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Nikolas D. Müller: Die gesellschaftliche Konstruktion der Stadt

Rezensiert von Alexander Krahmer, 16.04.2018

Cover Nikolas D. Müller: Die gesellschaftliche Konstruktion der Stadt ISBN 978-3-658-19590-8

Nikolas D. Müller: Die gesellschaftliche Konstruktion der Stadt. Eine Theorie zur Soziologie der Städte. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2018. 270 Seiten. ISBN 978-3-658-19590-8. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 46,50 sFr.

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Thema

Abweichend von einer in der Stadtsoziologie noch immer dominanten Tradition schlägt das Buch ein Verständnis der Stadt als eigenständiges „Wissensobjekt“ vor. Bei dessen Analyse konzentriert sich der Autor auf sinnhafte und sinnstiftende Strukturen „städtischer Wirklichkeit“, die er anhand unseres Alltagswissens untersucht. Methodisch eng an der sozialkonstruktivistischen Wissensoziologie und dem Ansatz städtischer Eigenlogiken orientiert, bedient er sich außerdem der Methode des Repertory Grid (George A. Kelly), um auch auf empirischem Wege die sinnbasierende Konstitution der Stadt nachzuweisen.

Autor

Nikolas D. Müller studierte Architektur in Darmstadt, Delft und Zürich sowie Bauprozessmanagement in Eindhoven. Seit 2017 ist er Professor für „Real Estate Engineering and Management“ sowie Studiengangsleiter für „Real Estate and Leadership“ an der wirtschaftsnahen HSBA (Hamburg). Frühere berufliche Stationen führten ihn in die Unternehmensberatung für nationale und internationale Auftraggeber und als Geschäftsführer in ein Architektenbüro. Müller war ferner als Post-Doc am Fachgebiet Immobilienwirtschaft und Baubetriebswirtschaftslehre der TU Darmstadt beschäftigt, wo er insbesondere zu Themen der Klimapolitik und Energiewende forschte. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um seine Dissertation an der TU Berlin, Fachbereich Soziologie (Martina Löw).

Aufbau

Das Buch ist aufgeteilt in sieben Kapitel und mit zahlreichen Tabellen und computerisierten Grafiken versehen.

Bereits in der Einleitung spitzt Müller sein Anliegen auf die Frage nach dem Allgemeinen und Spezifischen der Stadt als „Objekt des Wissens“ zu. Daran anschließend setzt er sich im zweiten Kapitel zunächst kritisch mit der bisherigen Bestimmung des „Existentiellen und Distinktiven“ des Städtischen auseinander.

Das dritte und vierte Kapitel dienen dann vor allem der Präsentation und Einführung in sein eigenes Forschungsprogramm, das ihm dabei helfen soll, den sinnhaften Aufbau „städtischer Wirklichkeit“ zu entschlüsseln. Hier stützt sich Müller einerseits auf die phänomenologisch-sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie (von A. Schütz bzw. T. Luckmann und P. L. Berger), andererseits aber auf die „Theorie der persönlichen Konstrukte“ des amerikanischen Psychologen George A. Kelly (1955). Dessen auf dieser Theorie aufbauende Methode des Repertory Grid wendet Müller im fünften Kapitel an, um auch empirisch den sinnhaften Aufbau der Stadt zu demonstrieren. Die auf diesem Wege ermittelten „Konstruktionsprinzipien“ werden im Anschluss um „Sinnzuschreibungen“ für spezifische Städte ergänzt, wobei Müller beide zusammen als Kern dessen begreift, was er den „sozialen Sinnraum städtischer Wirklichkeit“ nennt.

Auf dieser Basis führt er auch eine Neubestimmung des Stadt-Land-Unterschieds (214ff) durch, bevor er im sechsten Kapitel ausführlich seine Ergebnisse diskutiert und ihre Verwendung neben Stadtforscher*innen auch Stadtplaner*innen empfiehlt. Das Buch endet im siebten Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Ausblick auf mögliche Anschlussforschungen.

Inhalt

Müller, der seine Arbeit vor allem „explorativ“ versteht (108), möchte damit den sinnhaften Aufbau „städtischer Wirklichkeit“ anhand unseres Alltagswissens nachweisen (3, 126). Dabei stellt er jedoch zunächst fest (im zweiten Kapitel), dass besagte Frage nach einer sinnhaften Stadt-Konstituierung bisher kaum Beachtung fand. Schuld sei vor allem eine subsumierende, gesellschaftstheoretische Logik, die z.B. in den Arbeiten von Marx und Engels, aber auch Weber und Simmel dazu geführt habe, dass das Städtische auf soziale „Prozesse und Strukturen“ verkürzt wurde (2). Entsprechend sei der „Stadt als solcher“ (22) bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Für seinen Versuch, sie als eigenständiges „Wissensobjekt“ (6) zu plausibilisieren, stützt sich Müller unterdessen insbesondere auf die noch junge Theorie städtischer Eigenlogiken (26ff). In ähnlicher Weise möchte auch er den Sinn-Charakter der Stadt im Allgemeinen sowie den spezifischen Bedeutungsgehalt konkreter Städte ermitteln.

Was aber ist eigentlich ‚Stadt‘? Wie der eingangs von ihm zitierte Robert Park (1), versteht sie auch Müller nicht allein räumlich-physisch oder praktisch als Ergebnis kollektiven Handelns, sondern ebenso als „state of mind“ (ebd.), als eine „eigene Sinnprovinz“ (so Martina Löw, vgl. 107). Unter Rückgriff auf die phänomenologische Soziologie Alfred Schütz' bestimmt Müller Städte deshalb einerseits als Erzeugnisse des Handelns und andererseits auch als „Zeugnisse für das Bewußtsein des Handelnden, welcher sie erzeugt“ (28). Um dem hier enthaltenem „sinnsetzenden Konstitutionsprozess“ (86) auf die Schliche zu kommen, konzentriert sich Müllers Studie auf so genannte „Konstruktionsprinzipien“ und „Sinnzuschreibungen“. Ihre Rolle scheint ihm zentral in der sinnhaften Herstellung von „städtischen Wirklichkeiten im Alltagswissen“ (3, 44).

Zu ihrer Aufdeckung greift er außer auf den Sozialkonstruktivismus, auch auf die Theorie persönlicher Konstrukte des amerikanischen Psychologen George A. Kelly zurück (53ff). Müller hält dessen Repertory-Grid-Technik (92ff) für „hochgradig kompatibel“ (251) mit dem besagten Konstruktivismus und dafür geeignet, die „originären Grundstrukturen der Lebenswelt“ (42) zu ermitteln. Die von Kelly bestimmten „Konstrukte“ seien „Grundstein des ganzen psychischen Lebens“ (vgl. 58) und somit auch „Grundlagen für soziales Handeln“ (vgl. 49, 84) in der Stadt.

Um die Prinzipien, „nach denen städtische Wirklichkeit gebildet“ wird (113), auch empirisch aufzudecken, interviewte Müller im Raum Bremen (von 2005 bis 2006) insgesamt 352 Personen. Die Interviewpartner*innen waren auffordert, Bremen und andere Städte anhand vorgegebener „Elemente“ zu beschreiben und zu vergleichen (u.a. „Bremen gestern“, „Bremen heute“, „typisch Bremen“, „Hamburg“, „Vorbildhafte Stadt“, „Erfolgsmodell“, „Top-Wirtschaftsstandort“; vgl. Tabelle 107). Die dabei entdeckten Konstruktionsprinzipien sowie die einzelnen bewerteten Elemente wurden dann von ihm in eine Matrix übertragen (vgl. 129f), sodass Müller am Ende für jede Testperson eine persönliche Theorie der Stadt aufstellte (119).

Um seine Ergebnisse übersichtlich zu halten, griff Müller einerseits auf computerisierte Darstellungsverfahren zurück, die „visuell Auskunft über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Elementen und Konstrukten“ geben können (132, z.B. Abb. 7-10, 134ff); und zusätzlich überführt er die insgesamt 3483 ermittelten Konstrukte in 43 Kategorien (siehe die Tabelle, 150). Dabei entschied er sich, rund 20 Prozent seiner Interview-Ergebnisse unberücksichtigt zu lassen (149), hält seine Erkenntnisse aber noch immer für aussagekräftiger und „ausdifferenzierter“ (162) als jene der „subsumtionslogischen“ Stadtsoziologie. Unter den rund vierzig Kategorien wählt er im Anschluss, aufgrund ihrer Häufigkeit, die „relevantesten Konstruktionsprinzipien“ (166f, Tabelle 169) aus. Hierzu zählen etwa: das „vielfältige kulturelle Angebot“ einer Stadt, ein „positives Stadtbild“, eine „extrovertierte“ Stadt, die über zahlreiche „Grünflächen“ verfügt und „offen für Veränderung“ ist sowie durch „soziale Durchmischung“ geprägt ist. Besonders „Kultur“ hebt er dabei als „das zentrale Konstruktionsprinzip“ für heutige Städte hervor, das ihm in der Untersuchung zudem die „entscheidende Sinnkonstitutive“ (171, 253) scheint. Seiner Auffassung nach, seien solche Erkenntnisse von der bisherigen Stadtforschung ignoriert worden (170f).

Für die daran anschließende Bestimmung der Spezifik einzelner Städte nutzt Müller die bewerteten Elemente, bzw. „Sinnzuschreibungen“ aus seinen Interviews. Außer zu Bremen äußerten sich seine Testpersonen auch zu anderen „Städten in der näheren Umgebung“ (z.B. Bremerhaven, Hamburg, Hannover; vgl. 105) sowie zu einigen Lieblingsstädten (vgl. 201). Bei ihrer Auswertung ermittelt er u.a. als Ergebnis, dass New York eine Stadt mit „exzellente[r] Infrastruktur, einer offenen Veränderungskultur, einem grenzüberschreitenden Denken und einem pulsierenden Straßenleben“ ist, während z.B. Münster eher „als sicher, sauber, ruhig und entspannend“ gilt und über eine „intakte Umwelt“ verfügt (vgl. 205). Müllers Fazit nach einer Auswertung, die etwa auch Hamburg, Berlin und München umfasst, lautet, dass Städte, die sich in „ihrer Größe, Dichte und Heterogenität ähneln“ hinsichtlich ihrer sinnhaften Konstitution durchaus sehr verschieden sein können. (213)

Die Darstellungen dieser Prinzipien und Sinnzuschreibungen endet mit einer Neuakzentuierung des Unterschieds von Stadt und Land, auf Grundlage selbiger Daten (214ff). Im Resüme (des fünften Kapitels) streicht Müller erneut heraus, dass besagte Ergebnisse „bislang keine Berücksichtigung in der klassischen [sic!] Stadtsoziologie gefunden“ hätten (230), bemerkt aber, dass sie gut an die Thesen Richard Floridas über Creative Cities anschließen könnten (vgl. 170f, 209f). Da auch der Eigenlogik-Ansatz bestätigt werde (vgl. 227ff) könne mit seinen Ergebnissen überzeugend argumentiert werden, „dass nicht nur ‚New York nicht Wanne-Eickel und Eimsbüttel nicht Chicago‘ ist, sondern auch, dass Wanne-Eickel nicht Eimsbüttel und New York nicht Chicago ist.“(229)

Darauf aufbauend betont er im sechsten Kapitel einerseits, dass die Stadt also „wesentlich komplexer konstituiert [sei], als es die stadtsoziologischen Zugriffe (…) bislang vermuten ließen“ (236), lässt sich andererseits aber dazu hinreisen, „treffsichere Kausaleffekte“ und „Ursache-Wirkungs-Ketten“ auf Basis der sinnhaften Konstruktion von Städten zu versprechen. „Eindrucksvoll“ lasse sich so zeigen „wie wirkmächtig die Stadt auf lokale Formen der Vergemeinschaftung“ wirke (236, 253). Während er eine Begründung für seinen Forschungsoptimismus bis zum Ende schuldig bleibt, legt er vor allem Stadtplanung und Stadtentwicklung seine Ergebnisse nahe. Sie würden die „entscheidenden Sinnkonstitutiven“ (244) liefern, um Wissensdefizite in der Gestaltung abzubauen und um die Effektivität von Entwicklungsmaßnahmen zu erhöhen (242).

Diskussion

Selbstbewusst als „eine Theorie zur Soziologie der Städte“ untertitelt, die deren „gesellschaftliche Konstruktion“ aufklären will, beschränkt sich das Buch dennoch weitestgehend auf eine bestimmte soziologische Perspektive: den wissenssoziologisch-konstruktivistischen Zugang zur Stadt. Die damit ins Zentrum gerückten Sinnstrukturen des Alltags (hier: „Konstruktionsprinzipien“ und „Sinnzuschreibungen“ genannt) werden untersucht, um Einblicke in die Sinnhaftigkeit der städtischen Wirklichkeit sowie in die „Eigenlogik“ spezifischer Städte zu ermöglichen. Angesichts einer heute sehr starken urbanen Expansion, eines schnellen Wachstums und hoher Dynamiken der Städte und ihrer großen inneren Diversität, erscheint dieses Unterfangen ebenso interessant wie wichtig. Dennoch bleibt fraglich, ob Müller diesem hochgesteckten Anspruch tatsächlich gerecht werden kann.

Der Diversität, Dynamik und Unübersichtlichkeit heutiger (Groß-)Städte stellt der Autor jedenfalls ein ausgesprochen schematisches und systematisiertes Bild städtischer Umwelten und ihrer Wissensinhalte gegenüber. Auch beschränkt sich der Versuch, „Schablonen“ und „Denkschemata“ zu ermitteln, beinahe ausschließlich auf die „interne Struktur des subjektiven Wissens“ (90). Derweil ist weit weniger klar, als hier von Müller suggeriert, was tatsächlich das ‚Wissen von der Stadt‘ alles umfasst – nicht zuletzt da bisher keine übereinstimmende Definiton ‚der Stadt‘ gefunden ist. So bestimmt der französische Autor Olivier Mongin (La Condition urbaine, 2005) die Stadt als einen „begrenzten Raum“, der gerade durch die Unbegrenztheit seiner Erfahrungen und demzufolge auch Wissensinhalte geprägt ist; und der amerikanische Geograph und Stadtforscher Edward W. Soja (Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, 2000) unterscheidet gar mindestens sechs, zum Teil stark divergierende ‚Diskurse‘ über ‚die‘ Stadt und entsprechend ‚ihr Wissen‘. Ebenso heben auch rezentere Studien besonders die Ambivalenz der Stadt und auch ihres ‚Wissens‘ hervor (etwa Krusche, J., Die ambivalente Stadt, 2017), während der von Müller öfters zitierte Anthony King (9 et pass.) gleichermaßen statt von einer Stadtwelt lieber von „worlds“ spricht, „in which the city exists“.

Ist also schon unser Wissen von ‚der Stadt‘ weit prekärer, als es die Rede von aufzeigbaren „Kausaleffekten“ zwischen städtischen Sinnstrukturen und Handeln suggeriert, so gilt Vergleichbares auch für die „innere Struktur“ städtischer Subjekte. Kultursoziologische Untersuchungen zur Großstadt (vom zitierten Georg Simmel oder auch von Walter Benjamin) wiesen wiederholt darauf hin, dass sich das moderne Subjekt im Kontakt mit städtischen Räumen, bzw. beim Erleben und Verarbeiten ihrer sehr heterogenen Reize historisch gleichfalls wandelt. Auch lässt Müller unerwähnt, dass das Mensch-Stadt-Verhältnis nicht unwesentlich durch Nicht-Wissen – unerwartete Ereignisse, Zufälle und eine stadttypische Unbestimmtheit – geprägt ist, wie sie etwa die Großstadtromane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts festgehalten haben. Selbst die bzw. der flüchtigste Besucher*in der Stadt ahnt, dass sich hier stets eine ganze Reihe ihr/ihm unbekannt bleibender Vorgänge abspielen, die dennoch Teil jener Vorstellung des ‚Ganzen‘ der Stadt sind – ihrer „imagined environment“ (Donald, zit. n. Müller, 32). Beklagt der Autor demnach zu Recht an klassischen Stadttheorien ihre Reduktion des Städtischen auf ein bloßes pars pro toto für Gesellschaft, so bleibt am Ende dennoch offen, ob seine ‚sinnhafte Konstruktion‘ des „sozialen Systems Stadt“ [sic!] (223) nicht ihrerseits zu reduktionistisch und starr gedacht ist.

Letzteres könnte übrigens auch mit einem sehr kognitivistischem Wissensbegriff zusammenhängen, auf den Müller sein „begriffliches Kategoriensystem“ (252) aufbaut. Vermutlich hat er ihn aus der schon etwas in die Jahre gekommenen „Theorie der persönlichen Konstrukte“ George A. Kellys (1955) übernommen. Letzter ging u.a. davon aus, dass unser Denken stets „bipolar“ bzw. inhärent „dichotom“ (56) aufgebaut ist und seine Prinzipien sich leicht zu einem „System“ (55, 60) arrangieren. Für George A. Kelly sind die Grundsätze unseres Denkens entsprechend eher eine Angelegenheit von „‚black and white‘“, denn „a matter of shadings of ‚grays‘“ (61) – eine Vorstellung, die andere, vor allem poststrukturalistische Theorien später als viel zu rigide zurückwiesen (vgl. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz,1. Aufl. 1967; mehr mit Bezug auf Städte: Edward W. Soja, Thirdspace, 1996). Nicht anders verhält es sich mit der offenbar ebenfalls von Kelly übernommenen Annahme, dass man das Denken von Alltagsmenschen und Wissenschaftlern gleichsetzen kann (53). Dieser Behauptung steht bereits Alfred Schütz skeptisch gegenüber, wenn er von der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch Sozialwissenschaftler deutlich jene der „in ihr lebenden, handelnden und denkenden menschlichen Wesen“ (37) unterscheidet.

Die Identität dieser Wissensformen ist auch deshalb unplausibel, weil das Alltagswissen immer unmittelbarer als unser wissenschaftlich-theoretisches Wissen in Praxis ‚verstrickt‘ und schon deshalb weniger mit dem Anspruch auf Vollständigkeit ‚belastet‘ ist. Dass es sowohl tiefer (im Detail), als auch oberflächlicher (z.B. im Erkennen seiner eigenen Voraussetzungen) sein kann, hängt vor allem mit seiner anderen lebensweltlichen Funktion zusammen: praktische Orientierung. Weit weniger als ein hypothesenbildender und -falsifizierender Wissenschaftler hegt der Alltagsverstand entsprechend das Bedürfnis nach Korrektur bzw. Erweiterung und Verfeinerung seiner Wissens. Dieses Missverständnis, dem hier Müller, aber auch Kelly (53ff) aufsitzen, hatte Pierre Bourdieu in seinen „Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft“ (1996) als typischen „scholastischen Irrtum“ kritisiert. Die Folge für den Alltagsverstand ist freilich, dass er gerade durch dieses Primat der Orientierung häufig auch leichter zu steuern und zu manipulieren ist: z.B. durch Imagekampagnen neoliberaler Stadtpolitiken (s.u.).

Aus genannten Gründen macht es sich Müller auch zu einfach, wenn er die auf Gesellschaftstheorie basierenden Erkenntnisse der „klassischen Stadtsoziologie“ einfach seinen „Konstruktionsprinzipien des Alltagswissens“ gegenüberstellt (z.B. 226), um anschließend gegen jene den Vorwurf zu erheben, sie habe im Versuch „die Stadt begrifflich zu fassen, nicht den Fokus“ seiner Interviewpartner*innen getroffen (170). Während ihm hier einerseits ein anachronistischer Fehlschluss unterläuft, wenn er achtzig und mehr Jahre alten stadtsoziologische Erkenntnis mit der eigenen städtischen Gegenwart kritisiert, fällt er zusätzlich hinter jene klassischen Positionen zurück: Denn Müller lässt einfach „die Gesellschaftsbeziehungen außer acht […], aus denen der jeweilige Stadttypus“ (Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, 1972) und somit auch das untersuchte (städtische) Alltagswissen hervorgehen. Außerdem muss auch seine Behauptung, die ermittelten „relevantesten Konstruktionsprinzipien“ hätten „keinen Einzug in die Stadtsoziologie gefunden“ (170, 236) zumindest mit Blick auf „Kultur“ relativiert werden. Wahr ist, dass Fragen nach Wirkungseffekten städtischer Kultur seit den Anfängen der Stadtsoziologie (in Simmels und auch Benjamins verschiedenen Essais über Städte, ins Webers Fragment zur Stadt oder auch in den Arbeiten der Chicago School zum ‚Mosaik städtischer Welten‘) ein, wenn auch nicht immer zentrales, so doch wiederkehrendes Thema sind. Und selbst der Kulturbegriff, von dem Müller hier ausgeht (verstanden als ‚Standortfaktor‘) ist nicht neu: Schon Hartmut Häußermann und Walter Siebel konstatieren in ihrem Band „Neue Urbanität“ (Suhrkamp, 1. Auflg. 1987) den kommunalpolitischen Trend zur „Festivalisierung“ und Imagepflege der ‚City‘ als „Schaufenster der Stadt“ (ebd.: 137) und weisen ferner auf Probleme einer „Stadtkronenpolitik“ (ebd.: 199ff) hin, die sich zwar auf die Pflege von ‚Stadtbildern‘ versteht, aber nicht auf die Entwicklung tragfähiger kommunaler Gesamtkonzepte.

Kritisch muss jedoch vor allem das bemerkenswerte methodische Spagat kommentiert werden, das Müller zwischen einer (so die Selbstaussage) nicht-repräsentativen Studie (109, 113) und der Ermittlung „relevantester Konstruktionsprinzipien“ vollbringt. „Allen methodischen Bedenken der quantitativen Sozialforschung zum Trotz“ (169), glaubt er, allgemeine Prinzipien der sinnhaften Konstitution von Stadt (113) unabhängig von der Zusammensetzung seiner teils sehr selektiven Stichproben ermitteln zu können. Schon ein flüchtiger Blick auf Auswahl und Erhebung seiner Daten lässt jedoch Zweifel aufkommen und es stellt sich anlässlich seiner unterschiedlichen Erhebungsphasen (vgl. 110ff) fast automatisch die Frage: „Decken sich die Stadtkonstruktionen dieser Gruppen“ überhaupt? (31; Zitat Martina Löw). So führt Müller beispielsweise in der dritten Erhebungsphase seine Interviews mit einer großen Zahl von „Vertretern von Politik, Wirtschaft, Kultur und Stadtplanung“ (aus der Bremer Staatskanzlei) und in der vierten Erhebungsphase mit nur einigen wenigen „sozial Benachteiligten“ (Hartz IV-Empfängern) aus dem Bremer Stadtteil Tenever. Nicht nur deren zahlenmäßiger Unterschied (3. Phase: 197 Auskunftspersonen, 4. Phase: 53) ist auffällig und lässt fragen, ob die erhobenen „Konstruktionsprinzipien“ tatsächlich allen Bewohner*innen eigen sind, oder ob hier eine Vorentscheidung über die Interpretations- und Deutungshoheit im städtischen Raum vorgelegt wird. Dieser Verdacht sieht sich verstärkt, wenn Müller, wie erwähnt, bei seiner Kategorienbildung einfach 19 Prozent der erhobenen Konstruktionsprinzipien unberücksichtigt lässt (149). Rein rechnerisch könnte dieser ‚Rest‘ rund 66 Auskunftspersonen (also mehr als in Erhebungsphase 4) entsprechen. Da einige Formen „gesellschaftlicher Konstruktion der Stadt“ für Müller offenbar„keine sinnvollen Kategorien“ ausmachen, fallen sie einfach unter den Tisch. [1]

Heikel sind die erwähnten Mängel vor allem, weil Müller sich im sechsten Kapitel – entgegen der eigenen Warnung, „Ergebnisse aus dem empirischen Teil der Arbeit“ nicht zu verallgemeinern (109) – dennoch entschließt, seine „relevantesten Prinzipien“ (236) einer zukünftigen Stadtplanung als „entscheidende Sinnkonstitutionen“ zu empfehlen (244). Nicht nur der Inhalt dieses Prinzipien (vgl. 169), auch die anschließende Bemerkungen (vor allem 242ff), zum „Wettbewerb der Städte“, der Notwendigkeit städtischer Imagepflege sowie zum Primat der Haushaltskonsolidierung, tragen deutlich die Handschrift einer wettbewerbs- und profitorientierten kommunalen Entwicklungsstrategie, wie sie unter dem Namen „unternehmerische Stadt“ bekannt ist. Darin werden in aller Regel einseitig Interessen Besserverdienender und (lokaler) Eliten bevorzugt, während andere, oftmals dringlichere Bedürfnisse der Stadtbevölkerung tendenziell weniger in der Kommunalpolitik berücksichtigt werden. Dass Müllers empirische Erhebung zum Teil selbst (vgl. Tabellen 107, 169) die Inhalte einer solchen profitorientierten Standortpolitik reproduziert, könnte als Indiz für die leichtere Manipulierbarkeit des Alltagsverstandes gelten.

Abschließend kann selbst aus Sicht der Theorie städtischer Eigenlogiken kritisch gefragt werden, ob mit einer Empirie, die sich auf den Raum Bremen (232) begrenzt, überhaupt verlässliche Aussagen über andere Städte (Bremerhaven, Hamburg, München, Köln etc.) gewonnen werden können. Die zum Teil auffällige Schwarz-Weiß-Malerei in den „Sinnzuschreibungen“ anderer Städte könnte genauso Hinweis auf ein im Grunde oberflächlicheres und deshalb stereotypisierendes Wissen über andere Orte sein. Eine Gegenprobe der Ergebnisse wäre also abzuwarten.

Fazit

Mit einer innovativen Fragestellung und Methode nähert sich das Buch der „städtischen Wirklichkeit“, deren sinnhafter Aufbau anhand von „Konstruktionsprinzipien“ und „Sinnzuschreibungen“ des Alltagswissens untersucht wird. Während sich der Autor an etablierten soziologischen Theorien orientiert und gleichzeitig in überzeugender Weise traditionelle Positionen zur Stadt kritisiert, bleiben gleichwohl einige (nicht allein theoretische) Anschlussfragen offen, etwa: Was gehört und warum zum ‚Wissen der Stadt‘? Wie können unterschiedliche, teils gar konträre Sichtweisen der Stadt darin gleichwertig nebeneinander berücksichtigt werden? Worin unterscheidet sich grundsätzlich Alltags- und theoretisches Wissen (der Stadt)?

Während es Müller in überzeugender Weise gelingt, eine „Leerstelle“ für seinen Ansatz zu identifizieren, gibt es dennoch auch gegenüber seinem empirischen Vorgehen und der Generalisierbarkeit seiner Forschungsergebnisse erhebliche Zweifel. Der möglichen Gefahr einer Vereinnahmung der Erkenntnisse durch neoliberale Stadtpolitiken wäre vielleicht zu entgehen, wenn die Einblicke zum sinnhaften Aufbau der Städte am Ende wieder an eine (dann: kritisch angeeignete) gesellschaftstheoretische Stadtsoziologie zurückgebunden würden.


[1] In diesem Kontext darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Studie (ohne „Anspruch auf statistische Signifikanz“; 169) nur 112 weibliche (gegenüber 240 männlichen) Personen (vgl. 112f) befragt, sowie 28 mit Migrationshintergrund (der Migrant*innenanteil in Bremen lag damals bei etwas unter 30 %). Auch besitzt nur eine Minderheit von 67 Interviewten (19 %) einen Haupt- bzw. Realschulabschluss, während 285 ein Studium absolvieren oder absolviert haben.

Rezension von
Alexander Krahmer
M.A., Stadtsoziologe am Department für Stadt- und Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
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ISSN 2190-9245