Michael Gehler, Maximilian Graf (Hrsg.): Europa und die Deutsche Einheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.12.2017

Michael Gehler, Maximilian Graf (Hrsg.): Europa und die Deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2017. 848 Seiten. ISBN 978-3-525-30186-9. D: 60,00 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 75,50 sFr.
Thema
Geschichtsschreibung ist Fortschreibung von Wirklichkeiten und Veränderungsprozessen. Diese eher tautologische Feststellung wird Historikern sowohl ein Kopfnicken, als auch ein Achselzucken entlocken können; denn natürlich ist Historiografie immer darauf angewiesen, Geschichtsverläufe zu analysieren, zu registrieren, auszulegen und zu bewerten. Nun wissen wir allerdings auch, dass Geschichte beschreiben, vor allem wenn sie sich auf zeitnahe und aktuelle Prozesse bezieht, immer in der Gefahr ist, verklittert, verkannt, fehleingeschätzt zu werden und den Momentanismus zu unterliegen. Jeder verantwortungsbewusste und souveräne Historiker ist sich dieser Gefährdungen bewusst. So ist es nicht ungewöhnlich, sondern notwendig, dass Geschichtsbeschreibungen durch Neuauflagen veröffentlicht werden. Die Geschichtswerkstatt des Instituts für Geschichte an der Stiftungsuniversität Hildesheim, die längst auch als „Europaschmiede“ bekannt ist und mit dem Lehrstuhlinhaber Michael Gehler als Jean-Monnet Chair ad personam für vergleichende Zeitgeschichte Europas und europäische Integrationsgeschichte besetzt ist, gibt seit mehreren Jahren Geschichtswerke heraus, die längst zum theoretischen und praktischen Grundbestand des aktuellen europäischen Einigungsprozesses gehören, wie z.B. Michael Gehler: Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/13724.php, das soeben in neuer, aktualisierter Auflage erschienen ist: Michael Gehler, Europa: Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenarbeit, Lau-Verlag, Reinbek 2018, 3. Komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, gebunden mit Schutzumschlag, 1.318 S., 48,00 Euro, ISBN 9783-95768-188-1.
Auch die Thematik des o.a. Buches „Europa und die deutsche Einheit“ hat Gehler bereits 2010 bearbeitet: Deutschland. Von der Teilung zur Einigung 1945 bis heute, www.socialnet.de/rezensionen/13169.php. Dass Europa etwas mit dir, mir und allen Europäern zu tun hat, ist eine Tatsache, die immer wieder ins Bewusstsein der Menschen gebracht werden muss. Deutschland gehört zu Europa, und ohne Deutschland wäre Europa zu wenig und unvollständig! Die Neuherausgabe, bei der Gehler sich der partnerschaftlichen Herausgeberschaft des Historikers Maximilian Graf vom Institut für Neuzeit und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften versichert, bezieht die neuesten Entwicklungen ein und fordert heraus zum Perspektivenwechsel, der sich insbesondere darin artikuliert, dass Europa angesichts der bedrohlichen Kakophonien, nationalen Egoismen, Ethnozentrismen und Populismen einer aktiven Verteidigung der Menschenrechte, Grundfreiheiten und der Demokratie bedarf. Die Argumentations- und Diskussionsverläufe bei der Beobachtung und Analyse der „friedlichen Revolution“ in Deutschland 1989/90 lassen sich von zwei Standorten und -punkten aus vollziehen; zum einen gewissermaßen „vor Ort“, und zum anderen „von Außen“. Im Oktober 2015 und im Februar 2016 fanden in Wien zwei internationale Konferenzen statt, auf denen wissenschaftliche Expertinnen und Experten den Fragen nachgingen, welche Einflüsse und Konsequenzen auf den Akt der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands maßgeblich waren und wie diese auf den europäischen Einigungsprozess einwirkten. Warum Wien und nicht Berlin? Die Herausgeber weisen darauf hin, dass das während des Ost-West-Konflikts neutrale Österreich mit Wien als Hauptstadt über die Jahrzehnte des Konfliktes und der mühsamen Kommunikationsbemühungen hinweg immer auch eine Brücken- und Vermittlerposition eingenommen hat; es also durchaus auch sinnvoll ist, mehr als ein Vierteljahrhundert nach Mauerfall und Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten einen Blick von Wien aus auf den aktuellen Zustand in diesem Prozess zu werfen und dabei sich der Kooperation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu versichern.
Aufbau und Inhalt
36 Autorinnen und Autoren setzen sich in ihren Beiträgen mit den Fragen auseinander, wie sie sich in der analytischen und nachforschenden, historischen Analyse durch die Freigabe von Akten- und Quellenmaterialien ergeben, Einblicke ermöglichen, Korrekturen im bisherigen Geschichtsverständnis anbieten und aktuelle Bewertungen wagen lassen. Der Aufbau des Buches folgt der historischen Analyse.
Neben dem Vorwort, in dem der (DDR)Politiker und Friedensaktivist Markus Meckel darauf verweist, dass die im Sammelband abgedruckten Beiträge „einen Überblick über die unterschiedlichen Haltungen in Europa zur deutschen Wiedervereinigung sowie auf die nachfolgenden Schritte zur europäischen Integration bieten“, und der Einführung in den Tagungsband durch die Herausgeber, wird das Buch in acht Kapitel gegliedert und mit der Schlussbetrachtung durch Michael Gehler abgeschlossen.
Im ersten Kapitel geht es um den „deutschen Einigungsprozess“ Der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Hauptabteilungsleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hanns Jürgen Küsters, informiert mit dem Beitrag „Helmut Kohl, die CDU und die Wiederherstellung der deutschen Einheit“ über dessen Geschick, das „Fenster der Gelegenheit“ zu erkennen und für den Wiedervereinigungsprozess zu öffnen. Der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte in München und Berlin, Hermann Wentker, setzt sich mit dem Beitrag „Die Außenpolitik der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung“ mit den unterschiedlichen, politischen Interessenlagen und Perspektiven der im Rahmen des beginnenden Einigungsprozesses agierenden Personen und Mächten auseinander. Heike Amos und Tim Geiger vom Institut für Zeitgeschichte vermitteln mit ihrem Beitrag „Das Auswärtige Amt und die Wiedervereinigung 1989/90“ Einblicke und Hintergrundinformationen über die Aktivitäten im „Maschinenraum der Diplomatie“.
Das zweite Kapitel „Die Vier Mächte“ beginnt der Direktor des History and Public Policy Program des Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, Christian F. Ostermann, mit seinem englischsprachigen Bericht „The United States and German Unification“. Der Historiker des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Andreas Hilger, berichtet über den Balanceakt: „Die getriebene Großmacht – Moskau und die deutsche Einheit 1989/90“. Der Hildesheimer Historiker Hinnerk Meyer setzt sich auseinander mit „Participation on limited cooperation – Großbritanniens schwierige Rolle im deutschen Einigungsprozess 1989/90“. Der Politikwissenschaftler von der Universität Erlangen-Nürnberg, Tilo Schabert, stellt fest: „The German Question is a European Question“, wenn er sich in seinem englischsprachigen Beitrag v.a. mit François Mitterands „France and the Reunification of Germany. A critical assessment“ auseinandersetzt.
Im dritten Kapitel „Neutrale Staaten: Irland, Schweiz und Österreich“ thematisiert der Historiker vom University College Cork, Mervyn O´Driscoll, „A Small Country´s Big Responsibility: Ireland, German Reunification and ‚the Acceleration of History‘ 1989- 1990“. Der Schweizer Historiker Georg Kreis zeigt mit in seinem Beitrag „Die deutsche Wiedervereinigung aus schweizerischer Sicht“ auf, „Was die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ dazu schrieb“. Maximilian Graf reflektiert mit dem Beitrag „Österreich und das Ende der DDR“ über die Motive der politisch Agierenden in seinem Land. Michael Gehler ergänzt diese Informationen mit seinem Beitrag „Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinderung: Österreichs EG-Antragsgesuch, die Bundesrepublik und die Annäherungen der DDR an die Europäischen Gemeinschaften 1989 – 1990“.Die Historikerin vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Andrea Brait, blickt mit ihrem Beitrag „Vor Torschluss“ hinter die Kulissen von „Österreichs Kulturbeziehungen zur DDR 1989/90“. Philipp Greilinger und Sarah Knoll vom Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zeigen mit ihrem Beitrag „Die deutsche Einheit“ internationale Reaktionen aus der Sicht der österreichischen Diplomatie auf.
Das vierte Kapitel „Neutrale und NATO-Staaten: Skandinavien“ beginnt der Historiker vom Swedish Collegium for Advanced Study Uppsala und Universität Stockholn, Aryo Makko, mit der Frage: „The Road to Salvation?“, indem er über „Sweden, the German Question and the New Europe“ nachdenkt. Juhana Aunesluoma und Marjo Uutela von der University of Helsinki begeben sich „In Germany´s Footsteps“, indem sie Situationen zu „German Reunification and Finland, 1987 – 1994“ darstellen. Thorsten Borring Olesen und Niels Wium Olesen von der Aarhus University relativieren „Denmark and German Reunification: Anxious Feelings and the Limits of Europeanization“, und Hans Otto Froland von der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim setzt sich mit „Norway and German Reunification“ auseinander und zeigt „the window of opportunity“ auf.
Im fünften Kapitel „Die Benelux-Staaten“ diskutieren Anjo G. Harryvan und Jan van der Harst von der University of Groningen „The Irritability of a Small Nation with a Great Past“, indem sie die niederländischen Positionen zur deutschen Einheit erläutern. Steven Van Hecke von der Catholic University of Leuven stellt fest: „Less Europe in a Larger Union“, indem er über „Belgium and its Old and New Eastern Neighbours“ nachdenkt. Siebo M. H. Janssen fragt: „Von der deutschen Wiedervereinigung bis Lissabon – Luxemburg als kleines Land und ‚großer‘ europapolitischer Akteur?“
Im sechsten Kapitel geht der Blick auf „Die Staaten Ost- und Mitteleuropas“. Der Historiker vom Zentrum für Humanwissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Andreas Schmidt-Schweizer, hofft mit seinem Beitrag „Die deutsche Einheit als Herausforderung für Ungarn 1989/90“, dass die damaligen positiven, gegenseitigen und korrespondierenden Kontakte der beiden Länder trotz der aktuellen „atmosphärischen Störungen“ auch in der Zukunft tragen. Miroslav Kun?tat von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag diskutiert die damalige tschechoslowakische Perspektive als „anerkannte Notwendigkeit“. Dominik Pick vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften verweist mit seinem Beitrag „Deutsch-polnische Beziehungen und die deutsche Einheit“ auf die besondere Bedeutung, die Polen der Sicherung ihrer Westgrenze beimisst. Arnold Suppan von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften analysiert mit seinem Beitrag „Jugoslawien und die deutsche Wiedervereinigung“ die Situationen und Konflikte, wie sie sich für die jugoslawischen Nachfolgestaaten ergaben, indem er feststellt: „Das Interesse der neuen Bundesrepublik Deutschland zu den jugoslawischen Nachfolgestaaten nahm nicht zu, sondern ab.“
Das siebte Kapitel befasst sich mit den „Staaten Südeuropas“. Die Historikerin vom Institut für Geschichtswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität, Birgit Aschmann, titelt ihren Beitrag über Spanien und die deutsche Einheit mit „Mein Freund Felipe“. Sie verweist auf die grundlegend positiven Kontakte und Kooperationen, zeigt aber auch die Konflikte und Irritationen auf, wie sie sich durch die unterschiedliche ökonomische Entwicklung in den beiden Ländern ergeben. Der Historiker von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, David Schriffl, entwirft mit dem Beitrag „Portugal and German Reunification“ ein nicht allzu positives Bild und prognostiziert „The End of Utopia and Fears oft he Periphery“. Die Historikerin Deborah Cuccia erkennt mit ihrem Beitrag „Italien und die deutsche Einigung 1989 - 1990“ neben einer Reihe von positiven Entwicklungen auch Formen der „schleichenden Entfremdung“, die es gilt, in eine positive europäische Integration umzuwandeln (vgl. auch: Michael Gehler / Maddalena Guiotto, Hrsg., Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12803.php). Andreas Stergiou von der University of Thessaloniki setzt sich auseinander mit „Greece, German Reunification and the 1995 EU Enlargement“. Der Politikwissenschaftler und Religionssoziologe von der Universität Erlangen-Nürnberg, Hüseyin I. Cicek, stellt fest, dass bei der Frage nach dem Verhältnis der Türkei zur deutschen Einheit „weder Fluch noch Segen“ zu vermelden sei; zu viele unausgesprochene und ungeklärte offene Fragen, etwa zur Demokratie und zu den Menschenrechten in der Türkei verhinderten eine positivere Entwicklung.
Im achten Kapitel werden „Transnationale Parteiennetzwerke“ thematisiert. Michael Gehler und der Wiener Historiker Hannes Schönner zeigen die Aktivitäten der „European Democrat Union and the Revolutionary Events in Central Europe in 1989“ auf. Giovanni Bernardini vom Italian-German Historical Institute in Trento fragt: „Too little, too late?“, indem er über „The Socialist International, German reunification, and the Transition in Eastern Europe“ informiert.
Fazit
Michael Gehler stellt in seiner Schlussbetrachtung, die er mit „Unvermeidlichkeit einer politischen Entscheidung“ titelt, die deutsche, europäische und globale Bedeutung des Wiedervereinigungsprozesses heraus. Die Ursachen, Anlässe, Imponderabilien und lokal- und globalgesellschaftspolitischen Auswirkungen sind in der historischen Forschung bisher nicht ausführlich genug dargestellt worden. Der Sammelband „Europa und die deutsche Einheit“ bietet wichtige und weiterführende Analysen und Bestandsaufnahmen an. Aus den Fach- und Sachbeiträgen filtert der Hildesheimer Historiker und Europawissenschaftler Michael Gehler fünfzehn Dimensionen und weiterführende Thesen heraus, in denen deutlich wird, dass der europäische Einigungs- und Integrationsprozess in der Gegenwart und Zukunft erhebliche(re) Anstrengungen und Initiativen bedarf, um Europa in der (Einen) Welt die gebührende Bedeutung zukommen zu lassen, und zwar sowohl auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Dialogs und der Forschung, als auch im Alltags-Europa durch die Förderung des Bewusstseins, dass eine europäische Identität Grundlage für ein humanes, menschenwürdiges, globales Dasein der Menschheitsfamilie ist. Es ist das „Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“, wie es in der Präambel des vom Europäischen Konvent am 20. Juni 2003 vorgelegten, bisher von den Völkern Europas nicht ratifizierten Entwurfs einer „Verfassung für Europa“, heißt, das es zu verwirklichen gilt.
Es wäre allzu billig und platt, dem aggressiven, egoistischen und populistischen „America First“ (welchem?) das Contra „Europe First“ entgegen zu setzen. Beim europäischen Einigungsprozess kommt es nicht auf Parolen, sondern auf die Überzeugung an, dass es darauf ankommt, das Bewusstsein bei jedem Europäer zu stärken, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit des Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Diesen lebensweltlichen Optimismus, den der Europäische Konvent am 20. Juni 2003 mit dem bisher nicht realisierten Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vorgelegt hat, gilt es zu befördern, im Alltag und im wissenschaftlichen Diskurs!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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