Jürgen Kind: Das Tabu (Psychoanalyse)
Rezensiert von Dr. Hans Hopf, 16.11.2017
Jürgen Kind: Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. 384 Seiten. ISBN 978-3-608-96131-7. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.
Autor
Jürgen Kind ist Arzt für Psychiatrie und Psychoanalytiker in eigener Praxis sowie Lehr- und Kontrollanalytiker am Göttinger Lou-Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie. Seine klinischen Erfahrungen stammen aus ambulanten Behandlungen, vor allem jedoch aus seiner langjährigen Tätigkeit als Abteilungsleiter am Niedersächsischen Landeskrankenhaus Tiefenbrunn. Der einstige Direktor, Ulrich Streeck, hat auch das Vorwort zu diesem Buch verfasst. Ein weiteres Buch Jürgen Kinds, „Suizidal“, ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
Thema
Der Begriff Tabu stammt aus Tonga/Polynesien. Ein Tabu ist bekanntermaßen ein ungeschriebenes Gesetz, das verbietet, bestimmte Dinge zu tun. Tabus sind bedingungslos und dürfen nicht hinterfragt werden. Ein Tabu reizt aber auch zur Neugierde, durch ein Schlüsselloch schauen zu wollen, um zu erfahren, was denn da tabuisiert wird. Wenn der Untertitel des Buches auch noch lautet: „Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten“, will der Leser, die Leserin gerne wissen, welche brisante Angelegenheiten es denn sind, die nicht einmal gedacht werden dürfen.
Die Psychoanalyse trägt an einem schweren Erbe, wie Jürgen Kind in seinem Buch stringent nachzeichnet. Während des Lesens entsteht eine Ahnung von möglichen Verletzungen, die zur Entstehung dieses Buchs mitgewirkt haben. Vor allem wird deutlich, wie viele Jahre des Denkens und Forschens der Autor verbracht hat, um dieses umfassende Werk zu schreiben. Das Buch enthält zwar eine heftige Kritik der Psychoanalyse, ist aber aus einer großen Affinität und Liebe zu ihr entstanden. Kind will mit seinen Bewusstmachungen der unbewussten Konfliktbereiche und Tabus die Psychoanalyse stärken.
Aufbau
Kind stellt fest, dass das mehrfach traumatisierte Kind Ödipus zum Zentrum einer Theorie wurde, die andererseits den Anspruch erhebt, eine universell gültige Entwicklung „des Kindes an sich“ zu beschreiben. Diese Feststellung wird noch erweitert zu, „warum die Psychoanalyse den bereits real beschädigten mythologischen Ödipus ein zweites Mal beschädigte“, indem sie ihn „auf ein schmales Segment reduzierte“. Freud hat den Ödipusmythos auf Vatermord und Mutterinzest verkürzt, hat den Anfang und den Schluss weggelassen und somit gemäß Kind die darin enthaltenen Konflikte verdrängt. Man könnte davon ausgehen, dass die Verkürzung eines Mythos eigentlich ein wenig bedeutungsvolles Geschehen ist – doch nicht, wenn dieser Mythos das Fundament einer Lehre darstellt, auf der das gesamte Gebäude ruht.
Die Grundhypothese Kinds lautet infolgedessen, warum sich die Psychoanalyse, die angetreten ist, Tabus zu hinterfragen, sich selbst wiederum mit zahlreichen Tabus umgeben hat. Der Ödipusmythos hat durch Freud erhebliche Kastrationen erfahren. Diese spiegeln sich gemäß der Ansicht von Kind in vier durch die Psychoanalyse vorgenommenen Verdrängungsoperationen. Um diese Verdrängungen und deren verheerende Folgen geht es in diesem Buch.
Inhalte
Der Ödipusmythos beginnt mit einem höchst beunruhigenden Geschehen. Laios, der Vater von Ödipus, hat den Sohn des Königs Pelops entführt, der ihm zur Erziehung anvertraut worden war. Er hatte sich in ihn verliebt und wollte ihn missbrauchen. Innerhalb dieses Eingangsmythos wird somit deutlich, dass der Vater nicht nur ein aufmerksamer Beschützer ist, sondern auch Missbraucher sein kann. Kind meint, dass die Verdrängung dieses missbräuchlichen Geschehens der Verführungstheorie und ihrem Widerruf entspräche. Ursprünglich war Freud der Meinung, dass der Grundstein für neurotische Störungen durch sexuelle Verführung und Missbrauch gelegt würde. Ab 1897 hat Freud diese Theorie nicht mehr aufrechterhalten und sie durch den Ödipuskomplex ersetzt. Damit ging die Verführung nicht mehr von den Eltern aus, sondern das Kind trachtete danach, die Eltern zu verführen. Von nun an sei, nach Kind, der Aspekt der verführerisch-missbräuchlichen Eltern verloren gegangen.
Ödipus wurde in eine feindliche Umwelt ausgesetzt. Mit dieser Verdrängung bringt Kind in Verbindung, dass die Psychoanalyse von Anfang an der Überzeugung war, „in einer feindlichen Umgebung zu existieren, vor der man sich abschirmen und Schutz in einem reinen, von all diesem Fremden befreiten Raum suchen muss“. Dies wäre im Extrem eine Spaltung, wie sie in Religionen, sektiererischen Gruppen und Pseudoreligionen stetig vorkommt.
Der dritte Bereich wäre die Verdrängung der Herkunft. Ödipus macht sich Gedanken über seine Wurzeln, doch schafft er es nicht, Klarheit in seine Herkunft zu bringen. Gemäß Kind findet hier Freuds Selbstverständnis von einer ohne Vorbilder geschaffenen Psychoanalyse seine mythologische Parallele.
Die Verdrängung der Ausstoßung der Söhne des alternden selbstgerechten Ödipus wäre der vierte Bereich. Innerhalb des psychoanalytischen Kontexts verweist Kind auf die Gewohnheit der Psychoanalyse, für krank und ausstoßenswert zu erklären, was nicht dem Kanon entspricht.
Auf den Tabubruch folgt das Entsetzen. Über zwanzig Seiten breitet Kind eine Geschichte von Grenzverletzungen und Missbrauch in der Psychoanalyse aus. Vieles ist bekannt, doch war mir einiges auch neu, vor allem in seiner Tragweite nicht vertraut. Einige wenige Beispiele: Kind beginnt mit der unseligen Nasenoperation von Emma Eckstein, die nach seinen Aussagen die Höherbewertung einer Theorie gegenüber der Ratio aufdeckt, vor allem aber eine Verweigerung der Akzeptanz von Schuld. Diese Tatsache wird auch am Beispiel der Behandlung des missbrauchten Kindes Marilyn Monroe deutlich. Mich hat die Strenge bis hin zur Unerbittlichkeit von Greensons klassischer Behandlungstechnik, die er in seinen Büchern vertritt, immer beeindruckt. Ich fürchtete, sie so nie realisieren zu können. Die Behandlung des Filmstars entgleiste, Greenson geriet in ein regressives und destruktives Täter-Opfer-Geschehen, Marilyn suizidierte sich – oder starb sie ungewollt an einer Überdosis? Kind stellt fest: „Die Psychoanalyse steht in einer langen Tradition von Grenzverletzungen und Missbrauch.“ (S. 247). Freud hat die Lehranalyse seiner Tochter durchgeführt und – gegen ihren Willen – ihre sexuellen Fantasien veröffentlicht. Sie blieb dennoch seine Antigone und glühende Verfechterin der Abstinenzregel, mit der festen Überzeugung, dass Patienten aus dem engeren Kreis eines Analytikers nicht übernommen werden dürften …(S. 222).
Kurz möchte ich auch auf Kinds Hypothese eingehen, dass innerhalb der Psychoanalyse eigene Ideen tabuisiert werden sollten. Mit dem Geheimen Komitee wurde 1910 eine Gruppierung begründet, die sich zum Ziel setzte, die wahre Psychoanalyse zu erhalten. Dabei ging es letztendlich um den Verzicht auf eine eigene Idee, was Ferenczi wie folgt zusammenfasste: „Zwar sind die Statuten unserer Gemeinschaft niemals in Worte gefasst worden, doch glaube ich, dass es sich in erster Linie darum handelt, die Idee, Freuds Werk, möglichst unverändert zu erhalten“ (S. 195). Auch hier sind die Folgen bekannt, dass „Abtrünnige“ aus der Gemeinschaft entfernt wurden, Jung, Adler, Rank, Ferenczi.
Diskussion
Hat es die Psychoanalyse so überhaupt gegeben? Leider sind es Realitäten, über die Kind berichtet. Zweimal wurde ich zu schweren Missbrauchsfällen hinzugezogen. Häufiger wurde ich in meinem Therapeutenleben vermahnt, ob das denn überhaupt Psychoanalyse sei, was ich da äußere, und ich erfuhr als Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker gelegentlich blasierte Geringschätzung, kein Volltherapeut zu sein. Erfreulicherweise hat es jedoch zu allen Zeiten eine andere Psychoanalyse gegeben. Ferenczi hat aufgezeigt, dass sowohl Verführungstheorie als auch ödipaler Konflikt durchaus zur Erklärung herangezogen werden können. Laplanche hat eine allgemeine Verführungstheorie entwickelt und C.G. Jung hat ganz sicher nicht nur eine „Schlammflut des Okkultismus“ geschaffen. Vor allem will ich festhalten, dass die Psychoanalyse auch durch eine Fülle von mutigen, kreativen Menschen repräsentiert wird, die furchtlos Weiterentwicklungen vorantrieben. Immer hat es Rebellen gegen eine rigide Dogmatik gegeben. Gelegentlich haben sie ganz bewusst Grenzen überschritten, wie Sandor Ferenczi, Wilhelm Reich, Erich Fromm, auch Horst Eberhard Richter – und viele mehr. Ich möchte bescheiden darauf hinweisen, dass ich in meinem Buch „Die Psychoanalyse des Jungen“ über den gesamten Ödipus berichtet habe. Der Vater braucht – ebenso wie die Mutter – ein ehernes Gesetz, das ihn am Missbrauch hindert. Lacan hat es als „Nom du Père“ formuliert.
Fazit
Der Autor ist ein bewundernswerter Kenner der Mythologie und der Geschichte der Psychoanalyse. Er kritisiert die Psychoanalyse von Grund auf, indem er den Ödipusmythos unter neuen Aspekten analysiert. Das Ergebnis ist beunruhigend, denn es geht um nichts weniger, als um eine radikale Auseinandersetzung mit dem mythologischem Fundament der gesamten Psychoanalyse. Vielleicht sollte man immer ergänzen, von einer Psychoanalyse die sich nach Meinung von Kind dogmatisch gebärdet und unentwegt die – vermeintlich – richtige Lehre vertreten will. Es ist bekannt, was Tabubrüche für Folgen haben, was Deutung und nachfolgende Widerstände auch bewirken können – im schlimmsten Fall – weitere Verdrängung und Totschweigen. Eine kleine Kritik muss ich anbringen: Ein solch umfangreiches, komplexes Buch braucht unbedingt ein Stichwortverzeichnis. Es ist ein Buch, das mich sehr bewegt hat. Ich wünsche ihm, dass es viele interessierte Leser finden möge und weiterführende Diskussionen bewirkt. Mir persönlich hat dieses sehr kritische Buch auch verdeutlicht, was ich der Psychoanalyse alles zu verdanken habe. Sie ist es wert, stetig weiterentwickelt zu werden.
Rezension von
Dr. Hans Hopf
Mailformular
Es gibt 9 Rezensionen von Hans Hopf.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 22387
Zitiervorschlag
Hans Hopf. Rezension vom 16.11.2017 zu:
Jürgen Kind: Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2017.
ISBN 978-3-608-96131-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23622.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.