Phillip M. Ayoub: Das Coming-out der Staaten
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 21.12.2017
Phillip M. Ayoub: Das Coming-out der Staaten. Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit.
transcript
(Bielefeld) 2017.
313 Seiten.
ISBN 978-3-8376-3797-7.
D: 39,99 EUR,
A: 41,20 EUR,
CH: 48,70 sFr.
Queer studies, Band 15.
Thema
Das vorliegende Buch untersucht die Durchsetzung von rechtlichen Normen zur Verbesserung der gesetzlichen und gesellschaftlichen Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern (LSBT bzw. engl. LGBT) in der Europäischen Union. Dabei geht der Autor Phillip M. Ayoub insbesondere der Bedeutung von Sichtbarkeit nach. Er stellt sich die Frage, wie Sichtbarkeit von LSBT in den jeweiligen Ländern dazu beiträgt, dass die in der EU beschlossenen Rechtsnormen auch in solchen Ländern Verbreitung finden, in denen bisher wenig Sichtbarkeit (und eine geringe Anerkennung) von LSBT vorherrschte. Die Betrachtung der Europäischen Union ermögliche eine gute Untersuchung, da die alten und die neuen Mitgliedsstaaten miteinander verglichen werden könnten.
Entstehungshintergrund und Autor
Das Buch „Das Coming-out der Staaten: Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit“ ist die deutsche Übersetzung des 2016 auf Englisch erschienenen Bandes „When States Come Out: Europe´s Sexual Minorities and the Politics of Visibility“ (New York: Cambridge University Press). Die Übersetzung erfolgte durch Katrin Schmidt.
Phillip Mansour Ayoub, geb. 1983, studierte Internationale Beziehungen (BA) und Politikwissenschaft (MA) an der University of North Carolina und der University of Washington, wobei er Auslandssemester in Europa verbrachte: 2002 in Rom, 2003 in Heidelberg, 2005 in Berlin. Ayoub ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaften an der Drexel University in Philadelphia. Die dem Buch zugrundeliegende Dissertation erhielt zahlreiche Preise, u.a. den „American Political Science Association´s Human Rights Section Award“, den „American Political Science Association´s Sexuality and Politics Section Award“ und den „European Union Studies Association´s biennial 2013-2014 Award“ für die beste Dissertation.
Aufbau
Das Buch ist wie eine klassische wissenschaftliche Monografie gegliedert. Nach einer Einführung wird zunächst der Untersuchungsgegenstand erläutert, daran schließen sich die Analysen unter verschiedenen Gesichtspunkten an. Die Darstellung der Untersuchungsmethodik findet in den Hauptkapiteln nur punktuell statt und erfolgt ausführlich im Anhang.
- Einführung
- Politik der Sichtbarkeit und LGBT-Rechte in Europa
- Transnationale Bewegungen: Gelegenheiten, Akteure und Mechanismen
- Einhaltung der neuen Normen: Die Gesetzgebung zum Schutz von LGBT-Rechten
- Internalisierung neuer Normen: Einstellung gegenüber sexuellen Minderheiten
- Polens und Sloweniens Antwort auf internationale Normen
- Sichtbarkeit in Bewegung und transnationale Politik
Es folgen ein methodologischer Anhang, die Bibliografie sowie ein Sach- und Personenregister.
Inhalt
Phillip M. Ayoub untersucht im vorliegenden Buch, wie der Minderheitenschutz in Bezug auf LSBT, der in der Europäischen Union beschlossen wurde, in den einzelnen Mitgliedsstaaten durchgesetzt wird. Dabei unterscheidet er zwischen den 15 „alten“ Mitgliedsstaaten und den zwölf seit 1990 „neu“ hinzugekommenen, die gemeinsam die heutige Europäische Union der 27 Staaten ausmachen. Ihn interessiert, wie die LSBT-Rechte, deren Vorhandensein er als „Ist-Zustand“ für die rechtliche Norm der Europäischen Union voraussetzt, von Ländern mit hoher Anerkennung für LSBT zu solchen mit geringer Anerkennung für LSBT „diffundieren“. Ayoub spricht von „Normendiffusion“ anlog zur Verwendung des Begriffs „Diffusion“ in der Chemie, um zu beschreiben, wie sich die LSBT-Rechte von einem Ort eines hohen Grads der Umsetzung zu einem Ort mit niedriger Umsetzung ausbreiten. Auch in einem Land niedriger Umsetzung würden sie – im Rahmen der Europäischen Union – ansteigen. Als wesentliche Katalysatoren des Prozesses macht Ayoub (1) die gesellschaftliche „Sichtbarkeit“ von LSBT und (2) den transnationalen Austausch aus. Die Sichtbarkeit über rechtliche Normen („Normsichtbarkeit“) „verschiebt die Randgruppen – in diesem Fall LSBTs – in das Zentrum der politischen Debatte und der öffentlichen Aufmerksamkeit und macht es ihnen so möglich, ihre Rechte, die ihnen zustehen, einzufordern. Das Coming-out ist daher ein sozialer und politischer Akt, der Staaten, Öffentlichkeit und Randgruppen zusammenbringt, um das Unsichtbare sichtbar zu machen und von den Bewegungen für Menschenrechte und Würde zu profitieren, die die Europa- und Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg geprägt haben.“ (S. 42) Ayoub verwendet also den im Sinne eines geschlechtlichen und sexuellen Selbstbekenntnisprozesses gebräuchlichen Begriff „Coming-out“ im übertragenen Sinn, um die Durchsetzung von LSBT-Minderheitenrechten in Staaten zu benennen.
Dabei ist sich Ayoub bewusst, dass es sich bei Sichtbarkeit um ein „Privileg“ (ebd.) handele, das nicht alle Gruppen und Individuen (in Staaten) haben. Auch hält er fest: „Viele hervorragende Studien über internationale Beziehungen und Queer-Theorie stellen den normativen Inhalt der von den etablierten LGBT-Rechtsaktivisten gestellten Rechtsansprüche zu recht infrage […] und kritisieren die Machtdynamiken und den westlichen Essentialismus, der manchen Formen des transnationalen Aktivismus innewohnt“ (S. 38). Im eigenen Text berücksichtige er solche kritischen Sichtbarkeitsanalysen und Betrachtungen zu transnationalem LSBT-Aktivismus „wohlwollend“, allerdings könne der Band keine ausführliche Auseinandersetzung hierzu leisten (S. 39). Im Sinne einer solchen kritischen Reflexion geht er auf die Ablehnung des „Zivilcourage-Preises“ durch Judith Butler beim Berliner CSD des Jahres 2010 ein, die die „Unsichtbarkeit von LGBT-Immigranten und Menschen anderer Hautfarbe“ angeprangert habe und damit „Gruppen ins Zentrum [rückte], die in Diskursen über LGBT-Anerkennung oft außer Acht gelassen werden“ (S. 22). Etwas verklausuliert weist Ayoub damit darauf hin, dass Butler seinerzeit in Berlin insbesondere Rassismus in „der Szene“ und Polizeigewalt gegen Queers of Color kritisiert hatte (vgl. Butler 2010) und dass entsprechend auch deutlichere und kritische Perspektiven auf das Sichtbarkeitsparadigma nötig sind (vgl. Brighenti 2007; Brighenti 2010 und – deutschsprachig – Çetin & Voß 2016).
Ayoub geht in seinen Darstellungen zweigeteilt vor. In einem ersten Schritt erläutert er die Bedeutung der EU-europäischen Rechtsnorm für die Etablierung von LSBT-Rechten in den (neuen) EU-Mitgliedsländern. In einem zweiten Schritt betrachtet er die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz von LSBT in den jeweiligen Ländern. Hinsichtlich des ersten Punktes, der Durchsetzung juristischer Regelungen, ist das Urteil deutlich: Hier haben die Regelungen weitreichende Bedeutung. Diese zeige sich während des Anerkennungsprozesses als EU-Mitgliedsstaat sowie im weiteren Verlauf etwa über entsprechende Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes. In Bezug auf die Umsetzung weiterreichender Rechte, wie der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, untersucht – und erläutert – Ayoub, wie verschiedene Parameter von Bedeutung sind. Diesbezüglich stellt er die folgenden Hypothesen auf, die er in seiner Arbeit prüft:
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn inländische LGBT-Organisationen in die von Europa gestellten transnationalen Aktivistennetzwerke eingebettet sind.“ (S. 121)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn die politische Durchlässigkeit eines Staates höher ist.“ (S. 122; hier ohne Hervorhebung)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit eines Staates höher ist.“ (S. 122; hier ohne Hervorhebung)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn die wirtschaftliche Durchlässigkeit eines Staates höher ist.“ (S. 123; hier ohne Hervorhebung)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn ein Staat dem EU-Beitritt einwilligt.“ (S. 123)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn im Inland LGBT-Sozialräume existieren.“ (S. 124)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn ein Staat nicht vorwiegend katholisch oder orthodox ist.“ (S. 124)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn das Demokratieniveau eines Staates höher ist.“ (S. 125)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird wahrscheinlicher, wenn ein Staat wohlhabender ist.“ (S. 125)
- „Die Einführung der LGBT-Gesetzgebung wird weniger wahrscheinlich, wenn konservative und nationalistische Gruppen mobilisieren.“ (S. 125)
Die Hypothesen werden von dem Autor entlang statistischer Variablen geprüft, die insbesondere auf eine Umfrage bei LSBT-Organisationen zurückgehen. Darüber hinaus hat er Interviews mit LSBT-Aktivist_innen und weiteren Personen geführt.
Als Ergebnis bei der Prüfung der Hypothesen zeigt sich: „Rechtsgesetzgebung diffundiert in Staaten, wenn diese Kosten durch Druck von außen fürchten, wenn sie von der Angemessenheit der Norm überzeugt sind, wenn die vorher im Inland existierenden Normen den internationalen Normen entsprechen und wenn die Advocacy-Gruppen in transnationale Netzwerke eingebunden sind.“ (S. 149) Hingegen bestätigte sich die Hypothese zu Religion und Orthodoxie nicht, da „[e]ntgegen den Erwartungen […] eine Übernahme der LGBT-Gesetzgebung durch Europas neue Übernehmerstaaten mit überwiegend katholischer oder orthodoxer Bevölkerung nicht weniger wahrscheinlich als bei protestantischen Staaten [ist].“ (S. 150) Transnationale Kontakte – politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche – erwiesen sich als signifikant bedeutsam; hingegen erwiesen sich Wohlstands- und Demokratieniveaus lediglich im Hinblick auf die 15 „alten“ EU-Mitgliedsstaaten als relevant.
In Bezug auf den zweiten Punkt, die gesellschaftliche Akzeptanz von LSBT-Personen, ergibt sich hingegen kein einhelliges Bild. Stattdessen zeigten sich in der Untersuchung deutliche Unterschiede in Bezug auf die Änderung der Wertmaßstäbe (die Anerkennung von LSBT). Als wichtige hinderliche Einflussfaktoren macht Ayoub aus, wenn in den Ländern von der Bevölkerung die zunehmenden LSBT-Rechte als Bedrohung wahrgenommen und orthodoxe religiöse Vorstellungen mit nationalistischen Vorstellungen verzahnt werden. Letzterer Punkt zeige sich etwa im Vergleich von Polen und Slowenien – in Polen, wo orthodox-religiöse und nationalistische Vorstellungen massiv verzahnt seien, sei die Einstellung der Bevölkerung gegenüber LSBT deutlich schlechter als in Slowenien, wo die bürgerrechtliche, demokratische Entwicklung losgelöst von religiösen Vorstellungen stattgefunden habe und nationale Einstellungen in größerem Maße von katholischen entfernt seien. Knapp gefasst sagt Ayoub in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz von LSBT aus: „Die Ergebnisse weisen nicht auf einen kontinuierlichen und linearen Internalisierungsprozess hin.“ (S. 182)
Als Abschluss des Bandes weist der Autor auf Problematiken des Sichtbarkeits-Paradigmas hin: So seien Trans*-Personen individuell gesellschaftlich sehr sichtbar, ohne dass daraus eine kollektive Sichtbarkeit zur Durchsetzung der eigenen Rechte entstünde. „Die polnische Parlamentarierin Anna Grodzka beschreibt die relative Unsichtbarkeit der Trans-Gruppe innerhalb der Gesellschaft und der LGBT-Bewegung wie folgt: ‚Sichtbarkeit stellt ein seltsames Paradox dar, das wir Transgender täglich erleben. Wir sind (körperlich) sehr sichtbar und zugleich (politisch) fast unsichtbar.‘“ (S. 231) In Bezug auf Rassismus in den europäischen Gesellschaften hält Ayoub fest: „Unsichtbarkeit ist nicht für LGBTs als solche charakteristisch, sondern für [P. o. C.] und eingewanderte LGBTs, die noch immer diskriminiert werden und unverhältnismäßig wenig Macht besitzen. Die in verschiedenen europäischen Ländern verbreitete Auffassung, dass muslimische Immigranten homophober seien als die weiße Mehrheit, hat LGBT-Immigranten weitgehend unsichtbar werden lassen […]. Denn: Wenn Immigranten homophob sind, ist dort kein Platz für LGBT-Immigranten. […] Der Trailer zum Hollywood-Film ‚Stonewall‘ von 2015, in dem ein weißer Protagonist zur Unruhe anstiftet, ist ein fantastisches Beispiel für die Weißwaschung von LGBTs: Die meisten historischen Darstellungen zeigen nämlich [P. o. C.] Trans-Aktivisten als diejenigen, die zur Unruhe anstifteten.“ (S. 232)
Diskussion und Fazit
Am Anfang der Diskussion soll ein Punkt stehen, der sich auf die Übersetzung bezieht. Im vorangegangenen Zitat habe ich die mittlerweile geläufige politische Selbstbezeichnung „P. o. C. [People of Color]“ eingefügt, um den mit dem deutschen Kolonialismus verwobenen Begriff „farbig“ zu vermeiden, den die Übersetzerin aber tatsächlich gebraucht hat. Entweder die Übersetzer*in oder das Lektorat sollten darauf achten, dass ein Text so übersetzt wird, dass er für die entsprechenden landesspezifischen wissenschaftlichen Diskurse passt. Das gilt gleichermaßen für das englischsprachige „colored“ wie auch für Geschlechtsbezeichnungen. Vermeintliche „Trans-Aktivisten“ waren Trans*-Aktivist*innen – für die Übertragung der englischsprachigen Offenheit in die deutschsprachige schlichte geschlechtliche Binarität ist besondere Sensibilität erforderlich. Auch sollten Begriffe wie „Geschlechtsumwandlung“ (S. 78) im deutschsprachigen Kontext vermieden werden, da eine Trans*-Person nicht ein Geschlecht „umwandelt“, sondern ihr eigenes Geschlecht beansprucht, das von dem bei Geburt durch die Eltern und die Gesellschaft zugewiesenen abweicht.
Dieser Punkt sei nur vorangestellt. Die Betrachtungen des Autors Phillip M. Ayoub sind im Hinblick auf Strategien zur Verbreitung EU-europäischer Rechtsnormen erhellend. Er arbeitet deutlich heraus, welche Kriterien relevant sind, um LSBT-Rechte in (neuen) EU-Mitgliedsstaaten zu befördern. Gleichzeitig erweist sich sein Ergebnis in zentralen Punkten als vorausgesetzt: Er geht von den westeuropäischen Staaten ausgehend davon aus, dass Sichtbarkeit der zentrale Faktor ist, um LSBT-Emanzipation voranzubringen. LSBT-Emanzipation misst er wiederum an der Sichtbarkeit, die sich bis zu dem entsprechenden Zeitpunkt etabliert hat. Dabei stellt er einige konkrete Punkte zurück, die für das Ausleben lesbischer und schwuler Sexualität existenziell sind. So ist es für ihn keiner genaueren Betrachtung wert, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in Polen – außer während der deutschen Besetzung im zweiten Weltkrieg – seit dem Jahr 1932 legal waren. Wenn auch nicht „sichtbar“, hat es dennoch bedeutende Auswirkungen auf lesbischen und schwulen Sex, ob er legal oder illegal erfolgt bzw. erfolgen muss. Wie kam es zur Legalisierung und wie ließe sich heute aus solchen Legalisierungsprozessen lernen?
Auch keinen Raum findet die besondere deutsche Situation. Während in der DDR kaum Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen vorkamen, wurden in der BRD bis 1969 weitreichende Haftstrafen gegen Schwule verhängt – sogar in größerer Zahl als in der Nazi-Zeit. Auch danach wurden in der BRD (und schließlich in den alten Bundesländern) noch bis 1994 Männer wegen einvernehmlichen schwulen Sexes verurteilt. In Russland – einem Land, dass Ayoub ebenfalls, wenn auch randständig, betrachtet, – und seinem Vorgänger, der Sowjetunion, gehörte, nach einem Zwischenspiel leninistischer schwuler Emanzipation, Strafbarkeit von schwulem Sex wieder zum Alltag. Das macht etwas. Was bedeutet es, auch für eine gesellschaftliche Grundüberzeugung, wenn in langer Tradition Homosexualität legal ist (Polen, schließlich auch DDR) oder strafbar (Sowjetunion, Russland)? Könnte es zum Beispiel für ein neues EU-Mitgliedsland wie Polen sinnvoller sein, auf die eigene emanzipatorische Tradition zu verweisen, als von europäischen – und in diesem Fall insbesondere deutschen – Protagonisten etwas „übergeholfen“ zu bekommen? Welche Abwehr produziert etwa, dass gerade Deutschland, das Polen überfiel und das noch bis 1994 einen Strafparagrafen gegen männliche Homosexualität hatte, nun Polen die lesbische und schwule Emanzipation bringen möchte? Und welche Auswirkung hat die frühe Anerkennung Sloweniens durch Deutschland? Kann sie für eine EU-freundlichere Stimmung mitverantwortlich sein, die sich dann auch darin zeigt, die von der Europäischen Union geforderten Regelungen schneller zu akzeptieren? (Und muss man dennoch im Blick haben, welche Instabilisierung des Balkans und Europas die rasche Zerstückelung Jugoslawiens mit sich gebracht hat…)
Und auch die kritischen Positionierungen zu Sichtbarkeit, die im Band, aufgrund der Komplexität des Themas, nicht verhandelt werden können, sind weiterer Betrachtungen wert. Die Sichtbarkeit der einen – privilegierten – Gruppe kann zur Unsichtbarkeit anderer führen oder sogar zu zunehmender Ausgrenzung und Gewalt gegen diese. Wichtiges Beispiel sind hier Queers of Color, die Ayoub nur kurz benennt. Im Zusammenhang der Sichtbarmachung von weißen Schwulen (und Lesben) geraten sie in den Hintergrund und werden in Deutschland (und Europa) stärker stigmatisiert. Politiken der Sichtbarkeit wären entsprechend dazu angehalten, neue Ausschlüsse und neue Gewalt zu vermeiden – das gelänge durch intersektionale Perspektiven. Für solche intersektionalen Perspektiven liefert Ayoub keinen Zugang, sondern vielmehr eine Zustandsbeschreibung, wie in relativer Stabilität innerhalb der Europäischen Union LSBT-Rechte umgesetzt werden konnten. Schon die erstarkenden rechtsextremen Entwicklungen hat Ayoub nicht im Blick, die dazu führen, dass EU-Mitgliedsstaaten ihre Mitgliedschaft überdenken. Welche Auswirkungen kann es haben, wenn LSBT-Rechte in einem solchen Kontext insbesondere im Sinne einer „Fremdbestimmung“ durch die Europäische Union gelesen werden? Ein Blick auf Ressourcen und Widerstände im jeweiligen Land könnte etwa Platz für die polnischen Schwulen schaffen, wie sie Michal Witkowski in „Lubiewo“ darstellt. Sie halten nichts von „den Gays“, die aus ihrer Sicht keine Schwulen mehr sind; vor lauter „Solarium, Techno, Firlefanz“ hätten die Gays kein „Bewusstsein von Schmutz oder Verworfenheit“ mehr (Witkowski, 2007: S. 42).
Für die Akzeptanz von LSBT könnte es relevant sein, die jeweiligen landesspezifischen Kontexte in den Blick zu nehmen und spezifische Vorgehensweisen zur Installierung von LSBT-Rechten zu verfolgen. In diesem Sinne liefert Ayoub eine – lesenswerte, aber schematische – Schablone, die der Differenzierung nach Ländern und der Belebung durch konkrete lesbische und schwule Praktiken sowie Trans*-Erfahrungen bedarf. Auch wäre stärker, als es durch den Autor geschieht, die in einigen Ländern vorhandene Furcht vor „Verwestlichung“ und „Neokolonialisierung“ zu berücksichtigen, um zu akzeptablen Ableitungen zu gelangen, die dauerhaft die Situation von LSBT verbessern und nicht nur ihre Sichtbarkeit erhöhen. Durch ein solches Vorgehen würde einerseits breitere Akzeptanz erreicht, andererseits die konkret vorhandene lesbische, schwule und Trans*-Kultur vor Ort als erhaltenswert wahrgenommen werden können.
Quellen
- Brighenti, Andrea Mubi (2007): Visibility: A Category for the Social Sciences. In Current Sociology, 55(3), 323-342. Los Angeles u.a.: Sage Publications.
- Brighenti, Andrea M. (2010): Visibility in Social Theory and Social Research. Basingstoke/Hampshire/New York: Palgrave Macmillan.
- Butler, Judith (2010): Rede Judith Butlers beim CSD Berlin 2010: https://youtu.be/BV9dd6r361k (Zugriff: 11.12.2017).
- Çetin, Zülfukar & Voß, Heinz-Jürgen (2016): Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: kritische Perspektiven. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 20-30.
- Witkowski, Michal (2007): Lubiewo (übersetzt von Christina Marie Hauptmeier). Frankfurt: Suhrkamp Verlag.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 21.12.2017 zu:
Phillip M. Ayoub: Das Coming-out der Staaten. Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit. transcript
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-8376-3797-7.
Queer studies, Band 15.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23767.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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