Hella Dietz, Frithjof Nungesser u.a. (Hrsg.): Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken
Rezensiert von Patrick Reitinger, 17.04.2018

Hella Dietz, Frithjof Nungesser, Andreas Pettenkofer (Hrsg.): Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Vom Nutzen einer Theoriedifferenz. Campus Verlag (Frankfurt) 2017. 320 Seiten. ISBN 978-3-593-50722-4. 39,95 EUR.
Thema
Der Titel des Sammelbandes ist Programm: Es geht um eine Diskussion, die Pragmatismus und Theorien sozialer Praxis kritisch zusammenführen soll – in der Annahme, dass die bisherigen Beschäftigungen mit beiden sozialtheoretischen Ansätzen weitgehend getrennt stattgefunden haben, gerade in der Verbindung aber ein großes Potenzial besteht, eine sozialtheoretische Gegenposition zu dem „rationalistischen Individualismus [zu] bieten, der das Fach [also die Soziologie] zurzeit dominiert“ (S. 9).
Herausgeberinnen und Herausgeber
- Dr. Hella Dietz ist Soziologin und Redakteurin der ZEIT-Online-Kolumne 10nach8. Zuletzt war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen.
- Dr. Frithjof Nungesser ist Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Karls-Franzens-Universität Graz.
- PD Dr. Andreas Pettenkofer ist Junior Fellow und Koordinator des Projekts „Lokale Politisierung globaler Normen“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.
Thema
Der Sammelband beschäftigt sich mit dem „verspäteten Dialog“ (S. 12) zweier sozialtheoretischer Disskussionsstränge: Er möchte den Nutzen des Pragmatismus für Theorien sozialer Praktiken diskutieren – und umgekehrt. Die Herausgeberinnen und Herausgeber gehen davon aus, „dass die wechselseitige Nichtwahrnehmung beider Theorieströmungen eher auf äußere Umstände und auf die Prägewirkung lokaler Vorverständnisse zurückgeht als auf reflektierte Theorieentscheidungen; dass diese Rezeptionsgrenzen noch dort fortwirken, wo seit einiger Zeit eine intensivere Rezeption der jeweils anderen Strömung in Gang kommt; und dass dabei diverse interessante theoretische Möglichkeiten ungenutzt bleiben“ (ebd.).
Entstehungshintergrund
Ausgangspunkt für den Sammelband waren zwei Workshops, die im Mai 2013 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und im Dezember 2014 am Centre Marc Bloch in Berlin stattgefunden haben. Eingebettet waren die Diskussionen in die Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Aufbau
Der Band ist in drei Kapitel unterteilt.
Zu 1. Pragmatische Rekonstruktion
Nach einer ausführlichen Einleitung durch die Herausgeberinnen und Herausgeber, in der der Rahmen abgesteckt und die gemeinsame Motivation skizziert werden, beschäftigt sich das erste Kapitel mit Pragmatischen Rekonstruktion.
Jörg Strübing stellt zu Beginn noch einmal fest, dass die unterschiedlichen praxistheoretischen Ansätze fast alle gemein haben, dass sie einen „auffällig weiten Bogen um den klassischen Pragmatismus machen“ (S. 42). Er diskutiert unter dem Titel Where is the Meat/d? Pragmatismus und Praxistheorien als reziprokes Ergänzungsverhältnis verschiedene Möglichkeiten, wie Praxistheorien in ihrer möglichen (Weiter-)Entwicklung vom Pragmatismus profitieren können – und umgekehrt.
Frithjof Nungesser stellt einige Pragmatische Überlegungen zur symbolischen Herrschaft an und bringt Pierre Bourdieu und George Herbert Mead miteinander ins Gespräch. Bourdieu verbindet mit seiner Theorie sozialer Praktiken macht- und ordnungstheoretische Überlegungen mit handlungstheoretischen und wissenssoziologischen Argumenten (S. 26). Nungesser sieht in der Sozialtheorie George Herbert Meads wichtige pragmatische Ansätze, die dabei helfen können, die Herrschaftsanalyse Bourdieus weiterzuentwickeln, und bei Bourdieu zentrale Hinweise, die blinde Flecken bei Meads Perspektive auf Herrschaftsverhältnisse besser erhellen.
Den ersten Teil schließt Andreas Pettenkofer mit dem Beitrag Beweissituationen. Zur Rekonstruktion des Konzepts sozialer Praktiken ab. Er geht zu den Grundlagen sozialer Praxis bei Émile Durkheim zurück und schlägt davon ausgehend vor, soziale Praktiken nicht über habitualisiertes Handeln, sondern „über einen Situationstyp, den man Beweissituation nennen könnte“ (S. 119, Herv. i. Orig.) zu verstehen.
Zu 2. Feine Unterschiede zweier Theoriefamilien
Das zweite Kapitel befasst sich mit den feinen Unterschieden zweier Theoriefamilien.
Henning Laux vergleicht die feinen Unterschiede zwischen Bourdieus Praxistheorie und Deweys Pragmatismus. Er setzt am Begriffspaar Habitus (Bourdieu) und habits (Dewey) an. Auch wenn er einige Überschneidungen herausarbeiten kann, ist für ihn eine Annäherung beider Begriffe nur in begrenztem Rahmen möglich. Er skizziert schließlich einige Kontexte, in denen Bourdieu und Dewey trotzdem gewinnbringende Erkenntnisse produziert.
Hella Dietz wählt eine narratologische Perspektive, wenn sie auf die unterschiedlichen Wirklichkeiten von Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken blickt. Sie untersucht die Bestimmung sozialer Situationen, die mithilfe verschiedener Theorien erklärt werden sollen. Dietz geht von der Ausgangsthese aus, dass verschiedene Theorien „gerade nicht dieselbe Wirklichkeit“ erklären, sondern sich bereits darin unterscheiden, „wie sie die soziale Wirklichkeit bestimmen“ (S. 193). Sie geht von einer narrativen Struktur soziologischer Theorien aus und greift damit eine Gemeinsamkeit pragmatistischer Theorien und Theorien sozialer Praktiken auf, die „Sinn nicht als den Phänomenen inhärent [ansehen], sondern als Ergebnis des sozialen Prozesses“ (S. 194).
Markus Holzinger schließt die Betrachtung feiner Unterschiede im zweiten Kapitel ab, indem er die Objektkonzeption bei Latour und Dewey in den Blick nimmt. Holzinger versucht, „Latours Versuch, den Dualismus von Theorie und Praxis, Natur und Technik, Konstruktivismus und Realismus zu überwinden […] und ihn mit Grundeinsichten des amerikanischen Pragmatismus von John Dewey in Beziehung zu setzen“ (S. 223). Durch diesen Vergleich wird deutlich, dass viele Überlegungen von Latour bei Dewey schon angelegt sind, Latour die Grundthesen Deweys aber weiterführt und auf ein „genuin soziologisches Fundament“ stellt (ebd., Herv. i. Orig.).
Zu 3. Methodologische Konsequenzen
Der Sammelband schließt mit einem dritten Kapitel, in welchem methodologische Konsequenzen reflektiert werden.
Albert Ogien versucht die Unterscheidung von Cheryl Misak, nämlich dass zwischen Forschungen, deren Ziel die Wahrheit ist, und Forschungen, die auf die Lösung praktischer Probleme zielen, mit der Idee von Forschung bei John Dewey zu verbinden und diese Idee mit der soziologischen Idee der Praxis zu kontrastieren (S. 262). Ogien plädiert dafür, dass konsequent Forschung als Praxis zu denken ist, wobei er darunter eine „sequenziell und gemeinsam erbrachte praktische Herrstellungsleistung“ (S. 29) versteht.
Tanja Bogusz beschäftigt sich in Anlehnung an Latour mit der Frage, „was eine Soziologie kritischer Öffentlichkeiten ausgehend von einer experimentellen und engagierten Soziologie leisten kann“ (S. 284). Ein solches Soziologieverständnis verortet sie im amerikanischen Pragmatismus und nennt es „praxistheoretisch informiert“ (ebd.). In den Science und Technology Studies sieht Bogusz im Moment am ehesten eine forschungspraktische Realisierung dieses Verständnisses. Sie verbindet die Forschungslogik von John Dewey mit der pragmatischen Soziologie der Kritik und den Science and Technology Studies. Darin sieht sie einen adäquateren Kritikbegriff als ihn gegenwärtig andere kritische Theorien liefern, die auf die „Herausforderungen des globalen Wandels und die Bedürfnisse partizipativer Wissensgesellschaften“ reagieren (ebd.).
Cornelius Schubert schreibt über techno-korporale Instabilitäten in der technisierten Medizin. Er stellt noch einmal die Idee praxistheoretischer Perspektiven heraus, „dass gesellschaftliche Strukturen notwendigerweise in unterschiedlichen Materialitäten, speziell in Körpern und Techniken, verdauert werden (müssen)“ (S. 301). Schubert zeigt am Beispiel der modernen Medizin, „wie Körper und Techniken praktische Unbestimmtheiten in Behandlungsvollzügen erzeugen können“ und er diskutiert die daraus resultierenden konzeptuellen Fragen (S. 302).
Der letzte Beitrag im dritten Kapitel – und zugleich auch der letzte Beitrag des Sammelbandes – nimmt noch einmal eine pragmatische Perspektive auf soziale Praktikenein, die sich jenseits des Dualismus zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘ verortet. Alexander Antony möchte ein breites Verständnis sozialer Praktiken skizzieren, „das sich zwar an grundlegenden Überlegungen praxeologischer Zugänge orientiert, das aber nicht all jene Aspekte vorschnell über Bord wirft, die vermeintlich dem rein Subjektiven und Innerlichen zuzurechnen sind.“
Diskussion
Bei einer genauen Lektüre der verschiedenen Beiträge im Sammelband entsteht oft doch eine gewisse Verwunderung, warum bisher pragmatistische Theorien und Theorien sozialer Praktiken so selten zusammen gedacht wurden oder sie sich in vielen Fällen gar ablehnend gegenüberstanden. Die verschiedenen Beiträge schaffen es, den Mehrwert der gemeinsamen Theoriediskussion herauszustellen und dabei nicht in einer Art Euphorie zu münden, die kritische Anmerkungen zur Kompatibilität beider Theorieansätze völlig aus der Welt schafft. Es werden durchaus auch immer die Grenzen des Dialogs und der Integration der einen in die andere Theoriewelt und wieder zurück deutlich gemacht. Und doch wird mit den Beiträgen klar, dass beide Diskussionsstränge zumindest so nahe beieinander liegen, dass ein weiterer Theoriedialog durchaus wichtige Akzente für die Theoriebildung insgesamt liefern kann.
Lediglich die Methodologischen Konsequenzen im dritten Kapitel wirken in ihrer Darstellung noch etwas heterogen, was aber wohl daran liegt, dass die viel stärker theoretischen Ausführungen in den ersten beiden Kapiteln insgesamt recht rund erscheinen. Dies ist wohl auch auf die häufigen Rückgriffe zentraler Ansätze wie von Bourdieu oder Mead in den ersten beiden Kapiteln zurückzuführen, die in fast allen Beiträgen immer wieder aufgegriffen werden. Möglicherweise würde es sich lohnen, den Fragen der Methodologie an der Schnittstelle von Praxistheorie und Pragmatismus noch einmal gesondert Platz einzuräumen.
Fazit
Der Sammelband erfüllt sein Versprechen, indem er nicht nur (aber eben doch auch) einen Theorievergleich produziert, sondern Ansätze und Anregungen aufgreift, die zu einer Weiterentwicklung der beiden bisher größtenteils getrennt geführten Theoriediskussionen führen. Besonders positiv ist hervorzuheben, dass die einzelnen Beiträge des Sammelbands nicht so gestaltet sind, dass nur diejenigen ein Verständnis für das Geschriebene entwickeln können, die sich bereits mit einem der beiden Theoriestränge (oder gar beiden) ausgiebig beschäftigt haben. Vielmehr führen die steten Rekapitulationen zentraler praxistheoretischer und pragmatistischer Positionen dazu, dass die in den Beiträgen entwickelten Schlussfolgerungen gut nachvollzogen werden können.
Rezension von
Patrick Reitinger
M.A.,
Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften, Professur für Historische Geographie
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Zitiervorschlag
Patrick Reitinger. Rezension vom 17.04.2018 zu:
Hella Dietz, Frithjof Nungesser, Andreas Pettenkofer (Hrsg.): Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Vom Nutzen einer Theoriedifferenz. Campus Verlag
(Frankfurt) 2017.
ISBN 978-3-593-50722-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23661.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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