ideale, wie sie wenn auch nur für eine kurze Zeitspanne gelebt wurden, wären zu „hohl gewordene(n) Konventionen“ (s.o.) mutiert, wogegen es allerdings „Therapien und Rezepte“ gäbe: „Verstand und nüchterne Vernunft“ müssten sich mit „Anstand und Moral paaren.“ (S. 202 ff.) Und dann gehe es um weit mehr als um die „Eindämmung der weltweiten Finanzmärkte“, es gehe um Umweltschutz, um „Beschränkung der Rüstungsmaschinerie“, um Menschenrechte, um Schutz von Minderheiten – „und nicht zuletzt die Eindämmung des marktwirtschaftlichen kapitalistischen Systems durch weltweit wirksame sozialpolitische Fesseln“ (S. 205), wohl auch darum, weil (wie gleich eingangs bemerkt) die „Freiheit des Individuums (…) genauso wenig eine Erfindung des Teufels (ist) wie die Freiheit des Marktes.“ (S. 20) Es bräuchte nämlich „freie Menschen, die den Mut haben, sich nicht zu ducken, sondern Haltung zu zeigen und den Kopf für das eigene Denken und Handeln hinzuhalten.“ (S. 205 f.) Dass wir solchen Mut gleichsam als Antrieb in uns tragen, entnimmt Reuter der Lehre Kants und rät dabei Poppers (heuristische) Methode des „trial and error“ an, also umgangssprachlich ein Ausprobieren, bis eine gewünschte Lösung eintritt. Was als Appell bleibt: „Es liegt an uns allen, an jedem Einzelnen, dafür zu sorgen, dass die Stunde der Heuchler zu Ende geht.“ (S. 207)
Diskussion
Edzard Reuter, langjähriges SPD-Mitglied, war zeit seines Lebens ein Mann, der sich nicht scheute, anzuecken und sich auch bei denen unbeliebt zu machen, die allzu sehr vom Pfad jener Tugenden, die er energisch einfordert, abwichen und die sich mit „Vorliebe (…) unter der Maske des Bürgerlichen“ (S. 22) versteckten (und verstecken). Allerorten wird auf sein hohes kalendarisches Alter hingewiesen; ‚altersmilde‘ ist er nicht, sicher aber „gelassen“, wie er sich selbst testiert, und „neugierig“. (S. 7 f.) Der frühere Vorstandsvorsitzende der Daimler-Benz AG kommt zur Sache und er plaudert eben nicht nur aus dem Nähkästchen, weist aber darauf hin, dass er auf Aktionärsversammlungen und gar von Professoren als „‚größter Kapitalvernichter aller Zeiten‘“ bezeichnet wurde, weil es ihm zuvörderst nicht um den Wert einer Aktie ging, sondern um „Investitionen in die eigene Forschung oder die Entwicklung neuer Produkte“, was sich erst längerfristig auszahlt. Das neue „Grundgesetz des Wirtschaftens“, ein Festhalten an der sog. „Kernkompetenz“, blockiere den Blick auf den „zukünftigen Bestand des Unternehmens“ und bediene lediglich kurzfristige Interessen der Aktionäre. (S. 50 f.) Das dem so ist, kann man nicht von der Hand weisen. Dass der heutige Manager sich den vorausschauend unternehmerischen Blick des vormaligen Kapitalisten zu eigen machen wird, wird dem Anschein nach nur durch aktuellen internationalen Konkurrenzdruck provoziert und wohl auch durch Politik flankiert, auf die der Autor setzt: „Ob wir wollen oder nicht, wir müssen dafür sorgen, dass der Primat der Politik seinen unverzichtbaren Vorrang behält.“ (S. 208)
Bekommt oder behält, ist hier als Frage einzuspeisen; und wenn schon der Ruf nach Politik laut wird, dann steht die weitere Frage aus, wie eine solche Politik mit welcher basalen Orientierung und mit welcher Perspektive auszusehen hat. Wenn es „heutzutage schon selbstverständlich geworden ist, Glaubwürdigkeit mit billiger Gaukelei, mit dem Vortäuschen angeblicher Werte zu verwechseln“, wenn es an „glaubhafte(n) Vorbildern“ mangelt, stehe demgegenüber an, uns auf unsere „grundlegenden Wertmaßstäbe zu besinnen (…), auf Anstand, Augenmaß und Rücksichtnahme“ (S. 12 f.), wobei dies alles „auf der Grundlage von Verstand und von Moral“ zu entwickeln und in die Tat umzusetzen sei. Dabei bezieht sich Reuter auf Kants Begriff„der gute Wille“ – und irrt, wenn er interpretiert, der Philosoph habe gemeint, „dass wir Menschen nicht unseren Verstand benötigen, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“ (S. 207) – Und da für Edzard Reuter „Neugier“, die er für sich reklamiert, auch beinhaltet, „Neues zu lernen“ und „Dinge in sich aufzunehmen“, die von dem abweichen, „was man zuvor für unerschütterliche Wahrheit gehalten hat“ (S. 7), an dieser Stelle ein Einwand gegen seine Kant-Rezeption, der doch von Reichweite gerade im Hinblick auf ‚Politik‘ ist – und darum nicht nur ein philosophisches Glasperlenspiel:
Nach Kant ist der „gute Wille“ alleiniges Kriterium für Moralität. Die empirische Handlung wird nicht moralisch bewertet. Es kommt allein auf den „guten Willen“ an. Es gilt: „Der gute Wille ist allein durch das Wollen gut.“ Dabei hat man in der Bestimmung seines Willens der „Vernunft“ und seiner „Pflicht“ zu folgen. Und Kant bestimmt in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, „der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.“ Und der Philosoph geht (denkt) weiter und lehrt, „das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist. Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ – Es geht also bei Kant um Vernunft als Quelle, aus der sich der Wille als guter zu speisen hat. Nicht umsonst ist sie heute stark von Rationalität angekränkelt, die Kant mit seinem Vernunftbegriff nicht im Sinne hatte. Wir müssten – im Sinne von Kants Imperativ – qua Vernunft gleichsam ‚zu Verstande kommen‘ und dann im Sinne des dadurch bestimmten ‚guten Willens‘ unser Handeln ausrichten, ein veränderndes (was mit Marx´ 11. Feuerbachthese als praktisches Desiderat formuliert wurde und bei Kant so nicht gedacht war). Dagegen bleiben die Forderungen Reuters nach Rückbesinnung auf inzwischen aus seiner Sicht korrumpierte Wertorientierungen, auf bürgerliche Tugenden, wie sie in den Idealen der Aufklärung gründeten, nur appellatorischen Charakters, dabei sympathisch widerborstig – und letztendlich hilflos, da wir nicht, wie schon Kant bekundete, in einem „aufgeklärten Zeitalter“ leben, das sich schon gar nicht qua philosophischem Gedanken und auch nicht über ein darin fälschlich begründetes Ansinnen auf Wiederbelebung altvorderer Werte einstellt, eines moralischen Zeigefingers, der auch nicht eindeutig in Richtung einer Politik weist, die als emanzipatorische zu bezeichnen wäre. Gewissen als Motor ist da nicht genug, ein quasi metaphysisches und vorgeblich im kantschen Sinne eingegebenes Wissen um Gut und Böse, die dem Menschen „angeborene Verpflichtung zu moralischem Handeln“ (S. 206), keine verlässliche Basis.
Evolutionspsychologen und -soziologen würden vermutlich ‚reziproken Altruismus‘ für ethisches Handeln und Moral ins Gespräch bringen, wobei Wuketits meint, wir hätten zu viel Moral und meist die falsche und für ihn steht außer Frage, „Moral ist ein Machtfaktor oder wird häufig in den Dienst von Macht gestellt.“ Wenn Reuter meint, „Habgier – und zwar im weitesten Sinne des Wortes – (hat) es schon immer gegeben“ (S. 19) und sie wie „Gier im Allgemeinen“ unter „Verlockungen“ rubriziert und hinzufügt, das „Bestreben, Macht über andere Menschen auszuüben zählt genauso dazu wie sexueller Drang“ (S. 185), dann mag man an Freuds Sublimationstheorie erinnert sein und daran, dass es in allen uns „bekannten Kulturen“ stets „Wertvorstellungen gegeben (hat), die der Ausuferung von selbstsüchtiger Gier Schranken gesetzt haben“ (S. 20), wovon Botschaften der Weltreligionen künden. Kulturelle Errungenschaften blocken allerdings nicht nur und nicht zwingend scheint´s genetische Prädispositionen ab. Zugleich ist ja auch aus der Menschheitsgeschichte abzulesen, dass und wie solche „Wertvorstellungen“ in den Dienst von Herrschaftsausübung gestellt wurden (und werden) und als Moralen mit Macht durchgesetzt und für deren Erhalt instrumentalisiert wurden – was mit Widersprüchen behaftet blieb (und bleibt) und was je historisch bis in subjektive Ausstattungen zu analysieren ist und nicht vorschnell ursächlich in einem ‚Wesen des Menschen‘ unter etwa dem Begriff des reziproken Altruismus lokalisiert werden kann.
Auch das Gewissen ist keine überzeitliche, statische Größe. Wurde es doch, worauf der Historiker Kittsteiner bereits aufmerksam machte, „als Verlängerung der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit in die Untertanen hinein gedacht; der pastorale Diskurs begreift sich als Bestandteil der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung.“ Und sollte Aufklärung „mißlingen“, warum der fortlaufende Prozess der Zivilisation „alle Stillegungs- und Ordnungsphantasien durchbrochen hat“, was „heute die primäre Quelle von Angst“ sei, schütze „nichts davor, daß sich wiederum oberste Normen für das Gewissen etablieren, die in die mentalen Bahnen der Intoleranz zurücklenken.“ Selbst Gewissens-Inhalte haben nach Kittsteiner keine überhistorische Qualität, was theologisch bezweifelt werden mag. Da ist dann, was Funktion und Genese des Gewissens betrifft, auch Freuds psychoanalytische Sicht zu erwägen, nach der „Gewissen eine Funktion“ ist und eine „zensorische Tätigkeit ausübt“ (wobei es bei ihm um den „uns von außen auferlegte[n]“ Triebverzicht geht). Diese Freudsche ‚Außen‘, bei ihm in Klammern gesetzt, darf ohne Not auch in ‚Gesellschaft‘ analog zu seinem Begriff des „Über-Ich“ übertragen werden. Wenn Freud auch anmerkt, das „Gewissen“ sei „in Alkohol löslich“, warum nicht auch in Geld und Profit? Was persiflierend klingt, signalisiert einen normativen Fokus mit entsprechenden Wertorientierungen, solchen, die heutiges Denken und Handeln anleiten: Setzen sich doch nach Simmels „Philosophie des Geldes“ Kapitalismus, in dem das Geld vom Mittel zum Selbstzweck geworden ist, und Geld an die Stelle, die vorher die Religion innehatte. Das affiziert moralische Bestände.
Reuter beklagt zu Recht, dass die mentale Ausstattung der ökonomischen Drahtzieher und Weltenlenker ebenso (zu) vielen PolitikerInnen eignet und Intoleranzen gegenüber wie systematische Abweichungen von normativen Orientierungen nur noch bei argumentativem Bedarf plakativ eingespielt werden, was ins gang und gäbe Alltagsbewusstsein eingesickert sei und Verhalten anleite – was als moralischer Verfall, als Amoral, aber auch als Durchsetzung einer neuen moralischen Orientierung zu sehen ist. Gegen solchen Wandel moralischer Orientierungen und gutmenschlicher Einstellungen wurde (und wird) in der Belletristik schon lange und zumal in der bürgerlichen Gesellschaft opponiert (Reuter selbst ist das bekannt, treffend zitiert er Sándor Márai). Melville bspw. charakterisiert in seiner Erzählung „Benito Cereno“ (1855) einen Kapitän, der „ein von Natur aus gutartiger, allem Mißtrauen abholder Mensch“ ist und geradezu außerstande, sich vom Verhalten anderer „persönlich beunruhigen zu lassen, was ja immer darauf hinausläuft, daß man bei seinen Mitmenschen Bosheit und Tücke voraussetzt.“ Und voller Skepsis fährt der Autor fort: „Denkt man daran, wessen die Menschheit alles fähig ist, so muß man sich freilich fragen, ob ein solcher Wesenszug, gepaart mit Herzensgüte, überhaupt noch vereinbar ist auch nur mit der gewöhnlichsten Behendigkeit und Schärfe des Verstandes“. Dieser Melville war es auch, der stark an dem zweifelte, was die Amerikaner unter Fortschritt verstanden, den er im Zeitalter der Aktiengesellschaften und Clubs nicht sehen und als solchen nicht anerkennen mochte, wo er auf Verstellung, Lug und Betrug und eben „Bosheit und Tücke“ mit scharfen und bitteren Zynismen reagierte. Viel später (1963) sollte Hannah Arendt in „On revolution“ die Wende der amerikanischen Politik als ein Umschlagen vom Problem der Freiheit in das Problem des Wohlstands interpretieren – und somit die literarische Klage über korrumpierte Subjektivität aus philosophischer Sicht in die Nähe polit-ökonomischer Veränderung rücken.
Solcher hier nur anzumerkenden Reminiszenzen, gleichsam mentaler und kultureller Veränderungen im Zuge eines voranschreitenden Kapitalismus, gibt es weit mehr; ersichtlich verzahnen sie sich als ein Zusammen von ‚äußeren und inneren Veränderungen‘ bei Reuter, die er zu beiden Seiten ins Gebet nimmt, ohne aber die tatsächliche Ursache des Problems analytisch anzugehen. Daraus folgt zum einen, dass jene „Bourgeoisie“ bei Strafe des Untergangs die Produktion fortwährend umzuwälzen gezwungen ist und daher ununterbrochen gesellschaftliche Zustände erschüttert und dabei alles „Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige (…) entweiht (wird)“. So Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1847/48. Und im „Kapital“ von 1867 heißt es zum anderen dann bei Marx im Hinblick auf die „Sphäre der Cirkulation oder des Waarenaustauschs“: „Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu thun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältniß bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervortheils, ihrer Privatinteressen.“ Reuter ist so fern dieser kritischen Bemerkung nicht. Dass solche ‚Interessen‘ durch den Druck der ökonomischen Struktur aufgeherrscht sind, die auf kürzere wie längere Sicht nicht durch Zähmung ihrer Auswüchse ‚menschlich‘ moderiert werden kann, würde er nicht teilen.
Was bleibt, ist, dass Reuters Klagen und Anklagen in anderen Tonarten die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft begleitet, künstlerisch und wissenschaftlich zum Ausdruck gebracht wurden (und werden), dabei „falscher Unmittelbarkeit“ aufsitzen, wenn sie noch da, wo „Gesellschaft in ihrer bestehenden Gestalt opponiert“ wird, „falsche Unmittelbarkeit des Vermittelten“ vortäuschen. (Adorno) Vermittelt ist das, was Reuter höchstes Ärgernis ist, durch eben die Ökonomie, deren Entwicklung und Entfaltung die Bourgeoisie bzw. das Bürgertum vorangetrieben hat, die nicht allein den Adel als Hemmschuh gesellschaftlicher Entwicklung entmachtetet und schließlich die Produktivkraftentwicklung vorangetrieben hat und entsprechende Tugenden hochhielt, die neben ihrer Legitimation auch gesellschaftlichen Ordnungs-Zwecken dienten. Es ist daran zu erinnern, dass schon die frühe Bourgeoisie (und nicht nur die Großbourgeoisie) in der Phase der Französischen Revolution politisch ihre Interessen zu wahren wusste (wobei damaliger Krieg und schwierige Versorgungslage nicht zu unterschlagen sind): Zwar hätten, so Reuter, nicht allein die Bürger die Bastille gestürmt, „(j)ohlende Volksmassen, berauscht von Rachedurst und Blutgier, haben sicherlich entscheidend dazu beigetragen“, aber genau auf diese ist genauer hinzusehen. Der Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, lebe bis heute fort, habe sich jedoch während des ganzen Jahrhunderts nie verwirklicht, weil es den „konservativen Kräften“ gelang, „die alten Herrschaftsstrukturen in neuem Gewand wiederauferstehen zu lassen.“ (S. 160 f.) Das ist historisch richtig, allerdings sozialhistorisch insoweit zu präzisieren, als zu verdeutlichen ist, gegen wen sich die neu gewandeten „Herrschaftsstrukturen“ richteten, was auf die „Volksmassen“ verweist:
Der Historiker Soboul geht in seiner Studie zur „Volksbewegung“ während der Revolution der Geschichte und dem Geschick der „Sansculotten“ nach, die wie die Montagnarden einen Begriff von Demokratie im Auge hatten, einer Demokratie „in Aktion“: „Freiheit wird zur Befreiung, Gleichheit zum sozialen Fortschritt“, wodurch das „allgemeine Glück Wirklichkeit“ werden sollte. Und auf diesem „Gebiet bestand ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen der Bourgeoisie und der Pariser Sansculotterie, zwischen den Vorkämpfern der Sektionen und der Revolutionsregierung“, wobei es für letztere ein „Gebot der Notwendigkeit“ war, „ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Unternehmern, auf deren Mitwirkung sie nicht verzichten konnte, und den Lohnarbeitern herzustellen“; womit die Revolution „eine bürgerliche Revolution“ blieb. Und viele, die nicht zu den Besitzenden und Produzenten gehörten, betrachteten sich als „Bourgeois“ und wollten „durchaus nicht mit dem ‚niederen Volk‘ in einen Topf geworfen“ werden. Im schwierigen Gerangel verschiedener Interessengruppen wurde die Demokratie geschwächt und es kam zu einem die „Kritikfreudigkeit“ der Massen lähmenden „Prozeß der Verbeamtung“ und diese „bürokratische Sklerose beraubte die Pariser Sansculotterie eines guten Teils ihrer Kader, indem sie sie ‚verbürgerlichte‘.“ Diese Sansculotten als überwiegender Teil der revolutionären Massen hatten durchaus radikaldemokratische Vorstellungen und waren nicht nur blutrünstige Marodeure, denen die Bourgeoisie den Rang abgelaufen hat. Viele der damaligen kleinen Handwerker und Gesellen wussten laut Soboul sehr wohl, „daß die Maschinenarbeit das Gespenst der Arbeitslosigkeit mit sich brachte“, „daß die kapitalistische Konzentration“, Geschäft der Bourgeoisie, „über kurz oder lang (…) sie selbst in Lohnarbeiter verwandeln würde.“ – Was die Bourgeoisie für sich angenehm angelegt hat, hat sich nun auch für sie selbst unangenehm entwickelt. Und manch einer fragt sich, wie weit es her ist mit „demokratischer und gesellschaftlicher Freiheit“, deren wir uns heutzutage laut Reuter „erfreuen“. (S. 13)
Darüber geht und sieht Reuter hinweg, diskutiert nicht, warum die heutigen ‚Nachfahren‘ der damaligen Bourgeoisie und ihrer Steigbügelhalter z.T. wider Willen workholder und shareholder zugleich sein sollen, warum sie unter dem Druck von Narrativen aus neoliberaler Gouvernementalität in den „Greifarmen des unternehmerischen Selbst“ (Gfrerer) sind, dass und warum die „Bourgeoisie“ alle, „den Arzt, den Juristen, den Pfaffen den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ und „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen (hat) als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“ (Marx / Engels) Vielleicht, bei anderer Ausdrucksweise, könnte sich Reuter bei dieser schon älteren Diagnose einfinden, was seine Kritiken der insbesondere Wirtschaftswissenschaft, der Politik, der Ausbildung/Bildung und der Kunst nahelegen. (Sportler hat Marx vergessen, konnte aber die Entwicklung nicht kennen, und auch Reuter geht darauf nicht ein, dabei wäre nicht nur der Profiradsport ein weiterer schlagender Beleg für Habgier und Heuchelei gewesen: So fordern Hamilton und Coyle in ihrem Buch über die Auswüchse des Dopings am Beispiel von Lance Armstrong, es müsse eine „Abwendung vom Sponsorenmodell“ geben, bei dem das Problem sei, dass die Sponsoren „dass sie nach einer Sofortrendite für ihre Investitionen streben, was für einen Geist sorgt, der das Siegen um jeden Preis verlangt“. Unschwer ist ‚Sponsoren‘ durch ‚Aktionäre‘ zu ersetzen.) Dass es bei allseitiger ‚gefühlloser barer Zahlung‘, wenn alles zur Ware wird, recht ungemütlich zugehen kann und man sich eben (übrigens bei Strafe des Untergangs) jener ‚realistisch unzeitgemäßen‘ Wertorientierungen zu entschlagen gezwungen ist, liegt insofern auf der Hand, weil – wie Brechts Peachum sagt – „(e)in guter Mensch sein! Ja, wer wär´s nicht gern? (…) Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ Mit seiner ‚polemischen‘ Kritik an Heuchelei und Gier u.a.m. und seinem Ruf nach Moral und Anstand, Verstand und nüchterner Vernunft bleibt Reuter letzten Endes affirmativ gegenüber jenen ‚Verhältnissen‘, weil sich seine Gegenanzeigen und Vorschläge gleichsam nur auf Symptome richten, worin bei allem ‚Irrtums-Vorbehalt‘ eine Reflexion aufs Kurative ausgespart bleibt – was für die Bandbreite von populärem Sport bis unpopulärer Ökonomie gilt.
Die „moralische und ethische Wertordnung“ bricht zunehmend weg, was ein wirklich „freies Marktgeschehen“ empfindlich labilisiert. (S. 20) Und für Reuter ist nebst der „Freiheit des Individuums“ die „Freiheit des Marktes“ ein unverzichtbares Gut: „Etwas Besseres hat die Menschheit bisher nicht hervorgebracht.“ Das gilt es zu hüten. Zwar benutzt er den Begriff „kapitalistische Begeisterung“ im Hinblick auf eine „Individualisierung aller Interessen“ gegenüber „jedem öffentlichen Anliegen“ pejorativ (S. 150), will es dahingestellt sein lassen, ob die Marxsche „Schlussfolgerung bis heute unverändert zutrifft“, wonach „die kapitalistische Gesellschaft in einem unversöhnlichen Kampf zwischen zwei verschiedenen Klassen enden werde“ (S. 173), was auch in Reihen der Linken mit Perspektive auf Strategie und Taktik diskutiert wird, aber er kritisiert nicht den Markt als kapitalistischen, welcher der Entwicklung eben des Kapitalismus entsprechend die ‚freie‘ oder ‚soziale Marktwirtschaft‘ hinter sich gelassen und derzeit neoliberal gewendet hat. Die Desiderate aus dieser Entwicklung werden zur subjektiven Seite nicht nur über Rechtfertigungsnarrative gestützt, sondern erhalten über ökonomisch und rechtlich fixierte Verhaltenszumutungen ihren Ausdruck im Wandel kollektiver und individueller Wertorientierungen, was nicht widerspruchsfrei ist. Alles, was Reuter anprangert, ist nicht nur Gegenstand (zumeist weichgespülter) medialer Behandlung im Sinne eines ‚Medienereignisses‘ und in der Regel personalisiert, sondern ist zunehmend breiter im öffentlichen Bewusstsein mit zum Teil recht konträren politischen Schlussfolgerungen präsent. Doch auch da wird der Finger nicht auf den nervus rerum gelegt, Kritik zielt auch da allenthalben auf vermeintliche Fehlentwicklungen, die Wirtschaftsbossen und willfähriger Politik anzulasten sind.
Darin dokumentiert sich eine „falsche Unmittelbarkeit“ (Adorno, s.o.) noch in oppositioneller Haltung oder sogar lautstarker Konfrontation, die nicht an Ursachen rührt. Diskutabel wäre ggf. für Reuter die Bemerkung von Marcuse, der bereits 1974 in Paris in seinen „Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen“ sagte: „Wenn Menschen nicht mehr an den Werten festhalten, die das System am Laufen halten, hat der Niedergang begonnen.“ Ob sich immer „mehr Menschen (…) der Überflüssigkeit der kapitalistischen Produktionsweise bewusst (werden)“, wie Marcuse es sah, wird bei Reuter nicht zum Thema, der auch keine „politische und ökonomische Revolution“ und auch keine „Aufhebung und Umwälzung des gesamten Systems der Werte, die schließlich die westliche Zivilisation am Laufen halten“ (Marcuse), anvisiert, sondern eine Rückbesinnung auf scheint´s Bewährtes fordert, auf bürgerliche, genauer: bildungsbürgerliche ‚Ideale‘ in Erbschaft aufklärerischer Gedanken (was aller Ehren wert ist), die aber zur Seite ihrer moralischen Gehalte historisch schon länger von Sekundärtugenden abgeschattet sind, die auf Erziehung zum Berufsmenschen zielten und inzwischen – dank technologischer und arbeitsorganisatorischer Entwicklungen – als Disziplinierungsmittel an Relevanz verlieren.
Wie Marcuse sieht Reuter ansatzweise, dass die heutige „Bourgeoisie in jedem Fall (…) von der klassischen Bourgeoisie“ zu unterscheiden ist und „weniger als je zuvor einen monolithischen Block“ darstellt, wo jedoch „innerhalb dieses Konglomerats“ schlussendlich „die grundlegenden politischen Entscheidungen (…) Konsequenz und Resultat von Kompromissen“ zwischen den Gruppen sind, so Marcuse, die der Optimierung des Systemzwecks dienen und in Demokratien popularisiert werden müssen. Es ist da weniger eine sittlich und moralisch heruntergekommene Bourgeoisie, die im Zuge ihrer Selbstvergottung eine moralisch destabilisierte Gesellschaft verantwortet, worüber sich Reuter mokiert, sondern es sind Machteliten und die treffen nicht immer auf den „pflegeleichten und obrigkeitshörigen Untertan“, in den sich die „Citoyens“ laut Reuter bereits früh zum „Bourgeois“ gewandelt hatten, was allerdings in vergangenen Zeiten nicht „ausnahmslos“ galt. (S. 162) Was vermittels der realen politischen Auseinandersetzungen, auch Klassenauseinandersetzungen, eben nicht „ausnahmslos“ war, hat sich in heutigen Protesten, weltweiten und häufig an partikularen Gegenständen aufgehängten, erhalten und reklamiert zumeist Aufhebung von Not und Elend, Unterdrückung und Gewalt, nicht aber Rückkehr zum status quo ante in dem Sinne, wie ihn Reuter als Heilmittel gegen vermeintlich bloße Entgleisungen der ökonomisch Mächtigen empfiehlt. Sie sind „Charaktermasken“ (Marx). Als solchen liegen Veränderungen der Struktur von Gesellschaft, wie sie der Logik des Systems entspricht, nicht in ihrem Interesse. Sie exekutieren seine je aktuellen Anforderungen der Kapitalverwertung, in deren Zug sich Subjektkonstitution jeweils ‚adäquat‘ modifiziert, dabei durchaus nicht ohne Brüche und ebenso nicht ‚zwanglos‘.
Das kennzeichnet eine Grenze, die Reuter nicht überschreitet. Begütigend von einer Denkhemmung zu sprechen, ist ebenso neben der Sache wie den Autor in ein linksintellektuelles Spießermilieu einzuordnen, das sich in seinen Kakophonien über alle möglichen Missstände gefällt und sich im Stand von Welterklärung wähnt. Schnell kommt man da auf den Vorwurf der Scheinheiligkeit, der Heuchelei verschwistert, doch weniger offenkundig als faustdicke Lüge zu entlarven. Da ist Edzard Reuter nicht zu verorten, eher schon scheint er Erbstücke seines Vaters Ernst Reuter zu bewahren, der sich als Jugendlicher dem Sozialismus zugewandt hatte, aus der KPD ausgeschlossen wurde, schon früh SPD-Mitglied war, von den Nazis im KZ schwer misshandelt wurde, schließlich erster Regierender Bürgermeister von West-Berlin, der nicht erst ab dann den Kommunismus grundsätzlich ablehnte, was angesichts des Stalinismus und seiner Folgen nur zu verständlich ist. Das geistige Erbe mag sich in der Ablehnung von autoritärer Bevormundung, von Ideologien generell, besonders vom Totalitarismus finden, in der Befürwortung einer pluralistischen Gesellschaft, basierend auf Toleranz und der Bereitschaft, Konflikte durch rationale Diskussionen zu lösen, einer aufrichtigen Wahrheitssuche, die nicht auf Letztbegründung aus ist, sondern im Bewusstsein möglichen Irrtums bleibt.
Die starke Affinität zu Poppers kritischem Rationalismus ist unübersehbar und nicht nur auf das Methodische reduziert; „Es gibt keine Patentrezepte“ (S. 202), meint Reuter, womit er viele offene Türen einrennen dürfte. Es geht aber nicht um Patenrezepte, nicht um Entscheidungen für oder gegen eine ‚Ideologie‘, vorab auch nicht um ‚konkrete Utopie‘, sondern darum, die Grenze deutlich zu machen, die Edzard Reuter nicht überschreitet. Was Popper in einer Fernsehdokumentation des Bayrischen Rundfunks vom 05.01. 1971 wissen ließ, liegt auch auf der politischen und intellektuellen Linie des Autors: „Aber von allen politischen Ideen ist der Wunsch, die Menschen vollkommen glücklich zu machen, vielleicht am gefährlichsten. Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle.“ In der gleichen Dokumentation ist die Position von Marcuse wiedergegeben, der festhielt, dass die „spätkapitalistische (…) die reichste und technisch fortgeschrittenste Gesellschaft in der Geschichte“ ist und die „größten und realistischsten Möglichkeiten einer befriedeten und befreiten menschlichen Existenz“ böte, die sie auf „sehr wirksame Weise“ unterdrücke: „Diese Unterdrückung durchherrscht heute die Gesellschaft als Ganzes und kann daher nur aufgehoben werden durch eine radikale Veränderung der Struktur dieser Gesellschaft.“ Struktur von Gesellschaft und Logik des Systems sind nicht Kulminationspunkt von Reuters Kritiken. Und pointiert dazu bemerkten Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“: „In der Gesellschaft wie sie ist bleibt trotz der armseligen moralischen Versuche, die Menschlichkeit als rationalstes Mittel zu propagieren, Selbsterhaltung frei von der als Mythos denunzierten Utopie.“ Nicht gegen, aber weitergehend als Popper, wie Adorno selbst schreibt, heißt es in „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, „Gesellschaft, die sich und ihre Mitglieder am Leben erhält und zugleich mit ihrem Untergang bedroht, ist Problem im emphatischen Sinne.“ Und auch da darf man sich gegenüber Reuter der Bemerkung Adornos in „Positivismusstreit“ über „dialektische Theorie“ anschließen, wo es heißt: „Hochmut gegen partikulare Lösungen ist ihr fremd, nur läßt sie von ihnen nicht das Maul sich stopfen.“
Fazit
Das Buch von Edzard Reuter ist nicht nur als scharfe und mutige ‚polemische Schrift‘ zu empfehlen, sondern auch wegen seines durchaus informativen Gehalts. Der Autor wagt es anzuecken. Nicht nur jüngere kritische Geister werden ihm zustimmen und bestätigen, dass all diese Kritiken laut und deutlich ausgesprochen werden müssen. Und er regt in sehr produktiver Weise Diskussionen an, provoziert Einrede und Widerspruch, was nur fruchtbar sein kann. Wenn er die „Kunst des piece-meal engineering“ à la Popper favorisiert (S. 103), eine Präferenz, die er als praktische Handlungsanleitung mit dem Fuhrpark-Unternehmer Sixt teilt, und aus dieser – methodischen – Lehre folgert, „dass wir bei allem, was wir denken und tun, stets darauf bedacht zu sein haben, keine Tatsachen zu schaffen, die für den Fall, dass sie sich wider Erwarten als schädlich erweisen sollten, durch nichts mehr zu heilen sind.“ (S. 207)
Das ist nicht nur als umsichtiges unternehmerisches Handeln zu betrachten oder als ökonomische Risiken minimierendes Hintertürchen zu werten, sondern ist zu bedenken auch im Rahmen einer Reflexion, in der es in durchaus praktischer Absicht um jene für emanzipatorisches Handeln wichtige Zweck-Mittel-Relation geht, die auch für anders Andersdenkende als Edzard Reuter auf der historischen Tagesordnung steht. Auch diese Diskussion mag provoziert werden, auf der Grundlage der ‚partikularen‘ Kritiken von Reuter und da nicht verbleibend. Wenn das Buch auch bereits in der fünften Auflage erschienen ist, an Tagesaktualität hat es nichts verloren, eher angesichts weiterer Entwicklungen in den letzten Jahren gewonnen – was Wunder.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 20.12.2017 zu:
Edzard Reuter: Stunde der Heuchler. Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten. Nomen
(Frankfurt) 2017. 5. Auflage.
ISBN 978-3-939816-48-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23621.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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