Jo Reichertz, Matthias Meitzler u.a.: Wissenssoziologische Medienwirkungsforschung
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 26.03.2018

Jo Reichertz, Matthias Meitzler, Caroline Plewnia: Wissenssoziologische Medienwirkungsforschung. Zur Mediatisierung des forensischen Feldes. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 324 Seiten. ISBN 978-3-7799-3676-3. D: 26,95 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 37,10 sFr.
Thema
Die DFG-geförderte wissenssoziologische Studie untersucht, ob und inwiefern das in den Massenmedien, vorwiegend im Fernsehen ausgestrahlte CSI-Format (Crime Scene Investigation), die vorwiegend auf technische Aspekte bezogene kriminaltechnische Ermittlung und Aufklärung meist spektakulärer Verbrechen und die damit verbundene Mediatisierung eine Auswirkung auf die deutsche Forensik, das soziale Feld der Rechtsmedizin und Kriminaltechnik hat.
HerausgeberInnen und AutorInnen
Die HerausgeberInnen lehrten bis 2015 Soziologie an der Universität Duisburg-Essen (Reichertz), bzw. arbeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau, bzw. als Kommunikationswissenschaftlerin (Guest Fellow) an der Universität Duisburg-Essen.
Die weiteren Autorinnen studierten Germanistik bzw. Filmwissenschaft und beschäftigen sich im Kontext ihrer Masterausbildung bzw. als Senior Lecturer mit kultur- bzw. medienwissenschaftlichen Fragestellungen.
Aufbau
Der Band versammelt in fünf Abschnitten die wesentlichen Ergebnisse des DFG-Förderprojekts „Mediatisierung der deutschen Forensik“ als Sammelband in denen
- Eine theoretische Begriffsklärung,
- Thematische Kontexte,
- Forschungsmethodologische Überlegungen,
- Forschungsergebnisse (aus der aktuelle Studie) und
- Weiterführende Diskussionen versammelt sind.
Zu 1. Theoretische Bezüge
In einem hinführenden Beitrag befasst sich Herausgeber Jo Reichertz mit dem Begriff der Mediatisierung der in seiner – zeitlich kurzen – Historie beschrieben und als „zunehmende Repräsentation aller Lebens-Welten einer Gesellschaft durch TV, Radio oder Presse“ … vielfältigen Austausch- und Rückkoppelungsprozessen … als mediale Begleitung menschlichen Handelns … in der Form, dass Medien … Handeln … erleichtern, optimieren oder auch nur beobachten … [oder dieses] auch als Ersetzung der Handlungen mit Hilfe von (Massen-)Medien [darstellt] … bzw. als „Thema und Ziel von Gruppenhandeln“ (41f) definiert wird. Gemeint ist damit also das Aufgreifen gesellschaftlicher und individueller Praxis durch und in Mediendarstellungen und die dadurch ausgelösten wechselseitigen Beeinflussungsprozesse.
Ein zweiter Beitrag beschäftigt sich mit dem Begriff „Forensik“, der hier in der Darstellung Nina Kiedrowicz in seiner Begriffsgeschichte erfasst wird und als Leitwort für die Behandlung psychisch kranker Straftäter umschrieben wird, für die vorliegende Publikation jedoch in Bezug auf kriminal- und ermittlungstechnische Methoden als ein „Mittel der Aufklärung, Aufdeckung und Sichtbarmachung von Spuren“ (71) bei der Bearbeitung von Kriminalfällen definiert wird. Als Alltagsbegriff wird er als Genrebegriff für einen Spezialfall von Kriminalfilmen, v.a. -serien verwendet, bei denen es vorwiegend um kriminaltechnisch aufgearbeitete Kriminalfälle geht.
In einem weiteren Beitrag (Caroline Plewnia) werden Zuschaueraktivitäten aus der Perspektive eines wissenssoziologischen Medienwirkungsansatzes diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Bindung der Zuschauer durch vorwiegend Socialmedia gestützte Formate, etwa durch Angebote wie Facebook, Social TV oder Twitter im Nachgang zur Ausstrahlung forensischer TV-Sendungen. Dadurch erfolgte ein – wissenssoziologisch verstandener – Aneignungsprozess, der vor allem auf die Kommunikation der Konsumenten über die wahrgenommenen Inhalte fokussiert, z.B. Postings, Kommentare, oder YouTube-Beiträge (z.B. Erklärvideos. Tutorials).
Zu 2. Kontexte
Der Abschnitt beleuchtet zwei Spezialthemen die im Kontext der forensischen Medienangebote angesiedelt sind. Lindsay Steenberg gibt hier in ihrem Beitrag eine Übersicht zum Anglo-American Forensic Television (mit genauer Darstellung einzelner Formate und Akteure); Matthias Meitzler befasst sich mit der „Mediatisierung des Todes“ (111), insbesondere den Darstellungsformen von Leichen, Leichenteilen, deren kriminalwissenschaftliche und technische Auf- und Bearbeitung im Kontext forensischer Fernsehformate. Als gesellschaftlichen Effekt beschreibt er, dass die Verdrängung des Todes aus der (postmodernen) Gesellschaft, v.a. die Verdrängung des Leichnams als sichtbares Symbol des Todes insofern überwunden wurde, dass in den entsprechenden Filmformaten massenhaft Tote gezeigt werden, dar- bzw. ausgestellt werden (Ein Bildschirm voller Leichen), deren Beschaffenheit durch die „forensische Spurensuche am Körper“ gesellschaftlich angeeignet werde, bzw. diese eben wieder sichtbarer geworden seien.
Zu 3. Methode
Der Abschnitt führt in die Forschungsmethodologie mediensoziologischer Forschung ein, beschreibt in zwei Beiträgen (Matthias Meitzler, Caroline Plewnia), welche in Auszügen vorgestellt werden, Grundfragen des Feldzugangs und die konkreten Forschungsschritte. Zur Anwendung kam in hermeneutisch wissenssoziologischer Perspektive die Auswertung von Internetaktivitäten von Fernsehzuschauern zur Anwendung, also deren mediale Äußerungen (Facebook, Diskussionsforen, Twitter etc.) die einen Bezug zu Forensik-Formaten aufwiesen. Die forschungsleitenden Fragen zirkulierten um den Aspekt der Formen und Ausprägung von entsprechenden Zuschaueraktivitäten und um die Bedeutung von Mediatisierungsprozessen für den Aufbau von Wissensordnungen und die Zirkulation forensischen Wissens bei den Konsumenten (also welche Fakten bei den Zuschauern überdauernd wahrgenommen wurden).
Zu 4. Forschungsergebnisse
Die im Forschungsprojekt erhobenen Forschungsergebnisse werden in zwei Beiträgen (Caroline Plewnia, Matthias Meitzler) dargestellt. Anhand von zehn Interviews mit SpielerInnen einer Spiele-App erfolgte der Zugang zu dieser Kategorie von MediennutzerInnen, denen der inhaltliche Hintergrund (eine auf dem CSI-Forensik-Serienformat basierende Erzählstruktur) entweder egal war, oder die sich als Fans der entsprechenden Serie mit den Inhalten stark identifizierten und die Inhalte in Rollenübernahme nachspielten. Dabei kam es zur Übernahme der spezifischen Inhalte, Haltungen und Techniken, z.B. besondere Aktivitäten der Spurensicherung. Durch die massenhafte Verbreitung des CSI-Formats als TV-Serie ist eine hohe Popularität gegeben, sodass die weiterführende Angebotsstruktur mit PC-Spielen etc. unter dem wirtschaftlichen Aspekt rentabel erscheint, wodurch es zu einer weiteren Verbreiterung der spezifischen Inhalte kommt und dadurch auch Personengruppen erreicht werden, die ursprünglich keine Nutzer des TV-Serienangebots waren. In diesem Zusammenhang spricht die Autorin von einem Mediatisierungseffekt, da es zu einem mehrstufigen Verbreitungsweg kommt und dadurch die Handlungsebene forensischer Aspekte eine weite und z.T. auch alltagsnahe Verbreitung finden. Der hier beschriebene Effekt wird in einem zweiten Beitrag intensiver beleuchtet. Gegenstand ist hier der „forensische Markt“, also spezielle analoge Spiel- und Experimentierangebote, Events, Messen etc., die darauf abzielen das forensische Ermittlungsthema auf einer spielerischen, durch Rollenübernahme gekennzeichneten Struktur anzubieten und zu vermarkten. Dadurch, so die erhobenen Befunde, kommt es auch zur Verbreitung Forensik naher Haltungen, Normen, Werte, Positionen, Relationen und Spielregeln über den ursprünglich rein polizeilich-kriminaltechnischen Bezugsrahmen hinaus.
Zu 5. Ausblick
Das abschließende Kapitel erfasst in drei Beiträgen der Herausgeber und einem Text von Lisa Schmidt-Herzog angrenzende Gebiete des Untersuchungsgebiets. Hier geht es z.B. um die spezifischen forensischen Weiterbildungs- und Vertiefungsangebote im Rahmen von Hochschullehrgängen und Studienfächern, eine Auseinandersetzung mit dem Forschungsinstitut Forensic Architecture an der Goldsmiths University in London (das sich mit Architektur, Räumen und Umwelten beschäftigt und in der Öffentlichkeit durch seine Zusammenarbeit mit Amnesty International bekannt wurde und seine Forschungsergebnisse gelegentlich ästhetisch aufbereitet auch in Ausstellungen präsentiert) und eine zusammenfassende Darstellung der Forschungsbefunde. Diese umfassen
- Die spezifische Darstellung forensisch tätiger Kriminalisten in entsprechenden TV-Serienformaten (und das damit vermittelte öffentliche Bild als hochspezialisierte Spezialisten mit besonderen Fähigkeiten im natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich)
- Die unterschiedlichen Prozesse der Mediatisierung (via thematischer Dauerpräsenz, Differenzierung und Dramatisierung)
- Die Konstruktion des Forensik-Themas in den Deutschen Medien als Mischung fiktionaler und realer Aspekte und Verhältnisse unter dem Label „Forensik“
- Die Marktförmigkeit der medialen Inszenierung und die damit verbundene Verbreitung gesellschaftlicher Nebenthemen, welche dadurch einen scheinbaren Bedeutungsgewinn erhalten
- Die spezifische Botschaft des Forensik-Formats (alles ist erforsch- und aufklärbar, die durch Kriminalität gestörte gesellschaftliche Ordnung ist wiederherstellbar durch den Einsatz forensischer Spezialisten)
- Die Rückkoppelungseffekte Medialer Inszenierungen auf das forensische Feld selbst (erhöhtes Interesse am Fach, etwa in Bezug auf die Nachfrage spezifischer Studienangebote, Vermarktlichung des Themas).
Zielgruppe
Alle an der wissenssoziologischen Medienwirkungsforschung interessierten Gruppen. Als wissenschaftliche Publikation richtet sich der Sammelband eher an Fachleute der mit dem forensischen Feld assoziierten Berufsfelder in Praxis und Hochschule.
Diskussion
Der Sammelband erlaubt einen tiefen Einblick in ein Forschungsprojekt zur wissenssoziologischen Medienwirkungsforschung und damit in ein Thema, das für die gesellschaftliche Realität eine hohe Relevanz aufweist, in seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung deutlich unterrepräsentiert ist, die Mechanismen und Effekte des Verhältnisses von Medien, Medienwirkung und gesellschaftlicher Praxis. Am – begrenzten – Themenbereich des „forensischen Feldes“ (erfasst wird in den Studien lediglich ein Ausschnitt forensischer Wissenschaft, die Kriminaltechnik) wird aufgezeigt, wie die Wechselwirkungen zwischen realen Verhältnissen, Marktaspekten, Identitätsaspekten und der damit verbundenen Konstruktion von Realität funktionieren. Dabei erscheinen die hier – selbstbewusst als Forschungsergebnisse – vorgelegten Befunde, dass die aus anderen gesellschaftlichen Bereichen bekannten Effekte (Sport, Politik, Partnerschaft, Sexualität) auch im Themenbereich Forensik funktionieren. Die erfassten Aspekte sind dabei als vorläufig zu bezeichnen, da der gesamte (Medien)bereich einer starken Dynamik unterliegt und es an Eindeutigkeit der Zusammenhänge fehlt.
Wenn, wie im Beitrag von Matthias Meitzler und Caroline Plewnia zu „Forensischen Studienangeboten im Kontext der unternehmerischen Hochschule“ diskutiert wird, dass diese Ausdifferenzierung der universitären Bildungsangebote eine Reaktion der Hochschulen auf die stark verbreiteten medialen Verbreitungsformen sei, wirkt das – erst einmal – überinterpretiert. Schließlich hat sich „das Forensische Feld“ in den letzten 50 Jahren auch unabhängig von medialen Phänomenen aus wissenschaftlicher Dynamik heraus differenziert, z.B. durch die Verfeinerung biotechnischer Verfahren, oder – der Aspekt wird im vorliegenden Band überhaupt nicht aufgegriffen – die Herausbildung einer kriminologisch-forensisch-psychiatrischen Prognosewissenschaft. Allerdings sind sich die Autoren dieser Einschränkungen bewusst und verweisen selbst auf die unterschiedlichen Effekte und Mechanismen, die z.B. zur Ausdifferenzierung von Wissensgebieten und deren Vermarktung führen: „Wichtig ist aber, dass zwischen der medialen Repräsentation eines Feldes und seiner Veränderung kein linearer Zusammenhang besteht. Stattdessen gibt es unterschiedlichen Faktoren, die darüber entscheiden, dass und wie sich eine bestimmte Lebens-Welt verändert. Zudem bestehen Unterschiede bezüglich der Dauer der medialen Repräsentation und der Nachhaltigkeit der Veränderungen in den Lebens-Welten“ (305). In diesem Zusammenhang könnten die – zweifelsohne – in den letzten 25 Jahren erfolgten Veränderungen „des forensischen Feldes“ auch unter kriminologischer oder kriminalsoziologischer, oder auch unter forensisch-psychiatrischer, gesundheitswissenschaftlicher und/oder sozialpolitischer Fokussierung untersucht werden. Der Forschungsband präsentiert hier also einen Ausschnitt an Verhältnissen und Zusammenhängen (ohne die Verknüpfung mit anderen Gebieten zu diskutieren oder sonst wie aufzugreifen).
Unklar bleibt an manchen Stellen auch die Verbindlichkeit der erhobenen Befunde und deren Aussagekraft, etwa wenn unter dem Konzept der „Mediatisierung der deutschen Forensik“ auf der Datengrundlage von „zehn Interviews mit Spielerinnen und Spielern der CSI-Hidden Crimes-App … drei für die Mediennutzung zentrale Handlungstypen rekonstruiert [werden]“ (199f) und dadurch das Datenmaterial und dessen qualitative Auswertung wohl eher überstrapaziert wird.
Unabhängig davon ist das Forschungsprojekt ein wertvoller Beitrag zum Zusammenhang (massen)medialer Formate, gesellschaftlich relevanter Themen- und Lebensbereiche, das die wechselseitigen Beeinflussungseffekte aufzeigt und ein Beispiel für die in diesem Feld möglichen und machbaren Forschungsstrategien und -methoden gibt.
Fazit
Der Sammelband fasst die zentralen Aspekte eines wissenssoziologischen Forschungsprojekts der Mediensoziologie zu den Auswirkungen und Folgen des kommunikativen Handelns der Massenmedien auf das gesellschaftliche Handeln im Zusammenhang der Rechtsmedizin und Kriminaltechnik auf. Neben einführenden Beiträgen zur Begriffsklärung, den wissenschaftlichen Zusammenhängen und der Forschungsmethode präsentiert es einzelne Forschungsbefunde und -ergebnisse und diskutiert diese unter weiterführender Perspektive. Ein Lehrstück qualitativer Sozialforschung.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 26.03.2018 zu:
Jo Reichertz, Matthias Meitzler, Caroline Plewnia: Wissenssoziologische Medienwirkungsforschung. Zur Mediatisierung des forensischen Feldes. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
ISBN 978-3-7799-3676-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23709.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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