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Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga et al. (Hrsg.): Der Blick ins Freie

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 15.01.2018

Cover Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga et al. (Hrsg.): Der Blick ins Freie ISBN 978-3-7815-2207-7

Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga, Ulrich Bartosch (Hrsg.): Der Blick ins Freie. Im Diskurs mit Janusz Korczak. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 224 Seiten. ISBN 978-3-7815-2207-7. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.

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Thema

Janusz Korczak gilt als einer der wichtigsten Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts. Als Kind einer seit drei Generationen assimilierten jüdischen Familie wurde er unter dem Namen Henryk Goldszmit am 22. Juli 1878 oder 1879 in Warschau geboren (das genaue Geburtsjahr war ihm selbst unbekannt, da sein Vater ihn im damals russisch besetzten Teil Polens nicht registrieren ließ). Nach dem Medizinstudium war er zunächst als Kinderarzt und später vorwiegend als Pädagoge und Autor von Reflexionen zum Umgang mit Kindern, von Kinderbüchern und Radiosendungen zu Erziehungsfragen tätig (für die meisten seiner Veröffentlichungen wählte er das Pseudonym Janusz Korczak). Korczak hat in Warschau zwei Waisenhäuser für jüdische und proletarische Kinder gegründet (1912 „Dom Sierot“ und 1919 „Nasz Dom“) und sie jahrelang, das erste bis zu seinem Tod, geleitet.

Die von Korczak in den Waisenhäusern entwickelten und praktizierten pädagogischen Grundsätze und die daraus hervorgegangenen Schriften haben ihn schon damals über die Grenzen Polens hinaus bekannt werden lassen. Nachdem die deutsche Wehrmacht Polen im September 1939 überfallen und besetzt hatte, lebte er seit 1940 bis zu seiner Deportation am 5. August 1942 im Warschauer Ghetto und versuchte dort unter extrem widrigen und demütigenden Umständen das „Dom Sierot“ weiter zu führen. Zusammen mit den 200 zuletzt von ihm betreuten Kindern und seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska wurde er zum „Umschlagplatz“ (so der Nazijargon) getrieben und ins Vernichtungslager Treblinka „überführt“. Dort verlieren sich seine Spuren, doch er wurde sehr wahrscheinlich nach der Ankunft gewaltsam von den Kindern getrennt und ebenso wie sie und seine Mitarbeiterin in der Gaskammer ermordet. Dies geschah nur wenige Kilometer von den ehemaligen Sommerkolonien entfernt, in denen Korczak 35 Jahre zuvor seine ersten Erfahrungen als Erzieher gesammelt hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nach und nach Texte von Janusz Korczak aus dem Polnischen in verschiedene Sprachen, darunter auch ins Deutsche, übersetzt und an verstreuten Orten publiziert. In den Jahren 1996 bis 2005 erschien eine 15-bändige kommentierte Gesamtausgabe, ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dautzenroth. Auch über das Leben und Werk von Janusz Korczak gibt es in deutscher Sprache eine Reihe von Abhandlungen, aber sie blieben auf bestimmte Aspekte seines Lebens und Schaffens beschränkt, nahmen ihn z.B. kaum als Kinderforscher wahr, oder relativierten seine radikale Parteinahme für die Kinder und die politischen Implikationen seiner Pädagogik. Erst spät wurde Korczaks Bedeutung als Pionier eines emanzipatorischen Verständnisses der Kinderrechte gewürdigt. Die von ihm formulierten Kinderrechte wurden noch bei der Erarbeitung der UN-Kinderrechtskonvention, die am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung beschlossen wurde, weitgehend ignoriert.

Entstehungshintergrund

Der hier zu rezensierende Sammelband ist den pädagogischen und bildungsphilosophischen Aspekten von Korczaks Schaffen gewidmet. Er ist anlässlich einer Ausstellung mit künstlerischen Werken zu seinem Leben entstanden und umfasst die Beiträge einer Tagung der Deutschen Korczak-Gesellschaft an der Hochschule für Philosophie im November 2015 in München und eines Janusz Korczak-Tages im Januar 2017 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Die beiden Herausgeber Siegfried Steiger und Ulrich Bartosch haben sich als Pädagogen und Theologen seit Jahren intensiv mit Korczaks Pädagogik befasst, die Mitherausgeberin Agnieszka Maluga ist als Sozialpädagogin in der Kinderhospizarbeit engagiert. Der Titel des Bandes wie zuvor der gleichnamigen Ausstellung ist einem Zitat von Korczak entlehnt: „Das Kind braucht Bewegung, Luft, Licht – einverstanden, aber auch noch etwas anderes. Den Blick ins Freie, das Gefühl der Freiheit – ein offenes Fenster“ (Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 253).

Aufbau und Inhalt

In dem Band, der – wie die beiden Herausgeber und die Herausgeberin betonen – 75 Jahre nach der Deportation der Warschauer Ghettobewohner erschienen ist, kommen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Bereichen wie Pädagogik, Philosophie, Geschichte und Journalismus zu Wort. Sie sind überwiegend in Deutschland, Polen und Israel zu Hause.

Der Band wird von dem israelischen Künstler Itzschak Belfer eingeleitet, der Korczak von 1930 bis 1938 noch selbst als Kind im Waisenhaus „Dom Sierot“ erlebt hat und nun dankbar bekundet, wie nachhaltig Korczak ihn geprägt und auf sein späteres Leben vorbereitet hat. Von Belfer wird in dem Band auch eine Auswahl von Gemälden präsentiert, in deren Zentrum die Person von Korczak steht.

Ulrich Bartosch geht der fiktiven Frage einer Erzieherin nach, in welchem Haus sie künftig arbeiten will. Mit kritischem Blick auf den Machtaspekt in jeder Erziehung reflektiert er, wie verschieden die Reformpädagog*innen Ellen Key, Maria Montessori und Janusz Korczak mit diesem Thema umgegangen sind, um am Ende ein Plädoyer für Korczaks „konstitutionelle Pädagogik“ zu formulieren.

Friedhelm Beiner stellt Korczaks Fähigkeit des „pädagogischen Einfühlens“ als Voraussetzung für eine Pädagogik der Verständigung vor, die die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen zum Ausgangspunkt einer achtungsvollen Kommunikation macht. Ihm zufolge wird der Pädagoge durch das Einfühlen selbst wieder klein und damit in der Lage, Kindern mit Respekt zu begegnen.

Alexa Eberle diskutiert die kontroversen Einschätzungen zur Schlussszene des Spielfilms „Korczak“, in der der polnischen Regisseur Andrzej Wajda die Deportation nach Treblinka darzustellen versucht, und gibt Argumente an die Hand, die zur Interpretation des Films hilfreich sind.

In einer bildungsphilosophischen Reflexion arbeitet Birgitta Fuchs heraus, wie wichtig Korczaks Beitrag zur pädagogischen Theoriebildung war. Sie widerspricht damit denen, die in Korczak nur einen „Praktiker“ gesehen haben, dessen Werk sich auf verstreute Beobachtungen und Anmerkungen beschränkt habe. Karin Hutflötz sieht Korczaks Kinder- und Menschenbild in der Reflexionslinie des Menschen als offenes Wesen, das sich im „Lebensspiel“ immer wieder neu in einen definitionsoffenen Raum begeben und dort in Unsicherheit handeln muss.

Ferdinand Klein sieht in Korczak einen bedeutenden Inspirator für inklusionspädagogische Bemühungen in der Heilpädagogik. Grzegorz Kowal nimmt entgegen Korczaks eigenen kritischen Bemerkungen zu Friedrich Nietzsche manche „weltphilosophische“ Parallelen zwischen beiden Denkern wahr.

Mechthild Krahl-Tümmler, Klaus-Peter Krahl und Gabriel Schwartz erinnern an verborgene und geheimnisvolle Orte der Kindheit, innerhalb derer sich die gemachten Erfahrungen als Bildung offenbarten.

Anhand der Geschichte der Hospizbewegung zeigt Agnieszka Maluga Beziehungen zwischen dem von Korczak betonten und oft missverstandenen Recht (auch der Kinder) auf den Tod und den Gedanken zweier Protagonistinnen der Sterbeforschung.

In einem kurzen „Nachtrag“ blickt Jürgen Oelkers auf einen eigenen Aufsatz zurück, in dem er 35 Jahre zuvor Korczak als streitbaren und kaum wahrgenommenen Anti-Mainstream-Pädagogen ins Bewusstsein einer widerstrebenden Fachöffentlichkeit gerückt hatte.

Der Forderung, vorrangige Aufgabe der Pädagogik sei es, ein erneutes Auschwitz zu verhindern, nimmt sich Noa Mkayton in ihrem Beitrag zur Holocaust-Pädagogik an und fragt gleichwohl, wo die Grenzen einer Bildung nach Auschwitz mit Bezügen und Bildern von Auschwitz liegen.

Von dem Journalisten Heribert Prantl stammt der einzige Beitrag, der sich ausdrücklich auf Kinderrechte bezieht. Er plädiert darin erneut für die längst überfällige Verankerung eines Kindergrundrechts im deutschen Grundgesetz.

Erika Schuchardt geht der Frage nach, was sich aus Korczaks verschiedenen Rollen des Salonarztes, des Ghettopädagogen und schließlich des Todesbegleiters über den Umgang mit Lebenskrisen lernen lässt, und leitet daraus didaktische Überlegungen ab.

Siegfried Steiger reflektiert die vielfältigen Motivlagen und Gestaltungsmöglichkeiten einer sensiblen, aber auch vermarkteten Shoa-Gedenkkultur im Gedenkjahr 2017, 75 Jahre nach der Deportation des Warschauer Ghettos und der Insassen des von Korczak geleiteten Waisenhauses, und wendet sich gegen eine entleerte „Erinnerungs(un)kultur“.

Jakob Steiger lädt in einem Kommentar zu der von ihm als Künstler mitgestalteten Ausstellung „Der Blick ins Freie“ dazu ein, das offensichtlich wahrgenommene Kunstwerk zu hinterfragen und zu „hinterschauen“. Eine Auswahl seiner Gemälde und Zeichnungen ist zusammen mit denen von Itzschak Belfer in der Mitte des Bandes zu betrachten.

Mit einem Beitrag von Thomas Steinforth zur ästhetischen Bildung wird der Band abgeschlossen. Darin betont er, dass vor allem die Sinneserfahrung Kindern ebenso wie Erwachsenen dabei behilflich sein könne, sich in der „Gegenständigkeit“ und Gegenwärtigkeit des Lebens zu verankern.

Diskussion

Jede Anthologie, die auf Beiträgen von Tagungen beruht, steht in der Gefahr, sich zu verzetteln. Im vorliegenden Fall ist die Person von Korczak und sein vielfältiges Werk das verbindende Element. Es finden tatsächlich, wie im Untertitel des Buches angemerkt, Diskurse mit ihm statt. Die Autorinnen und Autoren widmen sich jeweils spezifischen Aspekten von Korczaks Schaffen und nehmen es zum Anlass für eigene Reflexionen. Nicht immer sind diese Reflexionen ohne genauere Kenntnis des jeweiligen Gebiets leicht zu verstehen. Manche Beiträge sind eher anekdotisch, andere eher systematisch angelegt.

Eine mir besonders gelungen erscheinende Charakterisierung von Korczaks Pädagogik findet sich in dem leider sehr kurz gehaltenen „Nachtrag“ von Jürgen Oelkers. Korczak denke Erziehung „vom gelebten Augenblick her, verbindet mit Erziehung keine fernen Ziele, macht sich über die realen Kinder keine Illusionen und versucht ihnen gegenüber so gerecht zu sein wie möglich. Aber er ist weder ihr ‚Führer‘ noch ihr ‚Partner‘, sondern nur derjenigen, der für sie Verantwortung übernimmt, wenn sie sich nicht selbst helfen können“ (S. 158). Ein Grundgedanke der von Oelkers „lakonisch“ genannte Pädagogik, die keine großen Versprechungen macht, wird von Friedhelm Beiner aus intimer und umfassender Kenntnis von Korczaks Werk auf souveräne Weise herausgearbeitet: sich als Pädagoge wieder in das Kind hineinzuversetzen und das komplizierte Leben aus seiner Perspektive wahrzunehmen, „wieder klein (zu) sein“ (S. 28).

Zu den längeren Beiträgen, die mir besonders wichtig erscheinende Aspekte von Korczaks Handeln und Denken sichtbar machen, rechne ich die von Ulrich Bartosch und Birgitta Fuchs. Bartosch macht in seiner „theoretischen Verortung der konstitutionellen Pädagogik“ deutlich, dass Korczak im Unterschied zu Key und Montessori nicht von einer vermeintlichen „Natur des Kindes“ ausgeht und deshalb auch nicht den Zeitpunkt der Reife bestimmen will, ab dem sich ein Kind frei äußern und „partizipieren“ kann, „sondern er sucht nach den Bedingungen der Möglichkeit des Kindes, dies jetzt zu können. Diese Suche vollzieht er mit den Kindern gemeinsam“ (S. 25). In ihrem Beitrag zur „Aktualität der Bildungsphilosophie Janusz Korczaks“ macht Birgitta Fuchs darauf aufmerksam, dass es Korczak vor allem um die „Selbsterziehung“ des Kindes gegangen sei. Entschieden setze er sich daher „für die Entwicklungsfreiheit des Kindes ein und fordert aktivitätsfördernde Räume, in denen Kinder ihre motorischen, intellektuellen und sozialen Fähigkeiten entwickeln können, auch wenn diese den Kindern gewährte Freiheit mit Risiken verbunden ist, die den Eltern und Erziehern Sorge und Angst um die Gesundheit und das Leben des Kindes zumuten“ (S. 66).

Fazit

Der Sammelband gibt Einblicke in die vielfältigen Facetten von Korczaks pädagogischem Schaffen und macht akzentuiert auf die Bedeutungen seiner Denkweise für verschiedene Handlungsfelder aufmerksam.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 15.01.2018 zu: Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga, Ulrich Bartosch (Hrsg.): Der Blick ins Freie. Im Diskurs mit Janusz Korczak. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. ISBN 978-3-7815-2207-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23727.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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