Archana Krishnamurthy: Scham Macht Geschlecht
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 11.01.2018

Archana Krishnamurthy: Scham Macht Geschlecht. Körperdialoge in Südindien. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 300 Seiten. ISBN 978-3-8474-2111-5. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
„Scham Macht Geschlecht: Körperdialoge in Südindien“ lautet der Titel der hier vorgelegten Dissertation, die 2016 mit dem Cornelia Goethe-Preis ausgezeichnet wurde, zudem gewann sie den Dissertationspreis promotion des Barbara Budrich Verlags.
Die Autorin versteht Scham als mächtiges, schmerzhaftes Gefühl, das auftaucht, wenn Normen übertreten werden, als Gefühl, das als sozialer oder politischer Affekt schlechthin gelten kann. In ihrem Buch geht Aki Krishnamurthy der Frage nach, wie Scham im Zusammenhang mit Geschlechternormen in einem postkolonialen Kontext wie Indien funktioniert. Dabei hat die Autorin ihre theaterpädagogische Ausbildung im Rahmen des Theaters der Unterdrückten genutzt, um eine innovative Untersuchungsmethode zu erarbeiten, nämlich die Darstellung erinnerter Schamsituationen und ihre Auswirkungen auf den Körper mit theatralischen, Mitteln. Dazu wurden zwei Theaterworkshops in Südindien durchgeführt, bei denen die Frauen aufgefordert wurden, zunächst eigene als Frau erlebte Schamsituationen zu spielen und daran anschließend darzustellen, wie ihre Scham sich anfühlt und wie Scham auf sie wirkt. Im Anschluß daran wurden die Forschungsteilnehmerinnen aufgefordert, die vorher gezeigten Situationen zu verändern und dadurch einen anderen Umgang mit Scham und schamerzeugenden Kontexten zu entwickeln.
Autorin
Archana (Aki) Krishnamurthy ist Politikwissenschaftlerin, Theateraktivistin und Feministin. Sie ist davon überzeugt, dass soziale Veränderungen von und mit dem Körper gedacht werden müssen. Schwerpunkt ihrer theaterpädagogischen Arbeit ist die Gender- und Friedensarbeit und das Engagement in emanzipativen Theaterprojekten (Theater der Unterdrückten nach Paolo Freire) mit Frauen und Jugendlichen, z.B. aus marginalisierten Stadtvierteln von Buenos Aires oder mit Frauen in Südindien (im Rahmen ihres Dissertationsprojektes).
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Dissertation gliedert sich neben der Einführung in acht Schwerpunktkapitel:
- Einleitung: „Schäm Dich!“
- Machtkritische Wissensproduktion?
- Grounding Theory in Bodies
- Grundvokabular
- Schamgeschichten
- Die Namen der Scham
- Körperscham – Schamkörper
- Körperwiderstand – Widerstandskörper
- Scham Macht Geschlecht.
Zugrunde liegt den Ausführungen das folgende Verständnis von Scham: „Scham ist ein mächtiges, ein schmerzhaftes Gefühl. Ein Gefühl, das als sozialer oder politischer Affekt schlechthin gilt (vgl. Heller 1985). Denn Scham tritt ausschließlich im Kontext sozialer Beziehungen auf, bei denen der wertende Blick der Anderen, ob nun real oder imaginiert, ausschlaggebend ist. Scham taucht auf, wenn Normen nicht erfüllt werden (vgl. Lewis 1993). Diese Eigenschaft der expliziten Normgebundenheit verleiht diesem Gefühl einen besonderen Stellenwert im gesellschaftlichen Miteinander, vor allem im Hinblick auf ständige Aushandlungsprozesse darüber, was ‚normal‘ ist und welche Abweichungen von der Norm nicht geduldet werden und folglich (emotional) sanktioniert werden.“ (15)
Anliegen von Krishnamurthys Arbeit ist es, „die gesellschaftliche, politische und kulturelle Funktion von Scham und damit die Wirkmächtigkeit von Emotionen bei Geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen in Südindien zu beleuchten und vom Körper ausgehend zu verstehen. Gleichzeitig sollen geschlechtsspezifische postkoloniale Kontinuitäten aufgezeigt werden, um damit eurozentristische Perspektiven auf Indien als ‚Schamgesellschaften‘ zu dekonstruieren.“ (16). Ziel ihres Forschungsvorhaben war es demzufolge: „Zuschreibungen von Scham als ‚weiblich‘ in ihrer performativen subjekthervorbringenden Wirkung zu untersuchen, ohne dabei Phantasien von der ‚armen, braunen‘ Frau zu reproduzieren. Verkörperlichungen von Scham als Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen kolonialen und kolonisierten Geschlechterdiskursen zu verstehen (vgl. Bannerji 1997), scheint daher ein geeigneter Ausgangspunkt.“ (17).
Dabei erforscht die Autorin
- „Welche Rolle Scham bei ‚weiblichen‘ Subjektivierungsprozessen spielt?
- Wie sich Scham körperlich auswirkt.
- Welche Rolle Scham bei der (körperlichen) Materialisierung von Geschlechterdiskursen spielt.“ (17).
Die Autorin geht von der Annahme aus, dass geschlechtsspezifische Diskurse eine Resonanz im Körperlichen haben, sodass es ihr ein Anliegen war, eine Methode zu finden und einzusetzen, in der eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Körperlichkeit erfolgen konnte. Da die Autorin über Erfahrungen in der theaterpädagogischen Arbeit und eine entsprechende Ausbildung hinsichtlich der Theaterarbeit auf der Basis des Theater des Unterdrückten verfügte, entschloss sie sich dazu, zwei Theaterworkshops in Südindien durchzuführen. Die Autorin entschied sich für den Zugang über das Theater der Unterdrückten, weil sie damit die Möglichkeit verbindet: „Unterdrückungssituationen und Möglichkeiten zu reflektieren, diese aufzubrechen und zu verändern.“ (192). In diesen beiden Theaterworkshops in Südindien wurden die Frauen aufgefordert, zunächst eigene als Frau erlebte Schamsituationen zu spielen und im Anschluß darzustellen: wie ist meine Scham und was macht die Scham mit mir? Durch diese Darstellungen konnten die besonderen Qualitäten von Scham und ihre Auswirkungen auf den Körper zum Ausdruck gebracht werden. In einem nächsten Schritt wurden die Forschungsteilnehmerinnen aufgefordert, die vorher gezeigten Situationen zu verändern und damit einen anderen Umgang mit der Scham zu entwickeln. Die in den beiden Workshopgruppen von den Frauen dargestellten Szenen wurden von den Teilnehmerinnen anschließend beschrieben, interpretiert und diskutiert. Diese Texte sind die zentrale Grundlage der empirischen Auswertungen, das „verbal formulierte Wissen der Forschungsteilnehmerinnen“ (49) stand dabei im Mittelpunkt.
In den von den Frauen dargestellten Schamsituationen wurden zwei bedeutsame Quellen geschlechtsspezifischer Scham aus Frauenperspektive deutlich: die Menstruation und die Brüste. Stark schambesetzt war das mögliche Sichtbarwerden des Blutes der Menstruation und das mögliche Sichtbarwerden der Brüste, zum Beispiel durch ein Verrutschen der Dupatta, des den Oberkörper bedeckenden Schales. Für den indischen Kontext kamen als potentiell relevante Kategorie noch die Kastenzugehörigkeit hinzu.
Das Theaterspiel und die anschließenden Diskussionen machten deutlich: „das Scham unterschiedliche Gestalten annehmen kann, was individuell und entsprechend des Schamanlasses variiert. Die Diskussionen und Interpretationen weisen zudem darauf hin, dass Gefühle und Emotionen gesellschaftliche Phänomene sind. Sowohl die persönliche als auch die soziale Einordnung von Empfindungen, also das Wissen um Gefühle/Emotionen, ist abhängig vom biographischen Gefühlswissen und dem gesellschaftlichen Gefühlsregime. Gefühlsregime geben den Rahmen vor, in dem Bedeutungen von Gefühlsweisen verknüpft werden.“ (140). Damit in Zusammenhang steht, dass zentral für das Verständnis von Scham das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft ist (140). Daher legt die Autorin auch besonders Augenmerk auf die Untersuchung der Machtfrage, in besonderem Zusammenhang mit der Verkörperlichung von Scham, also der Frage nach einem möglichen spezifischen Körpervokabular der Scham, der Frage danach, wie es entsteht und wie es sich in besonderer Weise bei Frauen ausdrückt. Auch hier hat sich die Methode des Theatralisierens nach Paolo Freire besonders bewährt, denn sie kann nicht nur zu einer Sichtbarmachung von Machtverhältnissen beitragen, sondern – im Idealfall – auch beitragen zur Entwicklung von Interventions- bzw. Handlungsmöglichkeiten. Dabei arbeitet die Autorin unter anderem heraus: „Das Körpervokabular der Scham … ist Ausdruck verdichteter Erfahrung von Machtbeziehungen.“ (181)
Diskussion und Fazit
In der Begründung für die Verleihung des Dissertationspreises promotion des Barbara Budrich Verlags heißt es: „Krishnamurthy ist eine großartige Arbeit zu diesem sehr spezifischen aber aktuellen Thema der Geschlechterforschung gelungen. Empirische Grundlage dafür sind zwei Theaterworkshops in Südindien, die die Preisträgerin selbst durchgeführt hat. Die Analyse der daraus gewonnenen Erkenntnisse überzeugt sowohl durch wissenschaftlich hervorragende Qualität als auch durch ihre Relevanz und spannende Darstellung.“ Dieses Zitat beschreibt treffend Anliegen und Ansatz der Arbeit Aki Krishnamurthys. Ihr ist es gelungen, eine wirklich innovative und höchst lesenswerte Arbeit vorzulegen, die eine sehr neue Sichtweise und einen kreativen methodischen Zugang zur Auseinandersetzung auf das Thema Scham eröffnet und dabei neuartige und tiefgründige Perspektiven auf den Zusammenhang von Scham – Gender – Scham eröffnet.
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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