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Gunter Gebauer, Manfred Holodynski et al.: Von der Emotion zur Sprache

Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 12.07.2018

Cover Gunter Gebauer, Manfred Holodynski et al.: Von der Emotion zur Sprache ISBN 978-3-95832-133-5

Gunter Gebauer, Manfred Holodynski, Stefan Koelsch, Christian von Scheve: Von der Emotion zur Sprache. Wie wir lernen, über unsere Gefühle zu sprechen. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2017. 250 Seiten. ISBN 978-3-95832-133-5. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema

„Von der Emotion zur Sprache“ – dieses Thema öffnet einen breiten thematischen Fächer, der sich von der Frage nach der Ontologie von Emotionen über ihren intra- und interpersonalen Ausdruck, die Möglichkeit sie zu erfahren und/oder zu beobachten bis hin zu der Frage nach ihrer sprachlichen Erfassung und gleichzeitig der Interdependenz der hier erwähnten Punkte erstreckt. Schon allein eine knappe Definition von Emotionen kann nur multiperspektivisch und interdisziplinär erfolgen, involviert diese doch bereits hochgradig differenzierte und diffizile Bereiche der menschlichen Psyche und ihrer Interaktion.

  • Wie lassen sich Affektzustände, die sich tief aus dem „Reptiliengehirn“, dem tiefsten zerebralen Stockwerk entäußern, so kanalisieren, regulieren, sozialisieren und enkulturalisieren, dass man darüber sprechen kann?
  • Funktioniert das überhaupt? Entsteht nicht immer auch eine Diskrepanz zwischen dem Gefühlten und dem, was letztendlich versprachlicht wird?

Im vorliegenden Sammelband widmet sich ein hochkarätiges und interdisziplinär aufgestelltes Autorenteam in erster Linie der Frage, wie sich im Laufe der frühkindlichen Entwicklung und darüber hinaus Emotionen manifestieren und danach in Sprache übersetzen lassen.

Autoren

Gunter Gebauerist Professor em. für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Mitbegründer und Forscher am Sonderforschungsbereich ‚Kulturen des Performativen‘ und am Exzellenzcluster ‚Languages of Emotion‘ an der Freien Universität Berlin.

Manfred Holodynski ist Professor für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung der Universität Münster. 2010 war er Gastprofessor am Exzellenzcluster ‚Languages of Emotion‘ an der Freien Universität Berlin.

Stefan Koelsch ist Professor für biologische Psychologie und Musikpsychologie an der Universität Bergen (Norwegen). Er promovierte und habilitierte sich am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (Leipzig), wo er die selbstständige Nachwuchsgruppe ‚Neurocognition of Music‘ leitete.

Christian von Scheve ist Professor für Soziologie und Leiter des Arbeitsbereichs ‚Soziologie der Emotionen‘ am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Zudem ist er Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin.“ (Klappentext)

Entstehungshintergrund

In ihrer gemeinsam verfassten Einleitung skizzieren die Autoren den Hintergrund ihrer Studien und bieten einen Problemaufriss: Ausgehend von Wittgensteins Metapher der „herrenlosen Zahnschmerzen“ führen sie aus, dass sich extreme Empfindungen von ihrem Subjekt lösen können, sich nach ihrer supponierten Domestizierung wieder in einen Naturzustand begeben, der sich Kultur und Sprache entzieht. Hier zeige sich, dass die körperlichen Prozesse, die bei Emotionen eine Rolle spielten, nicht aus ihrem biologischen Kontext gelöst und unmittelbar versprachlicht werden könnten. Wenn Wittgenstein sich in seinem Privatsprachenargument gegen die Möglichkeit wende, sich in einer individuellen Sprache mit anderen über ureigene innere Empfindungen auszutauschen, dann weise er gleichzeitig die These zurück, dass man mit den sprachlich kodifizierten Begriffen für Emotionen ebendiese Empfindungen ausdrücken könne. Sprache über Gefühle bleibe defizitär, denn die präverbale psychische Macht der Affektwelt lasse sich nur bedingt in Worte fassen, anderen Menschen vermitteln und mit deren Emotionen vergleichen. Wittgenstein lernen Menschen im Verlauf ihrer Entwicklung in sogenannten Sprachspielen, in Sprachsituationen, an denen ein Gegenüber beteiligt ist, über Emotionen und den Umgang mit ihnen zu sprechen. Vor diesem Hintergrund besteht das Hauptinteresse der Autoren darin, den Spracherwerb in puncto Emotionen nachzuzeichnen. Der Frage nach der Möglichkeit des Austauschs über Emotionen geben sie damit einen entwicklungspsychologischen Twist, der sich in Philosophie, Psychologie, Neurobiologie und Soziologie vollzieht.

Aufbau

Nach dem interdisziplinären Auftakt in der Einleitung und dem ersten Kapitel gliedert sich die Publikation in vier große Beiträge, in denen die Verfasser das Thema „Von der Emotion zur Sprache“ aus der Perspektive ihres eigenen Fachbereichs heraus entfalten. Am Ende steht – ganz konsequent – ein gemeinsames Schlusswort.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Was sind Emotionen?“ – das fragen sich Gebauer, Holodynski, Koelsch und von Schewe zu Beginn. Um sich einer Antwort anzunähern, grenzen sie Emotionen von Stimmungen ab (Emotionen sind im Gegensatz zu Stimmungen von kurzer Dauer und von einem Anlass getriggert), bevor sie fünf „Komponenten einer prototypischen Emotion“ benennen und erläutern: Am Anfang stehe die kognitive Komponente einer Emotion, in der die betroffene Person eine „Bewertung der realen oder nur vorgestellten Situation“ im Hinblick auf ihre Ziele und Bedürfnisse vornehme. Darauf folge die „Regulation der körperlichen Reaktionen“ und die Bereitstellung von Energie für Flucht oder Verteidigung, bevor es um „Handlungsbereitschaft und die Ausrichtung von Bewältigungshandlungen“ gehe, dies sei die „motivationale Komponente“. Dann komme der „emotionale Ausdruck“, die „Ausdruckskomponente“ (Schrei, Lachen usw.) und schließlich das „subjektive Gefühl“ („Gefühlskomponente“ oder „Emotionsperzept“) hinzu, das der Person die in ihr ablaufenden Reaktionen vergegenwärtige. Zu dem Genannten trete zum einen die soziale Reaktion auf Emotionen – die normative Bewertung „durch historisch kontingente Diskurse und kulturelle Praktiken“ – und die persönliche Reaktion als „willentliche Regulation einer Emotion“ (S. 19/20). Eine grundsätzliche Frage, die sich in diesem Kontext stelle, beziehe sich auf den Konnex zwischen dem emotionalen Ausdruck und dem subjektiven Gefühl.

Gunter Gebauers Ausführungen im zweiten Kapitel ranken sich um die Frage, wie man über Emotionen sprechen kann („Wie können wir über Emotionen sprechen?“). In der epistemologischen Debatte zwischen zwei philosophischen Schulen (die eine nimmt beim Sprechen über Emotionen das jeweils fühlende Subjekt zum Ausgangspunkt, die andere einen möglichen Beobachter) offenbare sich eine „Asymmetrie“ von Selbst- und Fremdaussagen über Emotionen, von der man jedoch nicht wisse, ob sie wirklich bestehe. Ergänzend trete die Frage hinzu, ob man den Selbstäußerungen oder der Beobachterperspektive einen höheren Stellenwert zuschreibe. Gebauer entwickelt im Verlauf seines Beitrags eine triadische Perspektive auf Emotionen, indem er sich an den drei grammatischen Personen Ich, Du, Er/Sie orientiert und grundlegend zwischen „Vollzug der Emotion“ (Ich), Teilhabe (Du) und Beobachtung (Du oder Er/Sie) differenziert. Unter philosophischen Gesichtspunkten, so das Ergebnis dieser ersten Betrachtung, scheine es ausgeschlossen, dass von dem Vollzug der Emotion, die nur der 1. Person zukomme, ein geradliniger Weg zum Sprechen über die Emotionen führe. Diese Argumentation geht mit Wittgensteins Privatsprachenargument konform. Nur in der Interaktion von Ich und Du, in der potenziellen Umkehrbarkeit der Perspektiven, könne sich das Sprechen über Emotionen entwickeln. Nur dann, wenn ein Kind mit seinen Bezugspersonen in das „Sprachspiel der Empfindungen“ eintrete, wenn die Erwachsenen die primitiven kindlichen Reaktionen adäquat spiegelten und verbal begleiteten, lerne das Kind im Laufe der Zeit, seine Emotionen zu versprachlichen. Gebauer lehnt sich in seinen Ausführungen unter anderem an die entwicklungspsychologischen Überlegungen von Wallon an: das Kind stelle sich einem Anderen gegenüber und beziehe aus dieser „Entfremdung“ eine erste Konzeption von sich selbst. Im Sprachspiel komme es zur Re-Konfiguration der emotionalen Beziehungen des Vollzugs, der Teilhabe und der Beobachtung, emotionales Verhalten werde durch sprachliche Begriffe erweitert. Nehme man die Empathie-Theorie von Keysers zum Ausgangspunkt, dann könne man drei Dimensionen eines interpretativen Kontextes unterscheiden: Beim Anblick emotionalen Verhaltens entwickle die Bezugsperson mit dem Kind Formen des sprachlichen Ausdrucks, im nächsten Schritt werde dies durch einen darstellenden Effekt ergänzt, das Kind zeige Emotionen in einem performativen Akt, und schließlich verstehe das Kind, dass der Emotionsausdruck bei seinen Bezugspersonen gleichartige Reaktionen auslöse. Dies sei eine „kommunikative Abgleichung“, die nicht unilateral von Eltern zum Kind verlaufe, sondern vielmehr einen Abstimmungsprozess und das gemeinsame Zuordnen von Bedeutungen impliziere. Schlussfolgernd bemerkt Gebauer, dass „die Re-Konfiguration des emotionalen Vollzugs im Sprachspiel mit Hilfe der beiden Perspektiven der zweiten Person, Teilhabe und Beobachtung“, die „anthropologische Bedingung der Möglichkeit des Sprechens über Emotionen“ sei (S. 79).

Im dritten Kapitel beleuchtet Manfred Holodynski die Frage, „wie Kinder lernen über Emotionen zu sprechen“. Eine Verbindung herzustellen zwischen dem „subjektiven Gefühl beim Vollzug einer Emotion und den wahrnehmbaren Ausdruckszeichen“, die Emotion also zu mentalisieren, sei eine grundlegende „Entwicklungs- und Erziehungsaufgabe“ (S. 86). „Die Beziehung zwischen Ausdruck, Sprache und Gefühl“ analysiert Holodynski in den folgenden Schritten:

  • „Feedbacktheorie des subjektiven Gefühls“ – erstmals vor über 100 Jahren in ersten Versionen formuliert, geht es hier um die Verbindung, die sich zwischen dem Erleben einer Emotion und objektiv messbaren Körperprozessen ergibt. Antonio Damasio spreche von „somatischen Markern“, denn man habe den Eindruck, dass Körperempfindungen quasi den Anlass einer Emotion markierten. Beides zusammen ergebe das „Emotionsperzept“.
  • „Die Verbindung von Vollzug und Teilhabe in einer Emotionsepisode“ – empathisches Mitfühlen bedeute an den Emotionen des Gegenübers zu partizipieren, was von der Feedbackkonzeption des subjektiven Erlebens erklärt werden könne. Tertium comparationis sei dabei der Ausdruck des Gefühls, der sich imitieren lasse. So sei ein „Körperfeedback beim Mitfühlen“ zu beobachten.
  • „Ebenen der Regulation von Handlungen und Emotionen“ – das empathische Miterleben werde durch die Regulation von Emotionen erweitert. Es entstehe eine Ko-Regulation zwischen Bezugsperson und Kind, eine „ontogenetische Ausgangsform, bei der sich feinfühlige Bezugspersonen in ihren Handlungen durch den Emotionsausdruck ihres Säuglings leiten und regulieren lassen“ (S. 97). Erforderlich bei den Bezugspersonen sei, dass sie sich ihrer Emotionen gewahr seien, dass bei ihnen eine „mindmindedness“ (ebd.) bestehe.
  • „Zeichen als Mittel der Gewahrwerdung“ – mit Zeichen bzw. Symbolen löst sich eine Person vom unmittelbaren Vollzug oder der Teilhabe, um sich auf eine Metaebene zu begeben, auf der sich Vollzug oder Teilhabe spiegeln. Mit Bühlers Organon-Modell lassen sich die Gemeinsamkeiten der Funktion von Ausdrucks- und Sprechzeichen illustrieren – alle repräsentierten etwas Drittes, haben eine Symbol- und damit einhergehend Referenzfunktion, alle seien zudem Ausdruck eines Senders und Appell an einen Empfänger. Auf dieser Matrix kommen Ausdrucks- und Sprachzeichen unterschiedliche Funktionen zu, die Holodynski auffächert (für die Ausdruckszeichen gelte: eingeschränkter Repräsentationsbereich, Referenz erste Person Gegenwart, einfache Kombinationen, die sich der verbalsprachlichen Syntax entziehen und ein Ausdruckslexikon, das kulturspezifisch sei; für die Sprachzeichen gelte: sie dienen der Regulation von Handlungen und Emotionen, Sprache ist Mittel der Repräsentation, der Handlungssteuerung sowie -planung; vgl. S. 100-109).
  • „Die Entwicklung der Beziehung von Ausdrucks- und Sprechzeichen zum Gefühl“ – nun gehe es um die Beziehung, die sich „zwischen den kindlichen Ausdrucks- und Körperempfindungen, die durch ein emotional bedeutsames Ereignis ausgelöst werden, und seinem subjektiven Gefühl im Laufe der Ontogenese“ entwickle, „bis ein Kind sich über seine Gefühle und die der anderen auch sprachlich verständigen“ könne (S. 108). Die wesentlichen Entwicklungsniveaus verlaufen über die spontan ausgelösten und ungerichteten Ausdrucksreaktionen eines Säuglings bis hin zu der Fähigkeit eine „Als-ob-Empfindung“ zu benennen, ein Gefühl, dem keine Ausdrucks- oder Körperreaktion entspreche (vgl. S. 109-115).

Nach der Erläuterung der Feedbacktheorie mit all ihren Konsequenzen geht Holodynski über zu dem Thema „Entwicklung von Emotionen und ihres subjektiven Gewahrwerdens“. Seine Ausführungen, erneut kleinschrittig aufgebaut, erweitern und vertiefen die zuvor kurz skizzierten Entwicklungsniveaus:

  • „Das Emotionsrepertoire von Neugeborenen“ bestehe aus fünf „Vorläuferemotionen“, nämlich Distress, Ekel, Erschrecken, Interesse und endogenes Wohlbehagen. Des Weiteren könne man bereits eine „Sensibilität für Kontingenzen“, nahezu ein „Kontingenzentdeckungsmodul“, bei Neugeborenen eruieren (die Wahrnehmung von Regelhaftigkeiten in der Wahrnehmung von Reizen) sowie „motorisches Mimikry“ (bereits Neugeborene sind in der Lage, bestimmte Mimiken ihrer Bezugspersonen nachzuahmen).
  • „Die Entstehung zeichenvermittelter, auf einen Anlass gerichteter Emotionen“ sei im Säuglings- und Kleinkindalter zu verorten, demnach richten sich die fünf Vorläuferemotionen nach einem Anlass aus und differenzieren sich; außerdem seien Kleinkinder am Ende des 1. Lebensjahres in der Lage, Emotionen zu mentalisieren, „eine Korrespondenz zwischen Emotionsausdruck und Emotionserleben herzustellen und den Ausdruck als intendierten Appell, also als ein kommunikatives Zeichen, gegenüber ihren Bezugspersonen einzusetzen“ (S. 123).
  • „Gefühl als sprachlich re-konfigurierte, auf einen Anlass gerichtete Empfindungen von Ausdrucks- und Körperreaktionen“ – eine erste Etappe auf diesem Weg sei das Verwenden konventionalisierter emotionaler oder appellativer Gesten gegen Ende des ersten Lebensjahres, z.B. eine Umarmung oder ein Kopfschütteln. Die ersten Emotionswörter lernen Kinder im Sprachspiel, im triangulären Blickkontakt, mit dem Kind und Erwachsener die Aufmerksamkeit auf dieselbe Sequenz aus der Realität richten. Die ersten Emotionswörter, mit noch instabiler Semantik, seien Wörter für Bedürfniszustände, so etwa hungrig, durstig oder müde. Ab dem Alter von zwei Jahren bilde sich allmählich die Fähigkeit zum kategorialen Gebrauch der Emotionswörter heraus, zeitgleich lernen die Kinder, emotionsbegleitende Ausdrucks- und Körperempfindungen zu benennen, was als behaviorales Verständnis von Emotionen klassifiziert werden könne. Auf dieser Grundlage wiederum erwerben die Kinder ein mentalistisches Wissensniveau, das auch die Unterscheidung von Ausdruck des Gefühls und Gefühl selbst erlaube und das Aufspüren einer möglichen Diskrepanz zwischen beidem ermögliche.
  • „Gefühl als sprachlich rekonfigurierte, auf einen Anlass gerichtete Als-ob-Empfindungen von Ausdrucks- und Körperreaktionen“ – in diesem letzten Stadium der emotionalen Entwicklung, das bei den meisten Kindern zwischen sieben und acht Jahren erreicht sei, könne das subjektive Erleben des Gefühls von seinem Ausdruck abgekoppelt werden, ein nach außen nicht wahrnehmbares, ein „Als-ob-Gefühl“ (Damasio) bilde sich heraus. Der Gefühlsausdruck könne sich internalisieren, ein mentalistisches Emotionsverständnis entstehe, das die Voraussetzung für ein „Emotionsdisplay“ biete – die Fähigkeit, ein Gefühl ausdrücken zu können, das nicht authentisch sei, d.h. auf der Inkongruenz zwischen Gefühlserleben und Ausdruck beruhe.

In einer Zusammenfassung seines über 100 Druckseiten umfassenden Beitrags betont Holodynski, dass erst dann mit der sprachlichen Re-Konfigurierung der Emotionen begonnen werden könne, „wenn das Kind durch unzählige Emotionsepisoden mit dem jeweiligen Affektspiegeln seiner Bezugsperson verstanden“ habe, „dass der inszenierte Ausdruck seiner Bezugspersonen auf sein erlebtes Gefühl“ verweise (S. 171). Nun entstehe nicht nur eine private Gedankenwelt, sondern ebenso eine private Gefühlswelt.

Vom Affekt zur Emotion und von der Emotion zum Wort – Neurobiologische Korrelate“ – so ist das Kapitel von Stefan Koelsch überschrieben, der zu Beginn die Verwendung des Begriffs „Emotionsperzept“ vorschlägt, um damit zu unterstreichen, dass ein subjektiv erlebtes Gefühl ursprünglich präverbal ist. Koelschs Anliegen ist es zu zeigen, was bei der Vollzugs- und Teilhabeperspektive auf neurobiologischer Ebene geschieht. Oftmals seien beim Vollzug von Emotionen dieselben Hirnstrukturen aktiv wie bei der Teilhabe an Emotionen. Grundlegend sei zwischen Affekt und Emotion zu unterscheiden, „weil Affektivität in Affektzentren als Quelle affektiver Affektivität aufgefasst wird, die gemeinsam mit der Aktivität sogenannter emotionaler Effektorsysteme zum Erleben eigener Emotion“ führe (S. 191). Koelsch präsentiert zunächst die Affektsysteme:

  • „Das Orbitofrontal-zentrierte Affektsystem“ als das phylogenetisch jüngste System. Der OFC (= Orbitofrontalkortex) sei für nicht-bewusste kognitive Bewertungsprozesse zuständig und erzeuge Affekte, die auf sozialen Normen und überlieferten Glaubenssätzen basierten („Schuld, Scham und Schande“). Koelsch setzt den OFC mit dem Unbewussten gleich und führt aus, dass dieses automatisch somatische Marker hervorbringe, die im Hinblick auf die Auswahl von Alternativen bei einem Affekt relevant seien.
  • „Das Hippocampus-zentrierte Affektsystem“. Entwicklungsgeschichtlich früher ausdifferenziert als das Orbitofrontal-zentrierte Affektsystem, sei das System zuständig für alle „bindungsbezogenen Emotionen“ (S. 197), so etwa Liebe, Mitgefühl oder Sympathie. Der Hippocampus sei eine Art „Seele im Gehirn“ und vermutlich der einzige Hirnbereich, in dem heftiger emotionaler Stress zum Niedergang von Neuronen führe.
  • „Das Diencephalon-zentrierte Affektsystem“, bestehend aus „Thalamus, Hypothalamus/Hypophyse und Epithalamus“ (S. 199), befinde sich auf dem Hirnstamm und habe sich später entfaltet als dieser. Während der Thalamus vorwiegend an der Hervorbringung der Schmerzwahrnehmung beteiligt sei, überwache und steuere der Hypothalamus hormonelle Funktionen und bringe „basale Verhaltensmuster wie Angriffs-, Verteidigungs-, Fürsorge- und Sexualverhalten“ (S. 200) hervor.
  • Das „Hirnstamm-zentrierte Affektsystem“, hervorgehend aus der evolutionär ältesten Gehirnschicht, zeichne für Aktivierung oder Deaktivierung emotionaler Prozesse verantwortlich, die an eine Vielzahl von Unterstrukturen gekoppelt sei, die „Formatio reticularis“ (FR). „Die FR organisiert absteigende Aktivierung/Deaktivierung über das vegetative Nervensystem. Über vegetative Nervenfasern moduliert der Hirnstamm Aktivität aller Organe, die außerhalb des zentralen Nervensystems liegen und beeinflusst somit also zum Beispiel Herzschlag, Herzrate, Blutdruck, Atmung“ (S. 202).

Die vier Affektsysteme beweisen, dass die Differenz zwischen den Gefühlsqualitäten auf unterschiedliche Hirnsysteme zurückgeht. Vor diesem Hintergrund verfolgt Koelsch die Frage, wie „affektive Aktivität und deren Effekte (d.h. Aktivität der Affektsysteme und der emotionalen Effektorsysteme)“ (S. 204) ein Emotionsperzept generieren. Zu diesem Zweck erläutert er eine „Vierkomponententheorie des subjektiven Empfindens“ (ebd.). Man könne annehmen, dass am Entstehen des Emotionsperzepts eine affektive, eine sensorisch-interozeptive, eine motorische und schließlich kognitive Komponente beteiligt seien. In welcher Hirnstruktur letztendlich das Emotionsperzept synthetisiert werde, darüber bestehe keine Einigkeit in neurowissenschaftlichen Fachkreisen. Man könne allerdings sagen, dass bestimmte Kortices sowohl bei dem Vollzug einer Emotion als auch bei der Teilhabe daran aktiv seien, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass „neurobiologische Korrelate des Phänomens der Aktivierung eines Emotionsperzepts durch Perspektivübernahme“ existierten (S. 211). Unbekannt sei indessen ebenso der neuronale Vorgang beim Überführen eines Emotionsperzepts in Sprache. Abschließend erinnert Koelsch daran, dass der emotionale Ausdruck über unterschiedliche präverbale Signale vermittelt wird – „Gesicht, Geruch, Gestik, sowie affektive Prosodie“ (S. 214). Sprache beziehe sich in erster Linie auf das neokortikal-zentrierte Sprachsystem, dies stehe aber in Verbindung mit einem älteren limbischen Sprachgebungssystem. Alle Affekt- und Effektorsysteme seien vom Neokortex beeinflusst, sodass Verbalisierungen wiederum Prozesse in allen vier Affektsystemen anstoßen könnten. Der Weg vom Emotionsperzept zur Sprache verlaufe also auch in umgekehrter Richtung.

Die kulturelle Re-Konfiguration des emotionalen Ausdrucksverhaltens“ – so lautet der Titel des kulturwissenschaftlichen Beitrags von Christian von Scheve. Er intendiere – so Scheve – die vorsprachliche Entstehung von Intersubjektivität und Fremdverstehen herauszuarbeiten und dabei zu klären, wie dieser Zusammenhang kulturell geprägt sei und die sprachliche Re-Konfiguration bedinge. Scheve analysiert das mimische Ausdrucksverhalten, dessen Erforschung sich zwischen den Fronten der „biologischen Determiniertheit“ und der „sozialen Konstruiertheit“ bewege und auf der Annahme einer anthropologischen Gleichheit, einer ethnologischen Ununterscheidbarkeit des mimischen Ausdrucksverhaltens einerseits und der Annahme kulturell und historisch geprägter Normen andererseits beruhe. Wenn man aus der Vollzugsperspektive die „Enkodierung emotionaler Ausdruckszeichen“ betrachte, dann offenbare sich, dass Muster des mimischen Ausdrucks alle Kulturen transzendierten. Dies heiße aber nicht, dass sie eine allein biologische Grundlage haben, was schon allein der Verweis auf „Publikumseffekte“, instrumentelles Ausdrucksverhalten, beweise. Im Laufe der Evolution habe sich Ausdrucksverhalten vor allem als Mittel der sozialen Interaktion entwickelt. Im Zuge der „Dekodierung emotionaler Ausdruckszeichen“ seien die Emotionsausdrücke auch kulturübergreifend häufig gleich gedeutet worden, wobei es Abweichungen von der zugrunde gelegten Universalität der Verbindungen von Emotion und Ausdruck gebe: Nur „minimale Universalität“ liege dann vor, wenn der situative Kontext einer von Probanden zu erkennenden Emotion nicht kongruent zum mimischen Ausdrucksmuster sei (die Person auf einem Foto zeigt z.B. Ärger, befindet sich aber in einer angsterregenden Situation); das Modell der „graduellen Dekodierung“ beinhalte die Annahme, dass nicht alle Emotionen interkulturell zuverlässig gedeutet werden könnten und die sogenannten „Ausdrucksdialekte“ verwiesen auf einen „Eigengruppen-Effekt“, der die Universalität der mimetischen Muster konterkariere. Nachfolgend geht Scheve auf das Phänomen der „emotionalen Ansteckung“ ein, das neben Enkodierung und Dekodierung von Ausdruckszeichen für die Ausbildung von Intersubjektivität und schließlich die Versprachlichung von emotionalem Erleben relevant sei. Eine wesentliche Voraussetzung für das Sprechen über Gefühle sei auf der Basis einer Universalität des mimischen Ausdrucksverhaltens die kulturspezifische Re-Konfiguration dieses Ausdrucksverhaltens. Die Universalien erschienen ohnehin kaum in einer ungefilterten Form, denn soziale Normen und kulturelle Werte bedingten eine Hierarchie der Emotionen (manche werden mehr, andere weniger wertgeschätzt). Kulturelle Praktiken „verändern auf mehr oder weniger deutliche Weise das mimische Ausdrucksverhalten – sie rekonfigurieren es und passen es an dominante kulturelle Handlungsmuster an“ (S. 251).

In ihrem Schlusswort („Der Weg von der Emotion zur Sprache“) ziehen Gebauer, Holodynski, Koelsch und von Scheve ein gemeinsames Fazit. Es sei deutlich geworden, dass das erlebende Ich „keinen privilegierten Erkenntnisstatus in Bezug auf das Sprechen über seine Gefühle“ (S. 258) habe, ein empathisches und sprachmächtiges Du sei unabdingbar, um das Ich zu begleiten und in die Welt des Sprechens über den emotionalen Ausdruck zu initiieren. Die Autoren resümieren ihre Beiträge und damit die interdisziplinären Erkenntnisse zum Weg von der Emotion zur Sprache in sechs knapp gehaltenen, hier stichwortartig wiedergegebenen Punkten:

  • Emotion als System, das aus „Situationsbewertung, Ausdrucks- und Körperreaktionen sowie subjektivem Gefühl“ besteht.
  • Emotionsperzept als internes Feedback der Ausdrucks- und Körperreaktionen.
  • Kulturübergreifend angelegte Fähigkeit, sich von der Emotion einer anderen Person anstecken zu lassen und Empathie zu empfinden.
  • Vollzug einer Emotion im Ich, Teilhabe eines Du am Vollzug der Emotion im Ich, Beobachter der Emotion durch die Perspektive eines Er.
  • Wesentliche Rolle, die das mitfühlende und sprachmächtige Du an der Schnittstelle von Vollzug, Teilhabe und Beobachtung einnimmt; Re-Konfiguration der Emotion in der Sprache und somit ein für das Ich hergestellter Bezug von Gefühl und sprachlicher Bezeichnung.
  • Sprachliche und kulturelle Formung sowie soziale Kalibrierung von Emotionen in der Interaktion mit anderen.

Diskussion

„Von der Emotion zur Sprache“ punktet eindeutig mit den sowohl gemeinsam vorgetragenen als auch in den Einzelbeiträgen deutlich voneinander getrennten unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf Emotionen und die Möglichkeiten sie in Sprache zu fassen. Eine Art Leitmotiv aller Beiträge ist das sogenannte „Multikomponentenmodell“ der Emotionen, auf das sich die Autoren in ihrer Einleitung berufen und dem die Beiträge in den Einzeldisziplinen eine besondere Tiefe verleihen. Ein solches Modell mit all seinen polydimensionalen Weiterentwicklungen sollte unbedingt in Lehrbücher zur Psychologie und zur Früh- und Kindheitspädagogik integriert werden.

Ein großes Plus bei allen Beiträgen sind ausführliche Bibliographien, die eine Fundgrube für all jene darstellen, die selbst Interesse am Thema haben. Außerdem sind alle Kapitel kleinschrittig aufgebaut, was ebenfalls sehr begrüßenswert ist. Noch besser wäre es allerdings, wenn auch die Mikrogliederung im Inhaltsverzeichnis auftauchen würde.

Gunter Gebauer hat einen sehr dichten, sehr synthetisierenden Text vorgelegt, in dem man sich für fachfremde LeserInnen indessen eine intensivere Hinführung zum „Privatsprachenargument“ oder „Sprachspiel“ hätte wünschen dürfen, denn diese Begriffe sind spezifisch Wittgensteinisch geprägt. Sehr zu vermissen bleibt bei Gebauer der Verweis auf „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, Jacques Lacans psychoanalytisch geprägten Grundlagentext, mit dem die Transition des Kindes vom Imaginären zum Symbolischen, von der Dyade mit der Mutter in die Welt der Sprache hinein, besonders gut verdeutlicht werden kann.

Bei Manfred Holodynski kommt leider die „Feedbacktheorie“ etwas irreführend daher, denn man geht davon aus, dass ein Feedback meistens von einem Gegenüber erteilt wird. Schön wäre es, a priori pointierter zu klären, dass es sich initial um intrapersonale Prozesse handelt, ein „internes Feedback“, wie es im Schlusswort auch explizit etikettiert wird. Dass Holodynski das Organon-Modell von Karl Bühler würdigt und für die durch empirische Studien gestützte Identifikation und Klassifikation von Ausdruckszeichen heranzieht, ist einleuchtend und sehr gelungen. Eine gute und passende Ergänzung wären jedoch das (nur knapp erwähnte) Vierseitenmodell von Friedemann Schulz von Thun und die fünf kommunikationstheoretischen Axiome von Paul Watzlawick. Insbesondere letztere hätten bei der Distinktion von digitalen Sprachzeichen und analogen Ausdruckszeichen besonders hilfreich sein können.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen erscheint Stefan Koelsch nahezu lakonisch. Doch mit dieser Kürze geht nicht nur die sprichwörtliche Würze einher, sondern gleichzeitig – bei aller Komplexität des Themas – ein hohes Maß an Stringenz und Verständlichkeit. Der spannende und fesselnde Beitrag, den aussagekräftige Abbildungen anreichern, kann an dieser Stelle nur gelobt werden.

Christian von Scheve, der sich im kulturwissenschaftlichen Kapitel auf eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen bezieht, konturiert einen plausiblen Weg der Konjunktion zwischen der nachweislich existierenden biologischen, kulturübergreifenden Universalität emotionaler Ausdrucksmuster und ihrer ebenso durch Studien zu belegenden kulturellen Regulation. Die Prämisse für alle beteiligten Autoren, die Überzeugung nämlich, dass in den wichtigen Fragen der Wissenschaft vom Menschen dialogisch gearbeitet werden müsse, konkretisiert sich in diesem Erklärungsansatz, der Biologie und Kultur zusammenbringt.

Trotz der vielfach beschworenen und durchweg manifesten Interdisziplinarität sollte man auf eine einerseits quantitative, andererseits sequenzielle Dysbalance hinweisen: Wenn alle Disziplinen als gleich gelten, wäre es günstig gewesen, die Kapitel in ihrer Seitenzahl stärker anzugleichen. Rein quantitativ besteht zwischen dem entwicklungspsychologischen Kapitel und den anderen jeweils ein Verhältnis von ca. 3,5:1. Was die Abfolge der Texte betrifft, so sollte man sich vorsichtig fragen, ob eine Progression vom (tendenziell eher) Naturwissenschaftlich-Faktischen, den Neurowissenschaften, hin zum (tendenziell eher) Konstruierten in der Philosophie und den Kulturwissenschaften, dem Aufbau des Sammelbandes hätte dienlich sein können. Und ein ganz großes Desiderat wäre es, alle Fakultäten in einem langen Text zu vereinen.

Aber wiederum trotz dieses kleinen Wermutstropfens gewinnt zu guter Letzt ein Bild des Miteinanders die Oberhand. Die Einzelkapitel bilden kein additives Potpourri, sondern sie fügen sich synthetisierend zu einem wohlklingenden Concerto zusammen, in dem jede Stimme dennoch in ihrer Individualität erhalten bleibt.

Fazit

Gebauer, Holodynski, Koelsch und von Scheve streichen in ihrem Fazit hervor, dass die Beziehung von Emotion und Sprache „aus einer interdisziplinären und zugleich konzeptuell aufeinander bezogenen Perspektive“ (S. 268) bislang wohl nicht analysiert worten sei. Dem kann nur zugestimmt und dabei betont werden, dass die Lektüre der vorliegenden Publikation nicht nur für Wissenschaftler der hier beteiligten Disziplinen ein Gewinn ist, sondern ebenfalls für alle, die sich aus einer eher praktischen Perspektive heraus damit befassen, wie umfassend und mitunter mäandergleich sich die Re-konfiguration einer Emotion in der Sprache gestaltet.

Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
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Es gibt 41 Rezensionen von Anne Amend-Söchting.

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Zitiervorschlag
Anne Amend-Söchting. Rezension vom 12.07.2018 zu: Gunter Gebauer, Manfred Holodynski, Stefan Koelsch, Christian von Scheve: Von der Emotion zur Sprache. Wie wir lernen, über unsere Gefühle zu sprechen. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2017. ISBN 978-3-95832-133-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23708.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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