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Christoph Held: Bewohner. Aufzeichnungen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 09.03.2018

Cover Christoph Held: Bewohner. Aufzeichnungen ISBN 978-3-03820-050-5

Christoph Held: Bewohner. Aufzeichnungen. Dörlemann Verlag AG (Zürich) 2017. 160 Seiten. ISBN 978-3-03820-050-5. 20,00 EUR.

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Thema

Altenpflegeheime sind besondere Örtlichkeiten des Wohnens, denn hier leben überwiegend Hoch- und Höchstbetagte mit meist mehreren Gebrechen des Alters. Diese Bewohner sind hinfällig und damit hilfe- und pflegebedürftig, meist aufgrund ihrer demenziellen Erkrankung. Sie verbringen im Durchschnitt mehrere Jahre in diesen Heimen, bevor sie dort oder im Krankenhaus im Falle einer Akuterkrankung versterben. In dem vorliegenden schmalen Buch reflektiert ein Heimarzt aus Zürich seine eigenen Erfahrungen mit dieser Lebenswelt u.a. anhand des Krankheitsverlaufes einiger Bewohner, die ihm als Arzt anvertraut waren.

Autor

Christoph Held ist als Heimarzt und Gerontopsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich und im Gesundheitszentrum Dielsdorf tätig. Er hat einen Lehrauftrag an der Universität Zürich und unterrichtet in Fachhochschulen über Demenz. Des Weiteren wirkt er als Fachbuchautor (siehe u.a. www.socialnet.de/rezensionen/14800.php).

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist in sieben Abschnitte oder Kapitel ohne Überschriften unterteilt. Es handelt sich hierbei um Aufzeichnungen von sieben Bewohnern aus den Heimen des Tätigkeitsbereiches des Autors. Thematisch werden die Darstellungen von dem Krankheitssymptom „fehlende Krankheitseinsicht“ (Anosognosie) zusammengehalten, die im Vorwort erwähnt wird. Diese psychiatrische und neuropsychiatrische Symptomatik gehört u.a. auch zum Krankheitsbild der Demenzen im fortgeschrittenen Stadium (www.socialnet.de/rezensionen/4043.php).

Folgende Bewohnerschicksale werden hier expliziert:

  • Das tragische Los einer Schauspielerin wird beschrieben, die trotz bereits beginnender Demenz noch in der Lage war, im Stadttheater ihre Auftritte, meist Nebenrollen, angemessen zu beherrschen. Da sie allein lebte, bekam ihre Umgebung teils aufgrund auch ihrer guten Haltung oder eher Fassade nicht mehr mit, dass sie zu einer angemessenen und eigenständigen Lebensführung nicht mehr fähig war, denn die Wohnung war beim Heimeintritt völlig verwahrlost und vermüllt. Aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht zeigte sie im Heim immer wieder das Verlangen nach einem Bühnenauftritt in ihrer alten Wirkungsstätte.
  • Es wird aufgezeigt, wie sich ein ehemaliger Verwaltungsratspräsident eines großen Unternehmens, der in den oberen und höchsten Kreisen gesellschaftlich verkehrte, im Heim verhält. Aufgrund der Anosognosie konnte er sich im Heim nicht einordnen, weil er sich noch in seiner Chefposition fühlte. Er wurde im neuen Lebensumfeld äußerst bösartig und giftig zu den Mitarbeitern, auf die er mit Hochmut und Verachtung herabblickte.
  • Eine italienische Arbeitsemigrantin, die aufgrund ihrer Tatkräftigkeit den Aufstieg zu einer angesehenen Köchin und Restaurantbesitzerin erzielte, musste ihr Lokal schließen, da sie aufgrund der demenziellen Erkrankung ihre Tätigkeit nicht mehr angemessen ausführen konnte. Auch ihr wurde der schleichende Abbau ihrer geistigen Kompetenzen nicht bewusst.
  • Das Leiden und mehr noch das Sterben eines Mannes, der aufgrund einer jahrzehntelangen Suchterkrankung multimorbid erkrankt war, wird medizinisch nüchtern als Verlauf und Falldarstellung im Heimalltag erläutert.
  • Der Lebensweg einer Pharmareferentin, die es durch Eheschließung mit einem wohlhabenden älteren Geschäftsmann und Erbschaft nach dessen Ableben zu stattlichem Immobilienbesitz gebracht hat, wird in diesem Abschnitt aufgezeigt. Hierbei geht es u.a. um rechtliche Vermögensfragen beim Vorliegen einer Vormundschaft, denn die Neffen der demenzkranken Bewohnerin möchten in den Besitz des Vermögens gelangen.
  • Das Cotard-Syndrom steht bei der nächsten Falldarstellung im Mittelpunkt. Bei dieser wahnhaften psychiatrischen Symptomatik hat der Betroffene das Empfinden, dass er bereits verstorben wäre. Er hält sich für tot. In dem beschriebenen Fall handelt es sich um eine Bewohnerin, die durch das einfühlende Verhalten eines Pflegers viel von ihrem ablehnenden und abweisenden Verhalten den Pflegenden gegenüber verliert und teils wieder etwas Lebensmut gewinnt. Umso tragischer ist der Umstand, dass das Leben der Bewohnerin unerwartet durch Suizid (Fenstersturz) endet.
  • Die letzte Geschichte handelt von einem ehemaligen Kellner, der die meiste Zeit seines Berufslebens in Paris verbrachte. Er schwärmte ständig von Paris, konnte jede Arbeitsstelle auf dem Stadtplan zeigen und sprach dabei französisch. Als die Pflegenden daraufhin eine Reise mit ihm nach Paris organisieren wollten, waren sie umso mehr enttäuscht, als der Bewohner sich in heller Aufregung vehement weigerte, für die Reise mit gepacktem Koffer sein Zimmer zu verlassen. Er befürchtete wohl, aus dem Heim ausziehen zu müssen.

Diskussion und Fazit

Sieben Geschichten oder Episoden aus dem großen Spektrum Pflegeheim mit all seinen Eigentümlichkeiten werden hier offeriert. Man spürt deutlich, dass in diesem Kosmos Altenpflegeheim vielerlei jahrzehntelange Lebensgeschichten und Leidensgeschichten unterschiedlichster Herkunft zusammengefügt werden. Vergangenheit und Gegenwart prallen hier aufeinander, denn Erinnerungen im Kontext des episodischen Gedächtnisses bilden oft den Erlebenshorizont der Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium.

Dem Autor ist es vortrefflich gelungen, diese Widersprüchlichkeiten in Gestalt von Realitätsverlusten und Realitätsverzerrungen in den Falldarstellungen anschaulich und auch äußerst sensibel darzustellen. Für Außenstehende, die den Heimbetrieb und hierbei besonders das Verhalten der Demenzkranken nicht genauer kennen, wirkt vieles jedoch recht unverständlich. Der Rezensent hingegen, der selbst mehrere Jahre in einem geriatrischen Krankenhaus und in einem Altenpflegeheim auf einer gerontopsychiatrischen Station gearbeitet hat, kann die hier beschriebenen Verhaltensweisen der Bewohner und auch die Umgangsformen der Mitarbeiter nachvollziehen, hat er doch ähnliches tagtäglich erlebt.

Erstaunen beim Rezensenten ruft das scheinbar fehlende Fachwissen des Autors über die Strukturlogik des Abbauprozesses bei neurodegenerativen Demenzen hervor, wenn auf Seite 149 angeführt wird: „Seltsamerweise erleben aber alle Bewohner die genau gleiche Abfolge von Verlusten dieser scheinbar selbstverständlichen Fertigkeiten, ganz egal, ob jemand Prokurist einer Firma, Kellner in einem Restaurant oder Handarbeitslehrerin an einer Schule gewesen ist.“ Somit sind wohl die Reisberg-Skalen und Braak-Stadien einschließlich des Wissensstandes über den Abbauprozess als Rückwärtsentwicklung gemäß der Hirnreifung (Retrogenese) nicht bekannt.

Die vorliegende Arbeit ist schwer zu klassifizieren. Es handelt sich weder um ein Sachbuch, noch um ein Fachbuch. Der Begriff „Aufzeichnungen“ ist mehrdeutig, lässt auch eine autobiografische Komponente zu. Für ein genuin literarisches Werk hingegen ist es zu fachspezifisch, denn hier dominieren medizinische, pflegerische und auch heimorganisatorische Aspekte.

Als Fazit kann die Einschätzung gegeben werden, dass das vorliegende Buch für Personen geeignet ist, die in Heimen für Demenzkranke arbeiten bzw. gearbeitet haben. Sie werden vieles aus ihrem Heimalltag in den Geschichten wiederfinden und vielleicht auch noch manch Neues.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 222 Rezensionen von Sven Lind.

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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 09.03.2018 zu: Christoph Held: Bewohner. Aufzeichnungen. Dörlemann Verlag AG (Zürich) 2017. ISBN 978-3-03820-050-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23699.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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