Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Friedrich Voßkühler: Ich – Du – Wir

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.01.2018

Cover Friedrich Voßkühler: Ich – Du – Wir ISBN 978-3-8260-6279-7

Friedrich Voßkühler: Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit? Eine philosophische Erkundung in elf Durchgängen. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2017. 491 Seiten. ISBN 978-3-8260-6279-7. D: 49,80 EUR, A: 51,20 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

„Es ist, was es ist, sagt die Liebe“. In den Internet-Suchmaschinen gibt es 5 Millionen Eintragungen zum Stichwort „Liebe“. Die verschiedenen Angebote und Informationen weisen die millionenfache Bedeutung dessen aus, was Menschen unter „Liebe“ verstehen: Sex, Erotik, biochemische Prozesse. Liebe ist ein Ereignis, eine Macht, eine Inszenierung, ein Gefühl, ein Geschäft, eine Fantasie, eine Illusion. auch ein Gegenstand der Forschung. Im wissenschaftlichen Diskurs werden immer neue Erkenntnisse festgestellt, welche Einflüsse „affektgetragene Zuneigung oder Verbundenheit“, wie Liebe im philosophischen Wörterbuch (Martin Gessmann, 2009) definiert wird, evolutionspsychologisch und humanethologisch auf Menschen ausübt. Das Geheimnis, was Liebe ist, wollen die Menschen seit ihrer Menschwerdung immer wieder ergründen und erklären, in Felsen ritzen, in Bildern, Skulpturen darstellen und in Worten ausdrücken. Immer aber ist und bleibt das, was als Liebe empfunden wird, unerklärbar. Die Gefühle, Wünsche, Hoffnungen, aber auch Ängste, die in der biblischen Aufforderung zum Ausdruck kommen – „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ – verweisen auf die zwei Felder beim Umgang mit dieser allzu menschlichen Eigenschaft: Liebe ist ein Ereignis, das die Liebenden angeht, ganz individuell. Und Liebe ist ein kollektiver Wert, der das friedliche Zusammenleben der Menschen, lokal und global, bestimmt. Das Gegenteil von Liebe ist Krieg, ist Inbesitznahme des anderen Menschen, ist letztlich Unmenschlichkeit.

Entstehungshintergrund und Autor

Die Wandlungs-, Veränderungs- und Einstellungsprozesse, wie sie sich von der romantischen Liebesvorstellung hin zur Liebe zum Geld, zur Macht, zu sich selbst… vollziehen, verdeutlichen die ganz unterschiedlichen, ethischen, moralischen, weltanschaulichen, philosophischen und ideologischen Bedeutungszuweisungen. In der antiken griechischen, anthropologischen Philosophie wird „philia“, Liebe, mit Freundschaft gleichgesetzt und als das „andere Selbst“ benannt, und zwar dann, wenn der Mensch danach trachtet, ein gutes, gelingendes Leben zu führen und dies auch für den anderen Menschen anstrebt: „Beim guten Menschen bildet … das eigene Glück mit dem Glück anderer eine Einheit“ (Otfried Höffe, in: Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 445ff). Es dürfte als eines der Gipfelerlebnisse verstanden werden, wenn es den Menschen gelingt, das Gefühl der Liebe, die Fähigkeit zu lieben und das Erlebnis, geliebt zu werden als „tatsächliche Erfahrung der Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit“ zu erleben.

Der am Institut für Philosophie an der TU Darmstadt lehrende Philosoph Friedrich Voßkühler nimmt eine philosophische Erkundung über die grundlegende Bedeutung der „Ich-Du“- Beziehung beim Menschen in einer gesellschafts- und kapitalismuskritischen Auseinandersetzung mit dem historischen und aktuellen, philosophischen Diskurs vor. Es sind elf Durchgänge, in denen er, beginnend mit der Buberschen „Ich-Du“ – Festlegung, der Sartreschen „Sein-und-Nichts“ – Ontologie, der Heideggerschen „Sein-und-Zeit“ – Mythologie, dem „Mythos von Ödipus“, dem Lancanschen „Immaginär-Symbolischen“, dem „sokratischen Gespräch“, der Foucaultschen „Ästhetik der Existenz“, der Badiouschen „Singularität“, der Stifterschen, Batailleschen und Barthesschen „Sprach- und Bildhaftigkeit“, der Ludwig Binswangerschen „Phänomenologie der Liebe“, bis hin zu einem Entwurf für eine Theorie der „zwischenmenschlichen Wahrhaftigkeit“.

Aufbau und Inhalt

Der Autor kennzeichnet bereits in den Überschriften seiner Durchgänge von I bis XI seinen Weg, von dem er bekennt, dass er sich zwar der geplanten Zielrichtung seiner Suche nach der zwischenmenschlichen Wahrhaftigkeit, jedoch nicht der tatsächlichen, von Stolpersteinen, Stoppstraßen und fehlenden Wegweisern blockierten Wanderung sicher ist: „Mein Erkundungsgang bekommt … sowohl einen Anfang, als auch eine Richtung. Er muss mit der Auseinandersetzung mit der Dialogphilosophie und der Philosophie des ‚Anderen‘ beginnen und er muss die Richtung auf die ‚Idee einer idealen menschlichen Gemeinschaft‘ nehmen. Er muss die Frage nach der Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit mit dem Verhältnis von ‚Ich‘, ‚Du‘ und ‚Wir‘ in Hinsicht auf die politische Dimension des Sozialismus verbinden“. Mit dieser Festlegung ist gleichzeitig die individuelle und konstitutionelle Grundlegung dieser Erkundung in elf Durchgängen markiert.

  • Im Durchgang I geht es um die „Dialogphilosophie zusammen mit der Philosophie des ‚Anderen‘ (Buber, Rosenzweig, Lévinas, Fischer) und die Auseinandersetzung mit Hegel“.
  • „‚Der Blick‘ (Sartre) und der Horror vor dem Wahrgenommenwerden (Beckett). Mit dahin überleitenden Gedanken zur ‚Rede des toten Christus‘ und zum ‚Traum im Traum‘ im ‚Siebenkäs‘ von Jean Paul“, das ist die Überschrift zum Durchgang II.
  • Durchgang III thematisiert „‚Sorge‘ und ‚Mitsein‘. Von ‚Sein und Zeit‘ aus in kritischer Würdigung und Wendung über Heidegger hinaus“.
  • Durchgang IV handelt „Von der Rache des ermordeten Gottes bzw. vom ‚Gesetz‘ und vom Menschenopfer (Der Mythos von Ödipus, Sophokles, Nietzsche und Lacan)“.
  • „Vom Imaginären des ‚Ideal-Ichs‘ zum Symbolischen (Lacan)“ = Durchgang V.
  • „Schönheit, Wahrheit, Liebe (Platon)“, darum geht es im VI. Durchgang.
  • Im VII. Durchgang steht die „Ästhetik der Existenz (Michel Foucault)“ auf dem Programm.
  • „Liebe als Ereignis (Alain Badiou)“ = Durchgang VIII.
  • Mit der Kennzeichnung „Die Sprache der Liebe und des Begehrens“ bei Adalbert Stifter, Georges Bataille und Roland Barthes wird der Durchgang IX getitelt.
  • Ludwig Binswangers „Phänomenologie der Liebe“ kommt mit dem X. Durchgang ins Spiel.
  • Und mit Durchgang XI nimmt der Autor die diskutierten und analysierten Phänomene auf, indem er mit der Frage „Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit?“ einen systematischen Entwurf dazu vorlegt.

Im Schlussteil des Buches wird eine Theorie der zwischenmenschlichen Wahrhaftigkeit entwickelt, in der mit einer antikapitalistischen Kritik an der „technischen Entsittlichung“, des Warenfetischismus, der Arbeits- und Geschlechterauseinandersetzung, der Max Weberschen Markierung der „protestantischen Ethik“, der Walter Benjaminschen Charakterisierung von „Kapitalismus als Religion“, des „ästhetischen Kapitalismus“ (Gernot Böhme) ein Kontra gesetzt: „Liebe und antikapitalistische Askese“. Es ist der Aufruf nicht zur vermeintlichen Kasteiung, sondern zur Befreiung aus der „Knechtschaft des Konsums“ und den kapitalistischen Verführungen. Was ist dazu notwendig? Aufklärung und Emanzipation!

Fazit

Der Darmstädter Philosoph Friedrich Voßkühler ist bereits mit zahlreichen Veröffentlichungen bekannt geworden und hat Anerkennung als praktischer Philosoph gefunden (z.B.: „Lüge und Selbsttäuschung“ (2009), „Subjekt und Selbstbewusstsein“ (2010), „Begehren – Lieben – Denken“ (2014). Mit dem Durchgang durch die Imponderabilien, Wertzuweisungen, theoretischen und praktischen Analysen über die menschliche Bedeutung von „Liebe“ öffnet der Autor ein schier unübersehbares Feld von positiven und negativen Erscheinungsformen dieser für Menschlichkeit unverzichtbaren Eigenschaft und Tugend. Die Frage, ob Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit verstanden und gelebt werden könne, lässt sich anthropologisch und philosophisch dann lebensweltlich beantworten, wenn im Vordergrund des Diskurses keine ideologischen, historischen oder gesellschaftlich und kulturell festgemauerten Dogmen stehen. „Liebe … als die Grund gebende Weise der Zwischenmenschlichkeit zu begreifen, als das Grund gebende Zwischen-den-Menschen-Sein“, das ist der radikale und überzeugende Ansatz, den Voßkühler als „revolutionären Humanismus“ verstanden wissen will. Es sind Fundamente des Denkens, die das Selbstdenken notwendig machen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1669 Rezensionen von Jos Schnurer.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.01.2018 zu: Friedrich Voßkühler: Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit? Eine philosophische Erkundung in elf Durchgängen. Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) 2017. ISBN 978-3-8260-6279-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23740.php, Datum des Zugriffs 08.10.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht