Loïc J. D. Wacquant: Die Verdammten der Stadt
Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 12.02.2018
Loïc J. D. Wacquant: Die Verdammten der Stadt. Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 325 Seiten. ISBN 978-3-658-02679-0. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema
Städte integrieren auf eine spezifische Weise, sie grenzen aber auch auf spezifische Weise aus. Die Logik von Integration und Ausgrenzung gehorcht einerseits den Regeln des Marktes, andererseits den sozialstrukturellen Differenzierungsprozessen, nach denen soziale Schichten, Klassen und Milieus unterschieden werden können. Die Benachteiligungen, Deprivationen, Stigmatisierungsprozesse, denen Menschen ausgesetzt sind und die zur Ausgrenzung führen, sind die Folge von strukturellen Prozessen, die ein Quartier zum Armutsquartier machen, die ein Wohnviertel zum Russenviertel oder Türkenviertel machen, die Ghettos produzieren und verfestigen. Diese strukturellen Prozesse beziehen sich auf die Stadtpolitik, auf soziale und ethnische Muster der Integration und Ausgrenzung und auf eine wohlfahrtsstaatliche Politik, die letztlich Menschen nicht integriert, sondern wenn überhaupt bestenfalls Desintegration verhindert. Es sind die strukturell erzeugten Effekte, die das Leben in einem Quartier schwer machen, die auch die Bedingungen und Grenzen setzen, unter denen man außerhalb des Quartiers zu handeln und zu interagieren vermag.
Und diese Logik von urbaner Integration und Ausgrenzung ist ambivalent. Die Stadt grenzt über diese strukturellen Prozesse aus, differenziert die sozialen Milieus, Klassen und Schichten sozialräumlich und kulturell, und dennoch gehören die davon Betroffenen zur Stadt, werden aus der Stadt nicht vertrieben und finden einen sozialräumlichen Platz jenseits der urbanen Logik von Integration, ohne dass sie sozial, kulturell und ökonomisch dazu gehören.
Autor
Loic J. D. Wacquant ist Professor für Soziologie an der University of California, Berkeley und forscht am Centre de sociologie européenne in Paris.
Aufbau, Vorwort und Prolog
Nach einem Vorwort zur deutschen Ausgabe und einem Prolog gliedert sich das Buch in drei größere Teile mit jeweils mehreren Beiträgen:
- Teil I: Vom Gemeinschaftsghetto zum Hyperghetto
- Teil II: Schwarzer Gürtel, roter Gürtel
- Teil III: Blick nach vorne. Städtische Marginalität im 21. Jahrhundert
Den Teilen folgt ein Postskript, eine Danksagung sowie Quellen und ein Literaturverzeichnis.
Zum Vorwort der deutschen Ausgabe
Das Vorwort umfasst zwei Teile:
- Klasse, Ethnizität und Staat bei der Erzeugung von Marginalität und
- Ghetto, Banlieue, Favela…
Im ersten Teil geht es um die Neubetrachtung von Territorien städtischer Verbannung. Es geht Wacquant in der Tat um Verbannung, um die Zuschreibung einer minderwertigen Stellung und um die daraus erwachsenden sozialräumlichen Segregationsprozesse von Individuen oder Bevölkerungsgruppen in der postindustriellen Stadt. Der Autor fragt nach den Konstellationen von Klasse, Ethnizität und Politik, die in die Marginalität führen. Dabei geht es ihm um einen Vergleich der US-amerikanischen Ghettos der Schwarzen und den Banlieues französischer Großstädte – hier um speziell die von Paris. Es geht um die politischen Wurzeln schwarzer Marginalität, um die schwarzen Ghettos einerseits und um die sich in Europa durchgesetzten Formen städtischer Marginalisierung, wie sie am Beispiel der französischen Banlieues aufgezeigt werden kann. Damit meint der Autor auch, dass ein grundsätzlicher Unterschied besteht zwischen den amerikanischen Ghettos und den französischen Banlieues. Die amerikanischen Ghettos sind Folge einer rassistischen und ethnischen Diskriminierung mit vollkommen anderen Konnotationen gegenüber den französischen Banlieues, die sehr stark, von der Tradition der alten Arbeiterbezirke geprägt sind und eher ein ökonomisches und soziales Problem darstellen als ein ethnisches.
Auf theoretischer Ebene geht es dem Autor um die Wiederlegung einer „Konvergenzthese“ und der Formulierung und Bestätigung einer Emergenzthese. Diese besagt, dass die strukturellen Veränderungen industrieller Verstädterung zur postindustriellen Stadt auch ein neues Regime städtischer Marginalität erzeugt haben. Dies wird ausführlich entfaltet, bevor sich Wacquant mit Bourdieu und dessen Modell einer vergleichenden Soziologie städtischer Ungleichheit auseinandersetzt.
Im zweiten Teil seines Vorworts geht es dem Autor um Instrumente der Neubetrachtung städtischer Marginalität. Jeder Kulturkreis kennt benachteiligte Quartiere wie Ghettos, Favelas oder eben die Banlieues in denen die Verdammten der Stadt leben. Den Autor interessieren die Unterschiede struktureller, was meint sozialer, kultureller und politischer Verdammung in den einzelnen Gesellschaften, was er am Beispiel der amerikanischen Ghettos und den französischen Banlieues aufzeigen will. Wie wirken sich der Rückzug des Staates und die ungleiche Entwicklung kapitalistischer Ökonomien auf die sozialräumlichen Ungleichheiten und Benachteiligungen aus? Dabei zieht er eine Reihe eigener empirischer Studien heran und setzt sich mit den soziologischen „Mainstreams“ der Chicago-School auseinander.
Zum Prolog: Ein altes Problem in einer neuen Welt
Der Prolog beschäftigt sich mit der Wiederkehr des Verdrängten und mit Aufständen, „Rasse“ und sozialer Spaltung in drei fortgeschrittenen Gesellschaften. Fortgeschrittene, also zivilisierte, demokratische Gesellschaften wie die kapitalistischen Staaten des Westens haben sich im Sinne Tocquevilles verstanden, wenn sie mit demokratisch meinten, die ständischen Ungleichheiten abzuschaffen. Klassenzugehörigkeit, ethnische und soziale Positionen galten als zugeschrieben und fürderhin als irrelevant. Mit dieser Überlegung setzt sich der Autor ausführlich auseinander und er geht auf Marx und Durkheim ein, die von unterschiedlichen theoretischen Positionierungen herkommend diese Überlegungen unterstrichen.
Dies galt für die Phase der industriellen Entwicklung bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein. In der zweiten Hälfte dieses 20. Jahrhundert ändert sich das. Es kommt zum Ausbruch politischer Unruhen auf Grund ethnischer Spannungen und wachsendes Elends vor allem in den metropolitanen Zentren dieser Länder. Hier bezieht sich Wacquant auf England, Frankreich und die USA. Er diskutiert an Hand von Beispielen wie den Unruhen in Vaulx-en-Velin, einem Arbeiterquartier an der Peripherie Lyons, den Aufständen im Juli 1992 in Bristol und im April 1992 in Los Angeles die Entstehung einer kollektiven urbanen Gewalt, die inzwischen auch in anderen europäischen und nordamerikanischen Städten an der Tagesordnung ist. Diese Gewalt mag zunächst auch als Gewalt von unten beschrieben werden, um daraus Schlüsse für eine soziale und moralische Krise der Stadtgesellschaft zu ziehen. Der Autor argumentiert aber, dass es eine Gewalt von oben ist, die als Entproletarisierung, Verbannung und Stigmatisierung umschrieben werden kann. Andauernde Massenarbeitslosigkeit führt schließlich zur Entproletarisierung und zu prekären Arbeitsverhältnissen, die mit Not und Armut verbunden sind. Die mit sozialräumlicher Segregation verbundene Verbannung in verfallende Stadtviertel verschärft den Prozess der sozialen Abkoppelung von der Stadtgesellschaft und die Stigmatisierung einer ohnehin schon unter deprivierten Verhältnissen lebenden sozialräumlich segregierten Bevölkerungsgruppe führt zur sozialen Marginalisierung oder gar Exklusion. Die daraus sich entwickelnde Dynamik dieser drei Kräfte wird ausführlich diskutiert.
Der Autor geht dann auf die damit verbundene Entpolitisierung und politische Entfremdung und auf die Dilemmata der Strafverfolgung ein. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet. Staatliche Gewalt wie der Einsatz von Polizei und Militär beschreibt der Autor an Hand der amerikanischen Beispiele.
Die Schlussfolgerung des Autors ist das vorliegende Buch. Er will die in städtischen Armutsquartieren entstandenen Formen der Marginalität in drei Schritten untersuchen:
- Analyse der Rückbildung der schwarzen amerikanischen Ghettos nach dem Höhepunkt der progressiven Bewegungen der 1960er Jahre.
- Vergleich der andauernden Armut in US-amerikanischen und französischen Städten. Dabei sollen diese Armutsformen gegenübergestellt werden, „um die These von der transkontinentalen Konvergenz von Regimen städtischer Marginalität empirisch zu prüfen und theoretisch zu klären“ (31).
- Charakterisierung der Logik urbaner Polarisierung von unten her. Dabei sollen die politischen Optionen geklärt werden, die an der Wende zum 20. (sic!), zum 21.? Jahrhundert zur Überwindung zur Verfügung stehen.
Zu Teil I Vom Gemeinschaftsghetto zu Hyperghetto
Zu: Zustand und Schicksal des schwarzen Ghettos am Ende des Jahrhunderts
Der Autor beschreibt in diesem Kapitel den Wandel der Betrachtung und des Verständnisses von einer von Aufruhr und Prostest getragenen Bewegung zu den stillen Unruhen einer underclass, die durch Abweichung, Devianz, Kriminalität und Sozialisationsmängel und durch Armut und wohlfahrtsstaatliche Regelungen charakterisiert wird. Das belegen auch die entsprechenden Programme, die der Autor zitiert. Und er resümiert eine Veränderung der symbolischen Repräsentation und des politischen Umgangs mit dem Ghetto. Das alte kommunale Ghetto war in der Tat ein anderer Ort, der durch ein Kollektivbewusstsein seiner Bewohnerschaft und durch strukturelle Bedingungen des Lebens in ihm scharf nach außen abgegrenzt war. Anders das Ghetto von heute, das der Autor als Hyperghetto bezeichnet. Seine städtebauliche Gestalt, seine demographische Zusammensetzung und seine institutionelle Verfasstheit und seine Funktion in der oder besser: für die Gesamtstadt macht es zwar offener und zugänglicher, wenngleich auch ausschließender. Seine Bewohnerschaft erfährt die Stadt aus der Sicht des Ghettos auf der Handlungsebene. Auf der Systemebene spüren die Bewohnerschaft nicht, dass sie zwar in der Stadt verankert ist und dennoch von ihr ausgeschlossen ist. Das beschreibt der Autor eindringlich am Beispiel auch der Chicagoer Ghettos. Er beschreibt auch den Prozess, der vom Gemeinschaftsghetto der 1950er Jahre zum Hyperghetto der 1990er Jahre geführt hat. An Hand einer Reihe von empirischen Beispielen erläutert der Autor den physischen Verfall und die damit verbundenen Gefahren im städtischen Kerngebiet, die Entvölkerung, Entproletarisierung und den Zusammenbruch der inneren Organisation des Ghettos, das alltägliche Überleben in der informellen Ökonomie, die ökonomischen und politischen Wurzeln der Hyperghettoisierung, die rassische Segmentierung dequalifizierter Lohnarbeit in Verbindung mit Desinvestition und polarisierendem Wachstum. Weiter diskutiert Wacquant die Rassentrennung, die Wohnungspolitik und die räumliche Konzentration schwarzer Armut. Dabei ist die Rassentrennung die entscheidende intervenierende Variable, die ihre Arbeits-, aber auch ihre Wohnsituation hinreichend erklärt. Auch dies wird ausführlich erörtert.
Der schrittweise Abbau eines eh´ schon „geizigen Wohlfahrtsstaats“, wie Wacquant das nennt, ist eine weitere Ursache der Verschlechterung der Lebenschancen eines urbanen schwarzen (Sub)proletariats. Diese Verschlechterung hat auch ihre Ursache in einer Vernachlässigung der strukturellen und institutionellen Ausstattung städtischer Wohnquartiere.
Es geht dem Autor um die politische Umgestaltung rassischer Herrschaft. Insbesondere plädiert er für eine gründlichere und zugleich kritische Analyse der Funktion, die der Begriff der underclass für die Medien, die Politik und die Wissenschaft hat.
Zu: Die Kosten der (sic!) Rassen- und Klassenausschlusses in „Bronzeville“
An Hand des verachteten innerstädtischen Bezirks von Chicago möchte der Autor aufzeigen, wie die Bewohner eines innerstädtischen Ghettos trotz aller Schwierigkeiten ihren Alltag bewältigen, ihr Leben gestalten und versuchen, der Armut und der alltäglichen Herabsetzung zu entgehen. Dabei kontrastiert er die Ghettosituation mit den angrenzenden Wohnbezirken einer nicht-schwarzen Bevölkerung. Das Ghetto ist durch Deindustrialisierung entstanden und führte zu einem Hyperghetto. Dies wird durch eine Sozialstrukturanalyse unterlegt. Dabei vergleicht der Autor die Sozialstruktur im Hyperghetto mit der der Stadtviertel, aus denen sich der Kern von Bronzeville zusammensetzt. Es ist ein Vergleich der Klassenstruktur, die sich auf die Klasse, das Geschlecht und die Sozialhilfebiographien erstreckt.
Der Autor kommt dann zu Unterschieden im ökonomischen finanziellen Kapital und des sozialen Kapitals im Zusammenhang mit der Armutskonzentration.
Zu: West Side Story. Ein Hoch-Unsicherheitstrakt in Ghetto von Chicago
Wie kann Unsicherheit zu einem Organisationsprinzip gemeinschaftlichen Lebens avancieren? Bedroht die prekäre Lebenssituation an der Grenze zur Desintegration nicht immer auch die Integration und schafft damit Unsicherheit in allen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern? Der Autor setzt sich mit diesen Fragen auseinander und beschreibt die Situation der Bewohnerschaft des Chicagoer Ghettos North Lawndale an der West Side Chicagos, einem der beiden historischen Schwarzen Gürtel dieser Stadt, in dem 62.000 Menschen wohnen – 98 % sind Afroamerikaner. Der Autor beschreibt dieses Ghetto vor dem Hintergrund von Staatsarmut und Straßenkapitalismus und einer informellen Ökonomie, der Auflösung sozialer Beziehungen und der Verkümmerung eines Miteinanders. Der Staat hat sich längst zurückgezogen; die institutionelle Bindung schwindet und das Gesetz der Straße ist geprägt von Angst und Gewalt. Eindringlicher kann die soziale Lage der Bewohnerschaft nicht beschrieben werden.
Zu Teil II Schwarzer Gürtel, roter Gürtel
Zu: Von der Verwechslung zum Vergleich. Parallelen und Unterschiede zwischen französischen Banlieues und US-amerikanische Ghettos
Wacquant wehrt sich gegen eine Verwechselung dieser beiden Formen sozialräumlicher Segregation, Armut und den Handlungskonsequenzen wie Gewalt.
Beide Formen haben unterschiedliche soziohistorische Wurzeln und sozialkulturelle Ausprägungen. Wo das amerikanische Ghetto Folge einer ethnisch-rassistischen Segregation ist, haben wir es bei der französischen Banlieue mit einer sozialstrukturellen Differenzierung sozialer Klassen zu tun. Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, und beides – Unterschiede und Gemeinsamkeiten – sind Gegenstand der folgenden Analyse.
Zunächst beschreibt der Autor unter dem Stichwort „Moralpanik vor den ‚Cités-Ghettos‘“ den Prozess der gesellschaftlichen Zuschreibung diskreditierender Merkmale, die diesen Quartieren anhaften. Für die Erklärung dieses Prozesses bemüht er den Konstruktivismus. Die Wirklichkeit dieser Quartiere ist konstruiert. Weiter geht er auf die Wohnungspolitik ein und auf die Programme, die sich mit diesen Quartieren verbinden lassen und die auch zu einer Diskreditierung der Quartiere beitragen. Sogar Sozialwissenschaftlern wirft der Autor vor, ihren Beitrag dazu geleistet zu haben.
Banlieues sind keine Ghettos, obwohl es oberflächliche Ähnlichkeiten in der morphologischen Entwicklung und der gelebten Erfahrung gibt. Ähnlich ist zunächst die demographische und ökonomische Struktur. Die Zusammensetzung der Bevölkerung, ihre Verteilung im Raum und ihre Dynamik machen deutlich, dass es sich um Enklaven handelt, in der sich ethnische Minderheiten konzentrieren. Auch die Altersstruktur und die Zusammensetzung der Haushalte lassen Ähnlichkeiten erkennen, was ihre Abweichung vom umgebenden Umland betrifft. Der Autor verweist auch auf Ähnlichkeiten in der bedrückenden Atmosphäre und das Stigma des Lebens in einem segregierten Stadtgebiet. Dabei ist der Bezug zur Banlieue auch ambivalent. Für Jugendliche ist es „ihr“ Quartier, das sie bis aufs Messer verteidigen, und dennoch würden sie es gerne verlassen.
Die Ähnlichkeiten in der Struktur und der Erfahrung verdecken tiefgreifende Unterschiede in Ausmaß, Struktur und Funktion. Allein die Größe beider Formen ist unterschiedlich. Das amerikanische Ghetto ist wesentlich größer als die Banlieue. Das hat Auswirkungen auf die Infrastruktur und die städtebauliche Gestalt dieser Quartiere. Auch die Zusammensetzung der Bevölkerung ist unterschiedlich. Haben wir es beim amerikanischen Ghetto mit einer überwiegend afro-amerikanischen schwarzen Bevölkerung zu tun, die auch einen uniformen Lebensstil ausprägt, finden wir in den französischen Banlieues eher eine ethnische Diversität und Verteilung der Bevölkerung.
Die Armutsraten in beiden Formen sind kaum vergleichbar. Ghettobewohner sind sehr viel öfter und stärker von Armut betroffen als französische Banlieuebewohnerinnen und -bewohner. Dagegen gleichen sich die Faktoren der Unsicherheit durch Kriminalität und Gefahren eher an. Auch der prekäre Zustand von Wohnbeständen und der öffentlichen Infrastruktur sowie die alltäglichen Lebensbedingungen sind eklatant verschieden.
Das Fazit des Autors: Das französische „Ghetto“ ist eine soziologische Absurdität.
Zu: Stigma und Teilung. Vom Stadtzentrum Chicagos an die Stadtränder von Paris
Der Autor beschreibt zunächst zwei interdependente Prozesse städtischer Entwicklung in den westeuropäischen Städten: Die Verstärkung von sozialer Ungleichheit und Marginalität, die ihren Ausdruck auch in sozialräumlicher Segregation findet und in einer Spaltung der Städte endet und das Aufkommen xenophobischer Spannungen rassistisch orientierter Ideologien aufgrund zunehmender Armut und Arbeitslosigkeit gegenüber Bevölkerungsgruppen, die als Migranten zunächst nur vorübergehend in den Ländern bleiben wollten und wieder zurück kehren wollten, jetzt aber geblieben sind Er fragt sich dann, warum von einer Amerikanisierung der Armut in den Städten Europas geredet wird und ob dies aufrechterhalten werden kann. Nach einigen methodologischen Anmerkungen zu Erforschung dieser Frage analysiert der Autor die sozialen und mentalen Strukturen urbaner Ausgrenzung im amerikanischen Schwarzen Gürtel und im französischen Roten Gürtel.
Was macht den Unterschied aus zwischen der Banlieue der französischen Arbeiterklasse und dem Ghetto der amerikanischen Schwarzen?
Als Erstes muss davon ausgegangen werden, dass das Wohnen in einem sozialräumlich segregierten Wohngebiet mit der Stigmatisierung der dort wohnenden Bevölkerung auf Grund der Adresse verbunden ist. Das ist eine zentrale Erfahrung, die Auswirkungen auf das Handeln der Bewohner außerhalb des Viertels hat. Dies beschreibt der Autor eindringlich an Hand von Beispielen. Die Territorialisierung des Stigmas führt in Frankreich dann irgendwann zur Auflösung der inneren Bindungen und Strukturen des Quartiers, widersprechen doch solche Prozesse der Ideologie einer ungeteilten Staatsbürgerschaft in der französischen Gesellschaft. Im Unterschied zum Ghetto. Dort gehört doch diese colour line des schwarzen Ghettos zur Ordnung der Dinge und entspricht der individualistischen Ideologie der Leistung und auch des Scheiterns, eines american way of life. Nach einer ausführlichen Schilderung dieser Prozesse fragt der Autor nach der sozialen Vision und Division im Ghetto und in der Banlieue. Er kommt dann zu den unterschiedlichen historischen Entwicklungen und sozio-historischen Ursachen beider Formen sozialräumlicher Segregation, zu der amerikanischen Apartheid und den sozialstrukturellen Verwerfungen in der französischen Banlieue, die mit der Kluft zwischen Verhältnissen in der Banlieue und außerhalb von ihr, im „Rest der Welt“ besteht und die vor allem die Jugendlichen der Banlieue spürt. Dies ist auch eine Gemeinsamkeit zwischen den Jugendlichen des roten und des schwarzen Gürtels.
Und schließlich beschreibt Wacquant die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in den Banlieues als heterogen. Keine einzelne Ethnie beherrscht die Szene dort. Dass Ethnien zusammengeführt und vermischt sind, ist die gemeinsame Erfahrung der Prekarität ihrer sozialen Lage in der Banlieue und ihre prekäre „Klassenlage“ in der französischen Gesellschaft. Und die nachkommende Generation der Immigranten ist stärker bemüht, sich in die französische Gesellschaft zu integrieren und wem es gelingt, der verlässt die Banlieue.
Zu: Gefährliche Orte. Gewalt, Isolation und der Staat
In diesem Kapitel beklagt der Autor die Unzulänglichkeiten der Forschung vor allem in international vergleichender Perspektive. Dies ist umso bedauerlicher, als mit dem Begriff der Unterschicht die städtische Armut in eine spezifische Richtung interpretiert wurde. Es wird dabei davon ausgegangen, dass es sich in den amerikanischen Städten um eine rassistische Armut handelt, die gleichsam die Position dieser Armen per definitionem festschreibt, was auch erklärt, dass die andauernde Armut der Afroamerikaner ihre Ursprünge in dieser Form einer exkludierenden Schließung des Ghettos hat, die Armut reproduziert und verfestigt.
Für beide Formen sozialer Segregation – der amerikanischen und der französischen – gilt, dass sie jeweils für gefährlich gehalten werden und dass Delinquenz, Straßengewalt und das Schrumpfen des öffentlichen Raumes zu typischen Merkmalen für beide Formen gelten. Jedoch unterscheiden sie sich in der Intensität, der Häufigkeit und der Art der kriminellen Handlungen, auch wie stark sie sozial verankert sind und welche Auswirkungen Gewalt hat. Dies wird am Beispiel der Jugenddeliquenz erläutert. Allerdings lassen sich die Reaktionen auf diese Situation unterscheiden. In den französischen Banlieus gibt es eine Reihe vom Staat unterstützter privater und staatlicher Aktivitäten und Interventionen, während sich der Staat aus den nordamerikanischen Ghettos zurückgezogen hat, Institutionen fehlen oder wirkungslos sind. Allerdings findet man in den französischen Banlieues auch die Situation, dass grundlegende Einrichtungen und öffentliche Dienstleistungen vermisst werden, obwohl die Institutionen vor Ort sind. Dieser Widerspruch wird von Wacquant ausführlich beschrieben und analysiert.
Zu Teil III Blick nach vorne. Städtische Marginalität im 21. Jahrhundert
Zu: Der Aufstieg fortgeschrittener Marginalität. Spezifizierungen und Auswirkungen
Underclass und Banlieue sind zwei Gesichter der fortgeschrittenen Marginalität. Aber es sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Gesichter dieser Marginalität. Und schon gar nicht kann von einer Amerikanisierung städtischer Armut, Segregation und Exklusion gesprochen werden. Damit verbietet sich auch eine Diskussion um die Ethnisierung westeuropäischer Städte, wie sie Amerika kennt. Auch der strukturelle Unterschied ist deutlich. Während die afro-amerikanischen Ghettos während der Phase industrieller Verstädterung gezwungen waren, ihre eigenen Institutionen zu entwickeln, um auf die Ausgrenzung durch die Gesellschaft zu reagieren, hat sich ein solcher Prozess in den Banlieus nie vollzogen. Deutlich wird aber auch, dass die durch sozialräumliche Verdrängung erfolgte soziale Exklusion ein Effekt der verstärkten sozialen Ungleichheit und sozialer Verwerfungen ist und nicht nur ein Symbol sozialer Ungleichheit und sozialer Verwerfungen. „Fortgeschritten“ heißt in diesem Zusammenhang, dass diese Prozesse nicht hinter uns liegen und quasi abgeschlossen sind, sondern erst noch vor uns liegen und an Dynamik zunehmen.
Wacquant geht auf sechs Merkmale der neu entstehenden Marginalität ein:
- Lohnarbeit als Vektor sozialer Instabilität und Lebensunsicherheit
- Funktionelle Entkoppelung von makroökonomischen Entwicklungen
- Territoriale Fixierung und Stigmatisierung
- Räumliche Entfremdung oder die Auflösung des „Ortes“
- Der Verlust des Hinterlandes
- Soziale Fragmentierung und symbolische Zersplitterung oder die unvollendete Genese des „Prekariats“
Diese Merkmale werden vom Autor ausführlich diskutiert, bevor er zu den daraus folgenden Implikationen für die Stadttheorie und die Stadtforschung kommt. Es geht in der Tat um eine Neuausrichtung der bisherigen Formen sozialer Analyse und des politischen Handels bezüglich sozialer Ungleichheit. Alle sechs beschriebenen Merkmale bieten dazu Anlass und könnten eigene Forschungsfragen entwickeln.
Und es geht um eine Revolutionierung der Sozialpolitik, um eine Neubewertung und Neuausrichtung zentraler Inhalte sozialpolitischen Handelns.
Zu: Logiken urbaner Polarisierung. Der Blick „von unten“
In diesem abschließenden Kapitel handelt es sich um eine Zusammenfassung und eine vertiefende Betrachtung der neuen Formen städtischer Ungleichheit und Marginalität. Polarisierung von unten meint dabei die Zunahme gesellschaftlicher Positionen in den unteren Bevölkerungsgruppen, die die Gesellschaft gleichsam verabschiedet. Auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Hierarchie nehmen Positionen zu, die auf die Gesellschaft nicht mehr angewiesen sind, die sich abkapseln und dennoch die Gesellschaft beherrschen. Dies macht sich sowohl in der Sozialstruktur bemerkbar als auch in der Raumstruktur. Die gesellschaftliche Position lässt sich an der räumlichen Verteilung der Bevölkerung in einem städtischen Raum ablesen.
Dabei skizziert der Autor einmal das neue Regime städtischer Marginalität, das sich am Ende der fordistischen Industrieproduktion und Massenkonsums in den letzten drei Jahrzehnten entwickelt. Dieses fordistische Modell hatte solange Bestand wie der soziale Wohlfahrtsstaat alle gesellschaftliche Gruppen zu integrieren vermochte, was ihm am Ende der fordistischen Ära nicht mehr gelang.
Zum anderen geht Wacquant der Frage nach, ob es eine transatlantische Konvergenz großstädtischer Armutsregimes zwischen Europa und USA gibt.
Schließlich geht es um die Analyse der sozialen Kräfte und Formen, welche die Krise der Großstädte heute zeitigen und die auch in Zukunft die Metropolentwicklung gestalten werden.
Wacquant macht vier strukturelle Dynamiken aus, die die neue städtische Armut schüren:
- Die makrosoziale Dynamik: Spaltung des Arbeitsmarktes und der Wiederanstieg sozialer Ungleichheit. Die neue Marginalität in den Städten ist Resultat wachsender Ungleichheit im Kontext der rapide sich beschleunigenden ökonomischen Dynamik und des allgemeinen Wohlstands.
- Die wirtschaftliche Dynamik: Entsozialisierung von Lohnarbeit. Die neue Marginalität ist ein Nebenprodukt der Umwandlung der Arbeitssphäre. Diese Umwandlung hat eine quantitative und eine qualitative Dimension. Sie bezieht sich einmal auf die Automatisierung, die Konkurrenz der Arbeitskräfte aus dem Ausland und die Verlagerung der ökonomischen Schwerpunkte hin zum Dienstleistungsbereich (quantitativ). Zum anderen bezieht sich die Umwandlung auf die Zerstückelung und Verschlechterung der zentralen Beschäftigungs-, Vergütungs- und Sozialversicherungsbedingungen (qualitativ).
- Politische Dynamik: Der Umbau des Sozialstaats. Die Wohlfahrtsstaaten sind die Haupterzeuger großstädtischer Marginalität. Dies bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass die sozialstaatlichen Leistungen die marginale Position einer bestimmten Klientel der unteren Bevölkerungsgruppen an den Grenzen zur Desintegration verfestigt. Sie bezieht sich auch darauf, dass staatliche Sozialpolitik zur Reproduktion der sozialen Schichtung entscheidend und unmittelbar beiträgt.
- Räumliche Dynamik: Konzentration und Stigmatisierung. Die fortgeschrittene räumliche Marginalität erzeugt eine Konzentration der Bevölkerung am untersten Ende der sozialen Stratifikation. Wo in der Phase der industriellen Verstädterung Arbeitsviertel noch in Grenzen gemischt waren mit qualifizierten und nichtqualifizierten Arbeitern, führt die neue städtische Armut zu einer räumlichen Entmischung und Konzentration einer Armutsbevölkerung, die von der ökonomischen und sozialen Dynamik der Stadt vollkommen abgekoppelt ist.
Diese Dynamiken werden ausführlich erörtert, bevor der Autor dann die These einer transatlantischen Konvergenz ausführlich diskutiert. Dabei geht es um die Frage, ob die Konvergenz nicht auch gleichgesetzt wird mit Amerikanisierung der westeuropäischen Verhältnisse, was gleichbedeutend wäre mit der Zunahme ethnorassistischer Spannungen und Spaltungen.
Zum Schluss geht Wacquant noch auf die Wende zum strafenden Staat ein. Die Diskreditierung der Armen und Arbeitslosen hat in der städtischen Ordnung oft auch zu Folge, dass sie aus öffentlichen Räumen, Institutionen und Handlungsbereichen vertrieben werden, ausgeschlossen sind oder in stigmatisierten Quartieren wohnen, was einer Stigmatisierung außerhalb des Quartiers gleichkommt. Der Autor belegt dies auch mit Zahlen.
Zu: Postskript. Theorie, Geschichte und Politik in der Stadtanalyse
Das Buch ist eine Bilanz einer vergleichenden soziologischen Forschung über städtische Marginalität in den USA und in Westeuropa. Die Hinwendung zu diesem Thema – so schildert Wacquant dies – wurde durch drei Ereignisse ausgelöst: die Begegnung mit dem Schwarzen Ghetto, die Begegnung mit dem Ausnahmegelehrten William J. Wilson (The Truly Disadvantaged) und die Diskussion über plötzlich auftauchende „Immigrantenghettos“ in Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern. Die Texte wurden z.T. überarbeitet, z.T. wurden sie auch so gelassen, weil sie auf eine Aktualität verweisen, die sie auch heute noch haben.
Gleichzeitig will der Autor auf die Problematik von Vergleichen hinweisen und warnt vor einer „Konvergenz“ des Ghettos und der französischen Banlieue oder ähnlicher sozialräumlicher Strukturen in anderen Ländern Westeuropas, hat doch die Auflösung der traditionellen Arbeiterviertel in Westeuropa nicht zur Ghettoisierung ihrer sozialräumlichen Strukturen in westeuropäischen Großstädten geführt. Dies alles wird vor dem Hintergrund biographischer Entwicklungen und persönlicher Prägungen ausführlich diskutiert.
Diskussion
Das Buch ist eine Conclusio eines Lebenswerks. Vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Fragen urbaner Marginalität entfaltet Wacquant noch einmal seine Grundsatzüberlegungen zu einer vergleichenden Soziologie städtischer Marginalität in den USA und in Europa, speziell in Frankreich. Seine differenzierten und zugleich engagierten Analysen lassen ihn zu der Erkenntnissen kommen, dass sowohl die soziohistorischen Wurzeln als auch die kulturellen Prägungen und das soziale Gefüge der schwarzen Ghettos in Amerika nicht zu vergleichen sind mit der Entstehung, der kulturellen Prägung und des sozialstrukturellen Gefüges der französischen Banlieues. Auch dann, wenn Gemeinsamkeiten der sozialen Phänomene, der Handlungsformen und -bedingungen und der Rahmenbedingungen des Lebens gegeben sind, sind die strukturellen Unterschiede urbaner Marginalität in den USA und Europa eklatant.
Vor allem wehrt sich Wacquant gegen die These, in den Vereinigten Staaten sei eine neue „underclass“ entstanden, die in ihrem Verhalten, ihrem Bewusstsein und ihren kulturellen Prägungen verschieden sei zu den Verhaltensweisen und Bewusstseinsformen der amerikanischen „middle-class“ und damit zu den zentralen Werten und Normen der amerikanischen Gesellschaft. Eine durch Stigmatisierung bestimmter Gesellschaftsgruppen erzeugte soziale Ausgrenzung kommt einer sozialen Konstruktion gleich. Außerdem wird der strukturelle Rahmen ausgeblendet, in dem diese Bevölkerungsgruppen leben, also sowohl die sozialräumlich segregierten Wohn- und Lebensbedingungen, ihre ökonomische Armut und ihre kulturelle Entfremdung, unter denen die so Stigmatisierten ihr Leben deuten und ihre Selbstwertregulation steuern müssen.
Fazit
Das Buch ist ein Kompendium der Geschichte, Theorie und Politik städtischer Ausgrenzung. Es macht deutlich, wie lange diese Prozesse urbaner Segregation und Exklusion schon sozialwissenschaftliche Analyse und Theorieansätze hervorgebracht und entwickelt haben. Loic Wacquant ist dabei eine hervorstechende Persönlichkeit, die – vielleicht auch in Nachfolge von Wilson – in aller Schärfe diese Form urbaner Ausgrenzung analysiert hat und ihre Politik an den Pranger gestellt hat.
Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em.
Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt
Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 12.02.2018 zu:
Loïc J. D. Wacquant: Die Verdammten der Stadt. Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität. Springer VS
(Wiesbaden) 2017.
ISBN 978-3-658-02679-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23745.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
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