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Claus Leggewie: Europa zuerst!

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.12.2017

Cover Claus Leggewie: Europa zuerst! ISBN 978-3-550-05017-6

Claus Leggewie: Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein Verlag (München) 2017. 318 Seiten. ISBN 978-3-550-05017-6.

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Europa lebt!

Es wird Zeit, den Kakophonien, rassistischen, nationalistischen, fundamentalistischen, egoistischen und populistischen Anwürfen gegen Europa demokratische und freiheitliche Positionen für ein humanes, friedliches und gerechtes Gemeinsames Europa entgegen zu setzen! Den Maulhelden und Maulwürfen, die aus ideologischen, egoistischen und bornierten Gründen den Einigungsprozess in Europa torpedieren wollen, stehen mittlerweile vielfältige Initiativen gegenüber, die für ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa eintreten, lautstark, effektiv und überzeugend. In den öffentlichen, medialen Auseinandersetzungen freilich sind diese Stimmen oftmals gegen den Lärm der Europagegner nicht deutlich genug vernehmbar. Damit die Autoritären, die Brüllenden, auf komplizierte Entwicklungen mit einfachen Antworten Aufwartenden nicht die Oberhand im lokalen, eurobestimmten und globalen öffentlichen Meinungsprozess erhalten, kommt es darauf an, denjenigen, die in den (europäischen) Werten der Aufklärung, der Demokratie und der Bürgergesellschaft die Grundlagen für ein gemeinsames Europa erkennen, eine vernehmbarere Stimme zu geben.

Entstehungshintergrund

Bei der Vermittlung einer europäischen Identität, die Voraussetzung dafür ist, dass sich ein Gemeinsames Europa bilden kann, ist klar, dass diese nur gelingt, wenn jeder Einzelne in Europa daran mitarbeitet und überzeugt werden kann, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Diese Zuschreibung aus dem Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents (20. 6. 2003) ist leider bis heute nicht als „Verfassung für Europa“ realisiert. Die zahlreichen Krisen, Verzagtheiten und Abwehrhaltungen bewirken, dass die Europäer bei der Bildung er Europäischen Union keine Euphorie aufkommen lassen. Die positiven Entwicklungen werden eher passiv hingenommen, während das Interesse und die kritische Auseinandersetzung eher zurückhaltend, wenn nicht sogar interesselos wirken. Es braucht den Mut und die Kraft zum Positiven und Gelingenden.

Autor

Da ist es gut, dass sich im Feld der Positiven einer daran macht, eine „Streitschrift für ein unabhängiges, offenes Europa“ vorzulegen. Ja sie kommt sogar daher als eine „Unabhängigkeitserklärung“, wie sie bei der Bildung einer staatlichen Einheit und Freiheit unerlässlich ist. Der Politikwissenschaftler von der Universität in Gießen, Claus Leggewie, setzt den Widerständen, den Angriffen, den Mut- und Hoffnungslosigkeiten beim Prozess der europäischen Einigung ein Dennoch entgegen, indem er aufzeigt, in welch vielfacher, engagierter Weise Aktivitäten überall in Europa tätig sind. Es sind „Graswurzelinitiativen“, die Weckrufe für neue Europavisionen aussenden und praktizieren. Es ist die Frage: „Wie haltet ihr es mit Europa? – als Bürger, Wähler und demokratische Eliten“.

Aufbau und Inhalt

Leggewie gliedert seine „Unabhängigkeitserklärung“ in drei Kapitel.

  1. Im ersten geht es um „Gezeitenwechsel“,
  2. im zweiten rudert er „Gegen den Strom“ und
  3. im dritten Kapitel sind es die Praktiker, die der Autor (unverständlicherweise) als „Freibeuter“ bezeichnet.

Es ist der Versuch, die neuere Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des europäischen Einigungsprozesses analytisch zu verstehen und die Erwartungshaltungen, Hoffnungen und Enttäuschungen auf den aktuellen Prüfstand zu stellen. Der Autor widmet dabei den Entwicklungen ein besonderes Augenmerk, die die anfangs euphorischen Zielbestimmungen abbremsen und zu verhindern drohen; wie z.B. die „autoritäre Welle“, die mit Nationalismen, Abgrenzungen und populistischen Parolen durch Europa schwappt. Er thematisiert dabei die (schleichenden) Prozesse, die scheinbar unumstößliche, soziale und gerechtigkeitsorientierte Positionen, die Verschiebungen und Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein bewirken und mit der „Dreieinigkeit von Migrationskritik, Islamfurcht und EU-Skepsis“ nationalistische, ethnozentrierte und rechtsradikale Kräfte entstehen lassen, wie z.B. in Dänemark, Italien, Österreich, Ungarn. Polen, den Niederlanden… und mit der AfD auch in Deutschland; nicht zuletzt mit dem Brexit und den Unzumutbarkeiten, wie sie sich bei den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU vollziehen.

Um gegen die Angriffe auf den Einigungsprozess gewappnet zu sein, braucht es eine politikwissenschaftliche Auseinandersetzung darüber, welche intellektuellen und rechtsphilosophischen Bollwerke (nicht Kriege und gewaltsame Konflikte) die Europäer gegen demokratiedistanzierte Regime („Europas neue Barbaren?“) – Russland, Türkei, Trump-USA – aufbauen sollten (wenn sie sich einig wären!). Es sind drei Ratschläge des Politikwissenschaftlers: „responsiver werden“ – „resilienter werden“ – „reistenter werden“.

Es sind positive, mutmachende und beispielhafte Aktivitäten, die einen neuen Schwung und neue Zuversicht in den derzeit eher dahindümpelnden Europaprozess bringen können. Um sie zu identifizieren, braucht es eine Bestandsaufnahme der zahlreichen Initiativen. Dazu richtet der Autor drei Körbe her, in die er die positiven Zielsetzungen, Theorien und praktischen Ansätze der Ideen- und Aktionswerkstätten für ein (besseres und gerechteres) Europa legt.

  1. Den ersten Korb bezeichnet er mit dem Begriff „Teilhabe“ bei der Verwirklichung einer echten europäischen Staats- und Unionsbürgerschaft und einem gemeinsam abgestimmten und praktizierten Demokratieverständnisses.
  2. Im zweiten Korb „Solidarität“ legt er die Initiativen, die für ein gerechtes, soziales und gleichberechtigtes Europa und in der Einen Welt eintreten.
  3. Und im dritten Korb „Nachhaltigkeit“ befinden sich zukunftsorientierte Aktivitäten, die ein humanes Leben auch für künftige Generationen möglich machen.

Wie der Autor den Begriff „Freibeuter“ herleitet, wenn er über die Praxen der offiziellen und inoffiziellen Aktivitäten der Europabefürworter und -engagierten Personen und Institutionen, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Die Begriffsbenutzung kann sogar, obwohl er betont, dass er bei der Aufzählung der Initiativen keine Wertung vornehmen wolle, zu Irritationen und Wertungen führen. Ein „Freibeuter“, so weist es der Duden aus, ist schließlich ein „Seeräuber“, also im Zusammenhang mit einer gemeinschaftsbildenden Zielsetzung eher als Störenfried zu bezeichnen. „Agenten des Wandels“ ist hier sicherlich treffender, „Graswurzel-Arbeiter“, „Denkfabrik“, „Reallabor“ oder „Regenbogen-Initiative“ ebenso. Es sind Gruppierungen, die in den jeweiligen europäischen Ländern aus den Mentalitäten, Metaphysiken, Moralitäten, Modalitäten und Momentanismen hervorgehen und auf den Informations- und Aktionsstand für die Bildung eines Gemeinsamen Europas beruhen. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass ein friedliches, gerechtes und demokratisches Europa die humane Menschheit schaffen kann. Sie treten ein gegen Nationalismen, Fundamentalismen, gegen Korruption und Egoismus, und sie gehen auf die Straße und ins Internet mit dem Wissen, dass die Europäische Union demokratischer werden muss. Die Veränderungsprozesse dafür fallen weder vom Himmel, noch sind sie als großer Wurf von den offiziellen europäischen Institutionen zu erwarten. Jeder Einzelne ist herausgefordert, sich daran aktiv zu beteiligen.

Fazit

Das Europäische Parlament in Straßburg hat vom 21. bis 22. November 1991 eine Konferenz zum Thema „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“ durchgeführt. Dabei wurde die Zuversicht betont, dass Europa eine Idee im Werden sei und argumentiert, dass die Janusköpfigkeit Europas die Europäer als Teil der Menschheit in besonderer Weise global herausfordert: „Wie Gott Janus hat Europa zwei Gesichter, eine doppelte Identität, schwankend zwischen Gut und Böse“ (Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7/8, 1992, S. 4ff). „Europaschmieden“. wie z.B. das Institut für Geschichte an der Universität Hildesheim, mit dem Lehrstuhlinhaber und Jean-Monnet-Chair ad personam, Michael Gehler, zeigen auf, dass es wichtig, richtig und unvermeidlich sei, dass die Europäer die politische Entscheidung treffen, ein demokratisches und humanes, gemeinsames Europa zu errichten (Michael Gehler, Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenarbeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23710.php).

Mit der Aufforderung, eine Unabhängigkeitserklärung für Europa zu etablieren, schiebt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie den Einigungsprozess der Europäer an. Mit der (nicht wertenden oder kategorisierenden) Aufzählung von formellen und informellen Initiativen, die in unterschiedlicher -Weise und Intensität für ein Gemeinsames Europa eintreten, legt der Autor eine Studie vor, die ohne Zweifel der Stärkung und Förderung der „Idee im Werden“ zugutekommt.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245