Birgit Behrensen: Was bedeutet Fluchtmigration?
Rezensiert von Prof. Dr. Julia Franz, 10.01.2018

Birgit Behrensen: Was bedeutet Fluchtmigration? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2017.
101 Seiten.
ISBN 978-3-525-40477-5.
D: 12,00 EUR,
A: 12,40 EUR.
Reihe „Fluchtaspekte“, herausgegeben von Maximiliane Brandmeier, Barbara Bräutigam, Silke Birgitta Gahleitner und Dorothea Zimmermann.
Thema
Es scheint, als verstehe sich das Thema Fluchtmigration von selbst, als Thema zumal für die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, Beratung und Psychotherapie. Das soziale Problem Fluchtmigration machte Karriere, seit im Sommer 2015 die Krise europäischer Migrationspolitik und Grenzregime öffentlich sichtbar wurde. Zwar hatten Geflüchtete in Deutschland längst vorher versucht, auf ihre Situation in Lagern, mit Residenzpflicht, ohne Perspektiven aufmerksam zu machen (2012 setzte sich ein Marsch Geflüchteter von Bayern aus in Bewegung und errichtete in Berlin ein Protestcamp auf dem Oranienplatz). Doch erst seit der stärkeren Zunahme der Geflüchteten im Jahr 2015 hat sich in den öffentlichen Institutionen der deutschen Migrationsgesellschaft etwas getan, und zwar viel Widersprüchliches in Bezug auf die Asylgesetze, die Regulierung des Arbeitsmarktes, die Verwaltung der Asylverfahren und Integrationsmaßnahmen. In diesem unübersichtlichen Feld finden sich Sozialarbeitende, Berater_innen und Therapeut_innen wieder, die unter spezifischen organisationalen Bedingungen mit Geflüchteten arbeiten und dabei ihrem professionellen Mandat verpflichtet sind.
In unterschiedlichen Formaten wurden seither Positionierungen, Analysen und Orientierungshilfen veröffentlicht. In diesen Kontext gehört auch die Buchreihe „Fluchtaspekte“ mit ihrem ersten Band „Was bedeutet Fluchtmigration? Soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis“ von Birgit Behrensen. Die Reihe steht neben professionspolitischen Stellungnahmen (vgl. das Positionspapier zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften von 2016 unter www.fluechtlingssozialarbeit.de/), Schwerpunktausgaben von Fachzeitschriften (besonders hervorzuheben: Heft 141 der Zeitschrift WIDERSPRÜCHE, September 2016) und systematisierenden Werken wie dem 2018 erscheinenden umfassenden Sammelband zu Sozialer Arbeit in der Migrationsgesellschaft, der Grundlagen, Konzepte und Handlungsfelder vorstellt (hg. von Blank/Gögercin/Sauer/Schramkowski, i.E.).
Autorin und Reihenherausgeberinnen
Birgit Behrensen ist Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin. Seit Februar 2017 ist sie Professorin am Institut Soziale Arbeit der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg. Sie engagiert sich als Vorstandsmitglied im Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN).
Die vier Herausgeberinnen der Reihe „Fluchtaspekte“ Maximiliane Brandmeier, Barbara Bräutigam, Silke Birgitta Gahleitner und Dorothea Zimmermann sind Psychologinnen. Ihre Perspektiven gründen in der psychosozialen Arbeit mit Geflüchteten sowie in Forschung und Lehre in Studiengängen der Sozialen Arbeit bzw. Beratung.
Entstehungshintergrund
Entstanden ist diese Buchreihe, die mit dem Band „Was bedeutet Fluchtmigration?“ eröffnet wird, infolge der Migrationsbewegungen im Jahr 2015 und dadurch aktualisierten Fragen und Überlegungen in der Praxis psychosozialer Berufe. Die ersten vier Bände erschienen 2017. Neben dem hier besprochenen Buch sind dies die Titel:
- Gewalt, Flucht – Trauma? (von Karin Mlodoch)
- Fluchthintergründe: Fluchtbewegungen in individuellen und globalen Kontexten (von Sibylle Rothkegel)
- Psychosoziale und traumapädagogische Arbeit mit geflüchteten Menschen (von Silke Birgitta Gahleitner, Dorothea Zimmermann und Dima Zito).
Auf der Verlagsseite erfährt man mehr über die Erfahrungen und Überlegungen der Herausgeberinnen.
Aufbau und Inhalt
Die ca. 80 Seiten des Buches sind in acht Kapitel untergliedert, darunter Vorwort und Ausblick.
Im 2. Kapitel werden zunächst die Termini „Flüchtlinge“ und „Geflüchtete“ mit Blick auf den Subjektstatus der so Bezeichneten interpretiert und – über Sprachidealismus hinausgehend – mit Dominanzkultur (Rommelspacher 1998) in Zusammenhang gebracht.
Es folgen eine Zusammenstellung aktueller Zahlen zu Menschen auf der Flucht in Kapitel 3 und das größere 4. Kapitel zu Fluchtursachen und globalen Verflechtungen. Dabei legt Behrensen Wert auf (globale) Zusammenhänge von Krieg und Terror, Klimakatastrophen und Hunger, Diskriminierungen und sozialen Benachteiligungen, anstatt schematisch Faktoren freiwilliger und erzwungener Migration (Fluchtmigration) aufzulisten. So geht sie beispielsweise auf die Entwicklung im Irak ein, wo im Zuge des Dritten Golfkrieges die zentrale Saatbank zerstört wurde und durch US-Hilfslieferungen genetisch veränderten Saatgutes für Getreide eine dauerhafte Abhängigkeit der irakischen Landwirtschaft von Agrarhandelskonzernen entstand (S. 33 f.).
Im 5. Kapitel zur Flüchtlingsschutzkrise geht es um Paradoxien, die sich aus den schon lange globalisierten Wirtschaftsbeziehungen und Migrationsbewegungen, beschleunigter globaler Produktion und Vernetzung sowie nationalstaatlicher Regulierungen der Migrationspolitik ergeben. Nationalstaatlich definierte wirtschaftliche und politische Interessen lassen sich nicht mit der Anerkennung universeller Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention kurzschließen. Behrensen konstatiert, dass diese „nationalstaatlichen Paradoxien“ an die europäischen Außengrenzen verschoben werden. Sie gibt einen kurzen Überblick zu den Regelungen des europäischen Grenzregimes seit 1985 und stellt unter Rückgriff auf Berichte zu den Lagern in Libyen und Zahlen der auf der Flucht Getöteten die damit verbundenen Konflikte dar (S. 50 ff.). Fluchtmigration wird schließlich als Bewegung mit eigener Kraft reflektiert, die sich dem Wettbewerb um Arbeitskräfte nicht einfach einfügen lässt.
Zur Flüchtlingsintegration in Deutschland zeichnet die Autorin im 6. Kapitel aktuelle Dilemmata nach, etwa das der ungleichen Macht- und Ohnmachtsverhältnisse zwischen Geflüchteten und Einheimischen angesichts der auch innerhalb Deutschlands weiter auseinanderdriftenden Status- und Besitzverhältnisse (S. 55 ff.). Ein weiteres Dilemma ist die Adressierung von Flüchtlingen durch migrationsgesellschaftliche Institutionen (z.B. der Sozialen Arbeit), denn die so Adressierten werden damit zugleich zum passiven Opfer stilisiert und kaum als Akteure wahrgenommen (S. 61 ff.). Schließlich weist die Autorin auf die systembedingten Entmündigungen der Verwaltung, Unterbringung und Kontrolle hin, denen geflüchtete Menschen in Deutschland unterliegen, insbesondere in Sammelunterkünften. Das betrifft aber auch das Verwaltungshandeln, etwa des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das 2016 durch die Unternehmensberatung McKinsey beraten und optimiert wurde, was entmündigende Wirkungen zeitigt (S. 74).
Für die berufliche Praxis werden im 7. Kapitel Implikationen für die Praxis dargelegt, entlang von Bildung und Ausbildung, Empowerment und Partizipation, Kontextkompetenz und Netzwerkarbeit.
Diskussion
Im Bereich Flucht/Migration stellt sich immer die Frage, wer über wen spricht. Als Professorin ohne Flucht-/Migrationserfahrung (das betrifft nicht nur die Autorin Birgit Behrensen, sondern auch mich, die Rezensentin) soziologische Erkundungen für die psychosoziale Praxis vorzulegen ist etwas anderes, als aus einer alltäglichen professionellen Praxis in einem Beratungszentrum oder aus der Perspektive Geflüchteter in einer Sammelunterkunft zu berichten und von hier aus zu analysieren, was Fluchtmigration bedeutet. Für geflüchtete, migrierte bzw. als fremd geltende Menschen ist das Analysieren der Migrationsgesellschaft eine existenzielle Sache, auch in einer Berufsrolle als Sozialarbeitende, Therapeut_in oder Professor_in. Dem Gegenstand angemessen ist eine Würdigung der verschiedenen Perspektiven unter Einbeziehung des eigenen Standortes, und entsprechend ist auch der hier vorgestellte Band einzuordnen. Behrensen gibt auch darauf Hinweise (S. 60 f.). Was Fluchtmigration bedeutet, welche Konflikte sich darin zeigen, wie zu handeln sei, bleibt weiterhin zu erkunden.
Fazit
Der 80 Seiten schmale Einführungsband von Birgit Behrensen lässt sich sehr gut lesen und führt hervorragend in wichtige Konflikte ein, deren Kenntnis wichtig für migrationsgesellschaftliche Öffnungsprozesse ist. Der Text ist sehr gut strukturiert und gibt – auf der Basis aktueller Informationen – Impulse zur weiteren Recherche und Vertiefung.
Literatur
- Blank, Beate/Gögercin, Süleyman/Sauer, Karin E./Schramkowski, Barbara (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen? Konzepte – Handlungsfelder. Wiesbaden: Springer VS (i.E.).
- Positionspapier „Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – Professionelle Standards und sozialpolitische Basis“, 2016. Online unter www.fluechtlingssozialarbeit.de/
- Redaktion Widersprüche (Hg.): Flucht – Provokationen und Regulationen. 36. Jg., Heft 141, September 2016.
- Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda, 2. Auflage 1998.
Rezension von
Prof. Dr. Julia Franz
Alice Salomon Fachhochschule Berlin
Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Fallverstehen
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