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Hermann Josef Abs, Katrin Hahn-Laudenberg (Hrsg.): Das politische Mindset von 14-Jährigen

Rezensiert von Dr. Rolf Frankenberger, 04.10.2018

Cover Hermann Josef Abs, Katrin Hahn-Laudenberg (Hrsg.): Das politische Mindset von 14-Jährigen ISBN 978-3-8309-3737-1

Hermann Josef Abs, Katrin Hahn-Laudenberg (Hrsg.): Das politische Mindset von 14-Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2017. 368 Seiten. ISBN 978-3-8309-3737-1. 39,90 EUR.

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Thema

Liberale Demokratien weltweit erfahren seit einigen Jahren Herausforderungen – von außen durch autoritären Herrscher, die nichtdemokratische Akteure in Demokratien stützen ebenso wie von innen durch (rechts) populistischen Parteien und Bewegungen, die demokratische Grundwerte infrage stellen. Demokratie muss also verteidigt werden, muss sich selbst erneuern. Und sie muss als Herrschaftsform von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen werden, sie muss als legitime Herrschaftsform angesehen werden, um fortzubestehen, wie beispielsweise der amerikanische Politikwissenschaftler David Easton schon in den 1950er Jahren argumentiert hat. Mithin bedarf es einer demokratischen politischen Kultur, die sich gerade bei jungen Menschen in der Sozialisation erst herausbilden muss. Mit der Frage, welche Einstellungen, Meinungen und Erfahrungen junge Menschen zu den Themen Politik und Partizipation haben, setzt sich die vorliegende Publikation auseinander.

Entstehungshintergrund

In der International Civic and Citizenship Education Study 2016 (ICCS) wurden Jugendliche im Alter von 14 Jahren aus verschiedenen Ländern, unter anderem 1451 Jugendliche aus Nordrhein-Westfalen befragt mit dem Ziel herauszufinden, „inwieweit Schüler*innen au ihre Rolle als Bürger*innen einer Demokratie vorbereitet sind“ (S. 9). Die von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement durchgeführte Studie ist nach Studien aus 1971, 1999 und 2009 die vierte Studie zum Thema Civic and Citizen Education, die sich mit der Rolle der Schule als „Bildungsinstitution und Sozialisationsinstanz“ (S. 14) und den Ergebnissen politischer und zivilgesellschaftlicher Lernprozesse junger Menschen auseinandersetzt.

Als politisches Mindset werden dabei „demokratiebezogenes Wissen, unterschiedliche Einstellung, Identitäten sowie die Partizipationsbereitschaft von Schüler*innen“ (S. 22) verstanden, die nicht unabhängig voneinander existieren, sondern eine Struktur bilden und „kognitive als auch evaluative, affektive und behaviorale Aspekte“ (S. 22) umfasst. Es geht also darum zu erforschen, wie sich Schüler „zu politischen Fragen und im politischen System positionieren, welche Ziele sie haben und wie sie diese erreichen wollen“ (ebd.).

Herausgeber

Hermann Josef Abs ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Duisburg-Essen und Leiter der „International Civic and Citizen Education Study“ 2016. Er forscht unter anderem zum Wandel von Schule und Lehrerberuf in Zeiten gesellschaftlichen Wandels und hat zahlreiche Forschungsprojekte und Publikationen rund um die Entwicklung von Schule vorzuweisen.

Kathrin Hahn-Laudenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen und war maßgeblich an der Durchführung der ICCS 2016 beteiligt. Sie hat zu politischem und demokratischem Wissen von Schülern promoviert. Zusammen mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Educational Research and Schooling an der Universität Duisburg-Essen und weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind sie auch die Autoren des vorliegenden Bandes.

Aufbau und Inhalt

Der vorliegende Band umfasst sieben Kapitel und ist weitestgehend entlang der zu untersuchenden Forschungsfragen gegliedert.

Während Kapitel 1 „Einleitung“ (S. 9-26) und Kapitel 3 „ICCS 2016 – Design und methodisches Vorgehen“ (S. 47-76) sowie Kapitel 7 „Zukunftsfragen“ (S. 354-364) den Rahmen für das Verstehen und Nachvollziehen der Studie darstellen, sind die weiteren Kapitel 2, 4, 5 und 6 jeweils mit konkreten Forschungsfragen verbunden. Diese Forschungsfragen und einige zentrale Befunde sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, da sie einen sehr guten Überblick über das geben, was die Leserin und den Leser erwartet.

Kapitel 2 „Politische und zivilgesellschaftliche Bildung in Kernlehrplänen“ (S. 27-46) setzt mit der Frage der Kongruenz zwischen den in der ICCS abgefragten Dimensionen oder Aspekte des „politischen und zivilgesellschaftlichen Mindsets“ den Inhalten der Lehrpläne in Nordrhein-Westfalen entsprechen (S. 23). Dabei zeigt sich, dass aufgrund der vergleichsweise allgemein gefassten Lehrpläne „partiell unterschiedliche Konzeptionen von Civic and Citizenship Education“ (S. 44) verwendet werden. So fehlten in den Lehrplänen etwa Fragen der religiösen, nationalen und europäischen Identifikation.

Kapitel 4 „Dimensionen des politischen Mindsets“ (S. 77-254) stellt den eigentlichen Kern der Studie dar und umfasst sechs Unterkapitel, die jeweils eine Forschungsfrage beantworten:

  • Kapitel 4.1. „Politisches Wissen und Argumentieren“ (S. 77-111) fragt nach den „Kompetenzen zur Analyse des politischen Geschehens“ (S. 23) sowie den Problemen, die Schülergruppen bei der Analyse politischer Sachverhalte haben. Das politische Wissen der untersuchten Schülerinnen und Schüler liegt dabei nahe am internationalen Mittelwert, wobei die Streuung zwischen leistungsstarken und leist8ungsschwachen Schülern im Vergleich relativ niedrig ist. Festzustellen ist zudem, dass der Anteil der Schüler in der höchsten Kompetenzstufe, also mit sehr elaboriertem Wissen, statistisch signifikant und deutlich unterhalb der internationalen und europäischen Vergleichsgruppe liegen. Sie kennen und verstehen „zwar mehrheitlich grundlegende Prinzipien“, aber das tiefere Verständnis politischer Prozesse sowie die Urteilskompetenz seien weniger gut entwickelt (S. 97). Geschlecht, Migrationshintergrund und Anzahl der Bücher sowie Schulform haben dabei einen Einfluss auf das Abschneiden im Survey.
  • Kapitel 4.2. „Identität und politische Selbstwirksamkeit“ (S. 112-134) untersucht die Wahrnehmung der eigenen Positionierung und Selbstwirksamkeit im Kontext zum Nationalstaat, der Europäischen Union und der eigenen Religion. Die Befunde zeigen, dass die politische Selbstwirksamkeit bei Schülern in Nordrhein-Westfalen weniger stark ausgeprägt ist als im internationalen Vergleich. Zudem zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit und politischem Wissen. Auch nationale und europäische Identität sind weniger stark ausgeprägt als im europäischen Durchschnitt. Hohe Zugehörigkeit zu Deutschland geht zudem mit hohen Werten bei der Zugehörigkeit zu Europa einher (S. 131). Bezüglich der religiösen Identität zeigen Jugendliche mit Migrationshintergrund höhere Werte, generell ist jedoch für alle Jugendlichen die Zugehörigkeit „zu einem Land oder zu einer Region, Stadt und Gemeinde wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer Religion“ (S. 131).
  • Kapitel 4.3. „Gruppenbezogene Einstellungen“ (S. 135-160) widmet sich der Frage nach der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wie sie auch etwa in den so genannten „Mitte-Studien“ untersucht werden. Es geht darum, welche „abwertenden oder runterstützenden Einstellungen“ Schüler gegenüber gesellschaftlichen Gruppen aufweisen und ob ein Zusammenhang zwischen diesen Einstellungen und der Identifikation mit dem eigenen Land bestehen (S. 23). Der Fokus liegt dabei auf der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie den Rechten von Migranten. Die Zustimmungswerte zur Gleichberechtigung und auch zur Gleichberechtigung von Migranten sind im europäischen Vergleich sehr hoch, wobei sich auch hier ein Zusammenhang zwischen politischem Wissen und diesen Einstellungen zeigt: je höher das Wissen, desto höher die Zustimmung (S. 156).
  • Kapitel 4.4. „Institutionenbezogene Einstellungen“ (S. 161-204) umfasst Fragen nach den Einstellungen gegenüber demokratischen Institutionen, dem Institutionenvertrauen und dem Zusammenhang zwischen politischem Wissen und Vertrauen sowie nach Minderheitenschutz. Die Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen „schenken staatlichen Institutionen ein sehr hohes Maß an Vertrauen“ (S. 199), haben „mehrheitlich positive Einstellungen gegenüber Europa“ (S. 199) und sind für Diskriminierung von Migranten und Homosexuellen, partiell auch Geschlechterdiskriminierung, sensibilisiert.
  • Kapitel 4.5. „Gesellschaftliche Partizipationsbereitschaft“ (S. 205-232) untersucht die politische und zivilgesellschaftliche Handlungsbereitschaft der Schüler. Hier sind die Befunde weniger positiv als in den vorangegangenen Bereichen, denn Schüler aus Nordrhein-Westfalen „beabsichtigen im europäischen Vergleich am seltensten staatsbürgerliche Partizipation“ und wollen unterdurchschnittlich häufig „selber in politischen Institutionen und Funktionen aktiv Politik gestalten“ (S. 228). Was für Wahlen und Mitarbeit in politischen Organisationen gilt, zeigt sich auch bei anderen Partizipationsformen. Viele sehen sich nach den Ergebnissen der Studie eher in einer passiven, rezeptiven Rolle, was im Sinne einer „unreflektierten Obrigkeitshörigkeit“ (S. 228) durchaus problematisch sein können.
  • Kapitel 4.6. fragt nach den individuellen und gesellschaftlichen „Zukunftsperspektiven der 14-Jährigen“ (S. 233-254). Dabei zeigt sich, dass „die Belastungen der Umwelt, ebenso wie Terrorismus, im Vergleich zu wirtschaftlichen Aspekten wie Arbeitslosigkeit als bedrohlicher wahrgenommen“ (S. 249) werden. Auch die europäische Zukunft werde wenig optimistisch eingeschätzt.

Kapitel 5 „Erfahrungen der Jugendlichen“ (S. 255-324) setzt sich aus drei Unterkapiteln zusammen und analysiert verschiedene lebensweltliche Kontexte, in denen politisches Lernen stattfindet:

  • Kapitel 5.1. „Schulische Lerngelegenheiten und Partizipationsmöglichkeiten“ (S. 255-278) fragt nach wahrgenommenen Lerngelegenheiten, nach Möglichkeiten der Partizipation in Unterricht und Schule sowie deren Bewertung. Hier kommen die Autoren zu folgendem Fazit für Nordrhein-Westfalen: „Fraglich ist, inwiefern das Einbringen aktueller politischer Fragestellungen durch die Schüler, die Behandlung von klassischen Themen wie Wahl und Gesetzgebung im Unterricht sowie die rechtlich garantierten Möglichkeiten der Schülerpartizipation genutzt werden, um kontrovers und multiperspektivisch ein vertieftes konzeptuelles Verständnis zivilgesellschaftlicher politischer Prozesse und Fragestellungen zu ermöglichen“ (S. 276). Die Befunde legten nahe, dass es sich oftmals um eine eher abstrakte und beschreibende Auseinandersetzung denn eine kritische und multiperspektivische Herangehensweise handle.
  • Kapitel 5.2. untersucht die Ausgestaltung und „Qualität der schulischen Sozialbeziehungen“ (S. 279-305) und insbesondere nach gelingenden Beispielen guter sozialer Beziehungen zwischen Schülern sowie zwischen Schülern und Lehrern. Dabei schnitt Nordrhein-Westfalen im europäischen Vergleich bei der Qualität der Sozialbeziehungen unterdurchschnittlich ab und der gegenseitige Respekt wurde als niedrig eingeschätzt. Auch Mobbing und Viktimisierung scheinen ein relevantes Thema zu sein (S. 301). Besonders wichtig ist dabei der Befund, dass positive Sozialbeziehungen mit positiven Einstellungen gegenüber der Demokratie zusammenhängen.
  • Kapitel 5.3. „Erfahrungen im familiären und räumlichen Umfeld“ (S. 306-324) fragt nach Kontextbedingungen, die „hohe Kompetenzen und Bereitschaft zur Partizipation“ (S. 24) positiv beeinflussen. Dabei zeigt sich, dass Gleichaltrige keine relevante Sozialisationsinstanz für politische Sozialisation sind, ebenso sind Familie und Organisationen in ihrem Einfluss eher als schwach anzusehen. Allerdings konnten die Autoren einen positiven Zusammenhang zwischen politischem Interesse der Eltern und Partizipationsbereitschaft der Kinder nachweisen.

Kapitel 6 „Lehrervoraussetzungen“ (S. 325-353) verändert die Perspektive und fragt danach, „welche Vorbereitung und welche Überzeugungen“ die Lehrkräfte mitbringen, die „politische und zivilgesellschaftliche Bildung in Schulen vermitteln“ (S. 24). Die befragten Lehrerinnen und Lehrer fühlten sich vor allem gut darauf vorbereitet, kritisches Denken und Konfliktkompetenz zu unterrichten (90 %), wohingegen sich lediglich 69 bis 84 % bei fachlichen Themen wie Menschenrechte, Wahlen und Abstimmungen, Gleichberechtigung, Verfassung und politisches System kompetent vorbereitet fühlten.

Diskussion und Fazit

Der vorliegende Band zum politischen Mindset von 14-Jährigen ist eine wertvolle, wissenschaftlich sehr gute empirische Quelle für Informationen rund um die politische Bildung von Jugendlichen im europäischen Vergleich. Die präsentierten Auswertungen bieten viele Einblicke in das Denken und reportierte Handeln von Schülerinnen und Schülern. Die Autorinnen und Autoren interpretieren ihre Befunde sorgfältig und bieten Schlussfolgerungen und Lösungen für einzelne Probleme ebenso an wie weitere Forschungsperspektiven. Diese zeigen auch, dass die Auswertung des vorliegenden Datenschatzes erst am Anfang steht, wie einzelne Autoren auch herausarbeiten.

Gerade der europäische Vergleich ist dabei hilfreich für die Einordnung der Befunde. Lediglich die Tatsache, dass hier mit Nordrhein-Westfalen nur ein deutsches Bundesland untersucht wurde, ist zu bedauern. Denn auch wenn Nordrhein-Westfalen in vielerlei Hinsicht ein hochspannender Fall ist, wäre es doch auch spannend gewesen, deutschlandweit repräsentative Ergebnisse zu haben oder im Idealfall einen Bundesländer-Vergleich anstellen zu können. Gerade angesichts der vielfältigen regionalen Disparitäten nicht nur in der Wirtschaftskraft, sondern auch in der politischen Kultur und der Bildungspläne, könnte ein solcher Vergleich möglicherweise helfen, Schulentwicklungsstrategien im Bereich der politischen Erziehung und Sozialisation spezifischer zuzuschneiden.

Dennoch liefern die vorliegenden Befunde etwa hinsichtlich des durchaus hohen Kenntnisstands der 14 Jährigen bei einer gleichzeitigen passiven staatsbürgerlichen Haltung und im Vergleich eher niedriger Selbstwirksamkeit sowie der Rolle des Schulklimas und der ausbaufähigen Fachkompetenz der Lehrkräfte wichtige Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung von Bildungsplänen und Unterrichtsangeboten im Politikunterricht.

Wer sich also gründlich informieren und sich eine breite empirische Basis für die Diskussion der Zukunft unserer Zivilgesellschaft aneignen möchte, oder Angebote der politischen Bildung und des Politikunterrichts gestalten möchte, findet hier eine sehr gute Publikation vor.

Rezension von
Dr. Rolf Frankenberger
Politikwissenschaftler
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Zitiervorschlag
Rolf Frankenberger. Rezension vom 04.10.2018 zu: Hermann Josef Abs, Katrin Hahn-Laudenberg (Hrsg.): Das politische Mindset von 14-Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2017. ISBN 978-3-8309-3737-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23755.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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